04. November 2014
Wörterbuch kinematografischer Objekte
Das kleine Buch ist aus der Arbeit des Junior-Fellow-Programms am Inter-nationalen Kolleg für Kulturtechnik-forschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar hervorgegangen. Es enthält 100 Einträge von 62 Autorinnen und Autoren. Kinematografische Objekte werden hier „als Vermittler aufgefasst, die den Übergang zwischen vorfilmischem Raum, Filmbild und apparativem Feld strukturieren“. Rund zwanzig Objekte haben einen unmittelbaren Bezug zur filmischen Technik oder Ästhetik: Close-Up, Farbe, Filmstreifen, Irisblende, Kamera, Kamerastativ, Leinwand, Licht, Lichtdouble, amerikanische Nacht, Perforation, Pillow Shot, Plansequenz, Projektor, Rückprojektion, Schwenk, Stock Shots, Ton, Überblend-zeichen, Zeitlupe, Zelluloid, Zoom. Andere assoziiert man mit Handlungsorten, Gebäuden und Einrichtungsgegenständen (Empire State Building, Fahrstuhl, Fass, Fassade, Fenster, Fernsehapparat, Flipper, Jalousie, Kühlschrank, Leuchturm, Monument Valley, San Francisco Hills, Spiegel, Swimmingpool, Tonbandgerät, Tür) oder mit den handelnden Personen (Blut, Haar, Hand, Haut, Leiche, Maske, Narbe, Nylonstrumpf, Perücke, Prothese, männliche Träne), mit dem Wetter (Nebel, Regen, Wind), mit der dramaturgischen Verbindung von Orten (Brücke, Treppe) oder der verhinderten Verbindung (Mauer, Stacheldraht). Und manche Motive stehen offenbar für sich allein: Atombombe, Diskokugel, Kaugummi, Motte, Tesla-Transformator, Unding. Zu jedem der hundert Objekte gibt es einen kurzen, prägnanten Text mit konkreten Filmverweisen, und in der Regel stehen am Ende nützliche Literaturhinweise. Die Lektüre ist anregend, auf Abbildungen wurde verzichtet, die Bilder entstehen im eigenen Kopf. Mehr zum Buch: objekte/
02. November 2014
DER SCHWEINESTALL
Im Martin-Gropius-Bau in Berlin ist weiterhin die Pier Paolo Pasolini-Ausstellung zu sehen. Bei der Filmgalerie 451 ist erstmals Pasolinis Film PORCILE/DER SCHWEINE-STALL (1968/69) als DVD erschienen. Er wurde 1969 in Venedig uraufgeführt, die Reaktionen der internationalen Kritik waren ambivalent. Auch heute, 45 Jahre später, ist man (oder bin ich) nach der Besichtigung zwiegespalten. Zu sehen sind zwei ineinander verwobene Geschichten, die erstens den Kannibalismus und zweitens die Sodomie thematisieren. Ein junger Mann im Mittelalter (gespielt von Pierre Clementi), zunächst einsam in der Wüste, ernährt sich von Insekten und Schlangen, tötet einen Menschen, der sich in der Einöde verirrt hat, und verspeist ihn. Andere Menschen stoßen zu ihm, es bildet sich eine Kannibalengruppe, sie wird von Soldaten verfolgt, gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Man wirft sie Hunden und Schakalen zum Fraß vor. Ein anderer junger Mann (gespielt von Jean-Pierre Léaud), ist Sohn eines ehemaligen Hitler-Anhängers, wohnt in einem Schloß in Bad Godesberg in den 1960er Jahren, ist befreundet mit einer Berliner Studentenrebellin (gespielt von Anne Wiazemsky) und bekennt, dass er sich aus Ekel vor den Menschen nur noch mit unschuldigen Tieren, speziell mit Schweinen, vergnügen kann. Am Ende berichtet ein Bote, dass der junge Mann von den Schweinen aufgefressen wurde. In der ersten Geschichte wird fast gar nicht gesprochen, in der zweiten sehr viel. Die Bilder (Kamera: Armando Nannuzzi und Tonino Delli Colli) sind unterschiedlich in Distanz und Nähe, in statischen Einstellungen und beweglicher Handkamera, aber durch die Montage eng miteinander verbunden. Es dominiert die thematische Provokanz, gelegentlich die Satire, es gibt andererseits eindrucksvolle Szenen. Georg Seeßlen hat für das beiliegende Booklet einen Essay verfasst, der den Film vielfältig erschließt und ihm große Bedeutung beimisst. Da kann ich ihm nur partiell folgen. Mehr zur DVD: der-schweinestall/
31. Oktober 2014
Klaus Wyborny: Filmtheorie II
Über den ersten Teil seiner Filmtheorie habe ich mich im März 2013 geäußert: klaus-wyborny/ Jetzt ist im LIT Verlag der zweite Teil erschienen: „Grundzüge einer Topologie des Narrativen“. Vier Kapitel geben die Struktur und den Gedanken-weg vor: I. Der Grund-formalismus. II. Narrative Topologien im Licht der Evolution. III. Ideale Verknotungsverläufe. IV. Erweiterungen des Grund-formalismus. Beispielhaft seien hier die zehn Unterkapitel der „Idealen Verknotungsverläufe“ genannt: „A. Liebe und Zivilisation – Ars Amatoria. B. Die niedere Jagd und der Weg. C. Homerische und Odysseische Transformationen. D: Die schwache Verfolgung. E. Die Gleichgültigkeit der Götter. F. Der Weg und das Heim (Kampf um Troja). G. Der Teppich der Penelope – Gaionen und Äonen. H. Der große Sieg. I. Die große Verbrüderung. J. Antizipierte und Scheinverknotungen.“ Es ist hilfreich, die Einleitung des Herausgebers Thomas Friedrich aufmerksam zu lesen, weil sie den Weg in die Gedankenwelt Wybornys weist und auch die mathematisch wirkenden Formeln im folgenden Text erklärt. Unmittelbare, konkrete Filmbezüge sind eher die Ausnahme, das Personenregister führt nur auf die Spur von John Ford , Jean-Luc Godard, Alfred Hitchcock und Alain Resnais. Aber Ford und Hitchcock bauen für den Leser dann die Brücke zu einem längeren Absatz über „Filmschauspieler als heutige Götter“. Ansonsten bewegen wir uns weitgehend in einer metaphorischen Welt, die teilweise durchaus originell, teilweise aber sehr formelhaft erklärt wird. Mehr zum Buch: isbn/3-643-11054-1
30. Oktober 2014
Transformationen der Gewalt im Film
Sven Kramer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen an der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg. Die Kodierung von Gewalt in Literatur und Film gehört zu seinen Spezialgebieten. Das macht seine kluge Einführung ins Thema noch einmal deutlich. Sieben Aufsätze versammelt der Band, beginnend mit einem „Versuch über den Propagandafilm“, konkretisiert an Leni Riefenstahls Dokumentar-filmen aus den 1930er Jahren. Es folgt ein Essay, der sich mit Jean Améry und seiner Auseinandersetzung mit Tortur und Folter beschäftigt. Dann geht es in zwei Texten um Spielfilme, um David Cronenbergs A HISTORY OF VIOLENCE (2005) und um Atom Egoyans ARARAT (2002). Zwei weitere Texte handeln von Essayfilmen, von der Ökonomie des Authentischen in Chris Markers LEVEL FIVE (1997) und von den Geschichtsbildern in Alexander Kluges VERMISCHTE NACHRICHTEN (1985/86). Diese sechs Beiträge wurden bereits an anderer Stelle publiziert, für den vorliegenden Band aber überarbeitet. Neu ist ein Text über Harun Farockis Film AUFSCHUB (2007), der Filmdokumente aus dem Lager Westerbork verwendet. Kramer beschäftigt sich dabei mit der Frage nach der Authentizität von dokumentarischen Aufnahmen aus der NS-Zeit und ihrer Bildperspektive. Eine besondere Qualität des Buches liegt in der beispielhaften Konzentration auf einzelne Filme und der entsprechenden Konkretisierung der Analysen. Mit Cronenberg, Egoyan, Marker, Kluge und Farocki stehen dabei herausragende Filmemacher im Zentrum der Auseinandersetzung. Sehr gute Abbildungen. Coverfotos: TRIUMPH DES WILLENS und A HISTORY OF VIOLENCE. Mehr zum Buch: products_id=443
29. Oktober 2014
Werner Herzog
Das Werk von Werner Herzog ist reich an visionären Bild-elementen, beginnend mit dem Schwenk über ein Tal voller Wind-mühlen in seinem ersten Spielfilm LEBENS-ZEICHEN. Der Medienwissenschaftler Felix Schackert untersucht in seiner Mainzer Diplomarbeit auf der Basis der Kinophilosophie von Gilles Deleuze, wie wir als Zuschauer Bilder wahrnehmen, ihnen Bedeutungen geben und Zusammenhänge interpretieren. Ein „filmisches Kristallbild“ ist für ihn eine Szene, in der wir nicht mehr zwischen der Realität des Gezeigten und unserer Deutung unterscheiden können. Die Beispiele dafür sind im Werk Herzogs besonders zahlreich, und der Autor, mit diesem Werk bestens vertraut, bewegt sich sehr souverän durch die Bilderwelt des Regisseurs. Sein wissenschaftliches Fundament, die Kinophilosophie von Deleuze, wird auf den ersten 50 Seiten der Publikation gelegt. Für Herzog-Fans ist das Buch natürlich Pflichtlektüre. Wissenschaftliche Laien werden sich eher schwer damit tun. Mehr zum Buch: product=22956
28. Oktober 2014
John Ford
Natürlich müsste man jetzt in Wien sein und die Filme der diesjährigen Retrospektive der Viennale sehen. Sie ist dem großen John Ford gewidmet. 48 Filme von ihm werden gezeigt, einige frühe aus den 1920er Jahren kenne ich nicht, aber auch die späteren, die ich oft gesehen habe, würde ich gern auf einer Leinwand wieder-sehen. Aber Wien ist zurzeit weit von Berlin entfernt, und so muss ich mich mit der Lektüre des Katalogs begnügen. Es ist ein wunderbares John-Ford-Buch, es wird eröffnet mit einem grandiosen Essay von Hartmut Bitomsky, dem vierten Teil seiner „Passage durch die Filme von John Ford“, geschrieben im Sommer 2014, als Konklusion der ersten drei Teile, die 1978-80 in der Zeitschrift Filmkritik erschienen sind. Bitomsky verknüpft amerikanische Geschichte mit seinen Beschreibungen der Ford-Filme, beginnend mit der Episode THE CIVIL WAR in dem Film HOW THE WEST WAS WON, endend mit THE SEARCHERS, und die in der Chronologie springenden Beschreibungen sind in ihrer Genauigkeit, ihrem Gedankenreichtum, ihrer Ford-Nähe schlicht phänomenal. Sie stellen zwischen den Filmen, den Haupt- und Nebenfiguren, den Räumen, den dramaturgischen Konstellationen und den historischen Hintergründen Verbindungen her, die mich immer wieder überrascht haben. Besonders eindrucksvoll: die Passagen über THEY WERE EXPENDABLE und SEVEN WOMEN. Auf Bitomskys Text folgt eine kürzere, schöne Reminiszenz an MY DARLING CLEMENTINE von Susanne Röckel. Und Harry Tomicek nimmt in seinem Essay „The Old Masters: John Ford, John Ford and John Ford“ THE SEARCHERS zum Ausgangspunkt für eine ebenfalls sehr lesenswerte Hommage. Die Filme der Retrospektive werden in der zweiten Hälfte des Buches mit Texten aus vielfältigen Quellen vorgestellt (Redaktion Stefan Flach, Claudia Siefen). Die Fotos, alle in Schwarzweiß im Format 12 x 8,8 cm, sind sehr gut ausgewählt. Ein großes Kompliment an die Viennale für diesen „Katalog“. Mehr zur Retrospektive: retrospektive
27. Oktober 2014
Tag des audiovisuellen Erbes
Seit 2005 gibt es den von der UNESCO ausgerufenen „Tag des audiovisuellen Erbes“, seit 2007 wird er auch in Deutschand begangen. Die landesweite Programm-Koordination liegt hier bei der Deutschen Kinemathek. So kann man heute Abend im Berliner Kino Arsenal relativ unbekannte Kurzspielfilme aus den Jahren 1909 bis 1913 sehen, darunter SCHÖNHEITSKONKURRENZ IN DER KINDERWELT aus Italien, WEM GEHÖRT DAS KIND? mit Henny und Rosa Porten, DER CLOWN UND DER NERVENSCHWACHE PASCHA aus Frankreich mit Charles Prince und Mistinguette und MAXENS VEREHRERINNEN von Max Linder. Durch das Programm führt Mariann Lewinsky, am Klavier werden die Filme von Eunice Martins begleitet. Im Zeughauskino präsentiert die DEFA-Stiftung erstmals den Film SOMMERWEGE von Hans Lucke (1960), der damals von der Abnahmekommission wegen „gravierender künstlerischer Schwächen“ nicht freigegeben wurde und jetzt in einer rekonstruierten Fassung zu sehen ist. Anschließend wird unter der Leitung von Ralf Schenk über den Film diskutiert. Im inzwischen wiedereröffneten Filmmuseum Potsdam wird eine restaurierte Fassung des Films METROPOLIS von Fritz Lang gezeigt, und Chris Wahl informiert darüber, warum der Film als erster Film überhaupt ins Weltdokumentenerbe aufgenommen wurde. In der Zentralbibliothek der Bücherhallen Hamburg spricht Karl Griep, Leiter der Abteilung Filmarchiv im Bundesarchiv, über „Das Film-Erbe der Zukunft – Digitalisierung als Rettung?“. Das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt zeigt den Film HARRY WIRD MILLIONÄR von Emil Albes (1918) mit einer Einführung von Rudolf Worschech. Das Münchner Filmmuseum hat leider montags geschlossen. Und ich fahre heute nach Halle, wo im „Puschkino“ der Konrad Wolf-Film DER GETEILTE HIMMEL gezeigt wird, über den ich anschließend mit der Hauptdarstellerin Renate Blume sprechen darf (Foto 1964). Mehr zum Tag des audiovisuellen Erbes: memento-movie.de/faq/
26. Oktober 2014
Das Oktoberfest im Film
Das diesjährige Oktoberfest ist natürlich längst vorbei, es findet ja vorwiegend im September statt. Aber die Beliebtheit des Festes ist ungebrochen, auch wenn der Bierkonsum von Jahr zu Jahr offenbar schwankt. In der Edition Filmmuseum sind jetzt zwei DVDs mit filmischen Dokumenten vom Oktoberfest und dem Spielfilm BIERKAMPF von Herbert Achternbusch erschienen. Das älteste erhaltene Material stammt aus dem Jahr 1910, als das Oktoberfest seinen 100. Geburtstag beging. Für die DVD wurde der Film WIE MÜNCHEN SEINE FESTE FEIERT (18 min.) soweit wie möglich rekonstruiert. Sehr originell ist natürlich VALENTIN AUF DER FESTWIESE (1921), ebenfalls 18 min. lang, mit Liesl Karstadt als Partnerin. Die weiteren Kurzfilme stammen aus den Jahren 1925, 1929, 1935 (125 JAHRE MÜNCHNER OKTOBERFEST, 10 min.), 1939, 1948, 1949, 1950, 1954 (PLASTISCHER WIESN-BUMMEL, mit Margot Hielscher und Wastl Witt, in 3-D, Brille liegt bei), 1955 (AUF GEHT’S, Regie: Ferdinand Khittl, 11 min.), 1957 (mit Michl Lang), 1959, 1969 (WIES’N-MELODIE, Regie; Bernd Schmid, 14 min.), 1972 und 1974 (DER WIESNPOSTBOTE, Regie: Percy Adlon). Von Percy Adlon stammt auch das 43-Minuten-Porträt eines Rummelplatzarbeiters: DER ECHTE LILIOM aus dem Jahr 1978. Und ein Höhepunkt der DVD ist natürlich Achternbuschs BIERKAMPF (1976); das war sein dritter Film, er spielte wie immer die Hauptrolle, mischte in einer geklauten Polizistenuniform das Fest auf (berühmt ist vor allem sein achtminütiger Gang durch die Massen in einer einzigen Einstellung; Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein) und starb am Ende. Zu sehen sind in Nebenrollen Annamirl und Sepp Bierbichler, Heinz Braun und Margarethe von Trotta. Frieda Grafe 1983 über Achternbusch und BIERKAMPF: „Er macht Filme entsprechend den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Sie haben die Form dieser Mittel, das hebt die alte Grenze zwischen dokumentarisch und fiktiv auf, und deshalb ist ihre Sprache authentisch, einheimisch.“ Mehr zur DVD: Oktoberfest-M-nchen-1910-1980.html
24. Oktober 2014
Wolfgang Kohlhaase: Texte
Wir haben uns 1988 auf einer Konferenz zum deutschen Film in Chicago kennengelernt und sind uns Mitte der 90er Jahre als Mitglieder der Akademie der Künste näher gekommen. Seine lakonische, nachdenkliche und immer wieder spontane Art des Redens gefällt mir. Natürlich wusste ich, welche Bedeutung Wolfgang Kohlhaase (*1931) für den DDR-Film und speziell für Konrad Wolf hatte, denn die Filme ICH WAR NEUNZEHN, DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ, MAMA, ICH LEBE und SOLO SUNNY waren mir vertraut. In unserem Film AUGE IN AUGE hat er über Robert Siodmaks und Edgar Ulmers späten Stummfilm MENSCHEN AM SONNTAG gesprochen. Im Verlag „Neues Leben“ ist jetzt ein Band mit Texten von Wolfgang Kohlhaase erschienen: „Um die Ecke in die Welt. Über Filme und Freunde“, herausgegeben von Günter Agde. 36 Texte handeln „von eigenen und anderen Filmen“, von „Film und Leben, Kunst und Geschichte“, 33 Texte sind Hommagen und Erinnerungen an Kollegen und Freunde. Ganz egal, ob es sich um Interviews, Werkstattgespräche, Diskussionsbeiträge auf Kongressen, um Dankesreden, Briefe oder heutige Erinnerungen an frühere Ereignisse handelt: immer ist eine Haltung spürbar, ein Verantwortungsbewusstsein, eine Subjektivität, die glaubwürdig ist und nie im Formelhaften verharrt. Seine Drehbücher sind ja an relevanten Inhalten wie an neuen Formen orientiert, die jetzt publizierten Texte, wenn man sie hintereinander liest, machen noch einmal deutlich, wie konkret und weltoffen, wie komplex und pointiert Wolfgang denkt und schreibt. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch viele Leserinnen und Leser findet, die mit den Texten auch neugierig auf die Filme werden, zu denen er die Drehbücher verfasst hat. Es sind mehr als dreißig, beginnend mit DIE STÖRENFRIEDE (1953) von Wolfgang Schleif und hoffentlich nicht endend mit ALS WIR TRÄUMTEN (2015) von Andreas Dresen, auf den ich sehr gespannt bin. Mehr zum Buch: 1771-um-die-ecke-in-die-welt.html
23. Oktober 2014
Haneke – eine Wiener Dissertation
Michael Haneke (*1942) ist ein herausragender Regisseur, für seinen Film AMOUR hat er 2012/13 die „Goldene Palme“ in Cannes, den Europäischen Filmpreis, den Bayerischen Filmpreis und den César, den Oscar und den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film gewonnen. Er ist sehr selbstbewusst, auf wissenschaftliche Analysen seines Werkes lässt er sich eher ungern ein, er findet sie in der Regel „masturba-torisch“. Katharina Müller, Medienwissenschaftlerin in Wien, hat eine ungewöhnliche Dissertation über Haneke geschrieben. Ihre zwei Teile (1. Masturbation, 2. Komposition) unterscheidet sie in der Einleitung in „einen säuberlich gewichsten Wissenschaftlichkeits-teil und einen divergent geilen zweiten Teil, der eine Versammlung von Stimmen und Material von und zu ‚Haneke’ ist, inszeniert als eine Chronik des Zufalls, von der anzunehmen ist, dass sie viel beschreibt und nichts erklärt.“ „Keine Biografie“ ist der Untertitel der Publikation. Und der Text ist natürlich auch keine klassische Werkanalyse, sondern eine sehr individuelle Mischung von subjektiven Gedanken zu Hanekes Filmen und zitierten Dokumenten der Haneke-Rezeption. Die Autorin ist bestens vertraut mit dem Werk, sie spielt damit in ihrer Struktur, wenn sie nach der „Masturbation“ (90 Seiten), die von nationalem Kino und internationalem Erfolg, vom Autorenfilm und globalem Filmmarkt handelt, im Teil „Komposition“ (270 Seiten) auf alle Haneke-Filme eingeht, beginnend mit DAS WEISSE BAND, dann weitgehend chronologisch im Rückwärtsgang ihre Gedanken mit der zeitgenössischen Rezeption verknüpft und am Ende mit AMOUR den Kreis schließt. Es gibt viele kluge Assoziationen zum österreichischen Kino, zum Verhältnis zwischen Film und Fernsehen, zu Hanekes Umgang mit Schauspielerinnen und Schauspielern. Vielleicht sollte man gleich zu Beginn den am Ende abgedruckten „Auszug aus einem Gespräch mit Michael Haneke“ lesen, weil er die Haltung der Autorin zu ihrem Protagonisten erkennbar macht. Aber man kann das Buch auch zurate ziehen, wenn man gerade irgendeinen Haneke-Film gesehen hat (und das lohnt sich ja immer), zu dem man mehr wissen möchte. So gesehen ist das Buch so etwas wie verbales Bonus-Material. Die Bibliografie ist umfangreich, auf Abbildungen wurde verzichtet. Mehr zum Buch: 978-3-8376-2838-8/haneke

