1917 (2019)

In zehn Kategorien war der Kriegsfilm von Sam Mendes in diesem Jahr für den Oscar nominiert, drei hat er am Ende gewonnen: für die beste Kamera, den besten Ton und die besten visuellen Effekte. Auch für den Schnitt hätte er einen verdient. Erzählt werden die Erlebnisse der britischen Soldaten William Schofield und Tom Blake an der Westfront in Frankreich an zwei Tagen im Frühjahr 1917. Sie sollen die dringende Nachricht an den Colonel Mackenzie überbringen, dass er nicht von einem ungeordneten Rückzug der deutschen Truppen ausgehen soll, sondern mit einem bestens aufgestellten Hinterhalt rechnen muss. Der Weg zum Bataillon ist mit Gefahren verbunden. Schofield wird nach einer Explosion verschüttet, kann aber von Blake gerettet werden. Auf einem Bauernhof stürzt ein deutsches Flugzeug ab, der Pilot überlebt und tötet Blake mit einem Messer. Schofield erschießt den Piloten und setzt den Weg allein fort. Zweimal gerät er in äußerste Not und erreicht das Bataillon im letzten Moment, um Schlimmes zu verhindern. Der Film wurde gedreht und geschnitten, als ob sich die Handlung in Echtzeit abspielt. Die beiden Hauptdarsteller George MacKay (Schofield) und Dean-Charles Chapman (Blake) sind relativ unbekannt, Colonel Mackenzie wird von Benedict Cumberbatch gespielt. 120 spannende Minuten. Bei Universal ist jetzt eine DVD des Films erschienen. Mehr zur DVD: universalpictures.de/m/1917

Vom imaginären Leben in der Spätmoderne

Woher kommt die Sucht vor allem junger Menschen, Selfies zu machen und auf der Foto-plattform Instagram ins Netz zu stellen? Das 100-Seiten-Buch von Elaine Goldberg gibt viele Antworten auf diese Frage bis hin zu der medienphilosophi-schen These, dass Realität und Bild ihre Rollen vertauscht haben. Als „real“ gilt nur noch das Bild, weil es ein Beweis-mittel ist. Die Autorin führt angesehene Theoretiker ins Feld – Andreas Reckwitz, Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Bernhard Waldenfels – um ihre Gedanken zum imaginären Leben in der Spätmoderne zu fundieren. Vor allem das Kapitel über „Das technische Bild und seine gesellschaftlichen Zuschreibungen“ ist aufschlussreich. Auch über die Definitionsmöglichkeiten von Wahrnehmung und Realität gibt es interessante Thesen. Das Schlusskapitel heißt „Eine melancholische Generation der telematischen Gesellschaft“. Der Text entstand als Masterarbeit an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Mit einem Vorwort von Dr. Johanna Zorn. Mehr zum Buch: vom-imaginaeren-leben-in-der-spaetmoderne

Lieblingskinos

Im August-Heft von epd Film wird eine schöne Idee realisiert. Elf Autorinnen und Autoren schreiben über ihre Lieblings-kinos. Das sind die „Caligari-Filmbühne“ in Wiesbaden (Rudolf Worschech), das „Werkstattkino“ in München (Alexandra Seitz), die „Licht-burg“ in Essen (Sascha West-phal), das „Apollo“ in Hannover (Dietmar Kanthak), das „Pro-vinzkino“ in Enkenbach-Alsenborn (Birgit Roschy), das „Klick“ in Berlin-Charlottenburg (Gerhard Midding), das „Arsenal“ in Tübingen (Barbara Schweizerhof), das „Broadway“ in Trier (Jakob Lobes), die „Harmonie“ in Frankfurt (Manfred Riepe), das „Abaton“ in Hamburg (Britta Schmeis) und das „Filmtheater am Sendlinger Tor“ in München (Katrin Hoffmann). In den kurzen Texten werden Erinnerungen wachgerufen und Erlebnisse erzählt. Eine fragmentarische Kinogeschichte. Titelfoto: der Eingang zum „Abaton“. Mir wäre die persönliche Wahl schwer gefallen, aber ich hätte mich wohl für das Delphi in Berlin-Charlottenburg entschieden. Zwei umfangreiche Texte des neuen Heftes sind Zeitreisen und Zeitschleifen im Film (Georg Seeßlen) und den neuen Techniken in der Filmproduktion (Alexander Matzkeit) gewidmet. Wilhelm Roth rezensiert mein Filmbuch des Monats Juli: die Marlon Brando-Biografie von Jörg Fauser. Endlich gibt es wieder viele aktuelle Filmkritiken zu lesen. Mehr zur Zeitschrift: www.epd-film.de

Lexikon der Filmschurken

Ein originelles Buch: „Killer, Monster und Gegenspieler aus hundert Jahren Film- und Fern-sehgeschichte“ von Albrecht Behmel und Elisabeth Brauch. 729 Figuren aus 700 Filmen werden hier porträtiert, be-ginnend mit der Königin CLEO-PATRA (1912), endend mit dem Drachen Smaug in THE HOB-BIT (2012). Es gibt jeweils eine kurze Inhaltsangabe, Verweise auf Verwandtschaften und 19 Konkretisierungen: Archetyp, Dargestellt von, Genre, Gegen-part, Aussehen, Verhalten, Know-how, Waffen, Gewaltbereitschaft, Motivation, Konfrontation, Verbündete, Täuschung, Stärke, Schwäche, Schuld, Fehler, Ende, Markenzeichen. Die Filmauswahl ist stark auf Hollywood-Produktionen fokussiert. Immerhin sind 20 „Antagonisten“ aus deutschen Filmen dabei, darunter Dr. Caligari, der Golem, Hagen von Tronje, Mephisto, Hans Beckert, Lola-Lola, Herr Grundeis, Dr. Mabuse, der Räuber Hotzenplotz und Dr. Dennis Orloff in DER DIRNENMÖRDER VON LONDON (1976), dargestellt von Klaus Kinski. Archetyp: Wilder Menschenfresser, gnadenloser Verfolger. Markenzeichen: Irrer Blick. Namentlich genannt werden nur die Darstellerinnen und Darsteller der Schurkinnen und Schurken, nicht der Gegenparts. Auch Drehbuch und Regie werden verheimlicht. Es gibt einen Personen-, Figuren- und Sachindex und eine alphabetische Filmliste. Leider keine Abbildungen. Mit 850 Seiten ein gewichtiges Buch. Mehr zum Buch: lexikon-der-filmschurken.html

Die un-sichtbare Stadt

14 sehr reflektierte Texte über „Urbane Perspektiven, alterna-tive Räume und Randfiguren in Literatur und Film“ versammelt dieser Band, den Katja Har-brecht, Karen Struve, Elena Tüting und Gisela Nebel her-ausgegeben haben. Es geht um Lebensräume der Marginali-sierten in illegalen Zeitcamps, besetzten Häusern, verlassenen Ruinen und banlieius. Drei Textgruppierungen geben thematische Ordnung: Orien-tierung im Raum, Zeitgeschich-te und Bewegungsräume, Energien und Atmosphären. Die Spurensuche in der Literatur führt u.a. zu Michel Butor und Franz Kafka, Corinne Dufosset und Jorge Luis Borges, Ermanno Rea und Cécile Wajsbrot, Ricardo Piglia und Umberto Eco. Katia Harbrecht unternimmt eine meteorologische Spurensuche in Paris, André Otto erforscht das energetische Feld des Londoner Ostens in Iain Sinclairs „Lud Heat“. Annelie Augustyns entdeckt bei der Lektüre der Tagebücher von Willy Cohn Breslau während des Holocaust. Ein Text ist dezidiert dem Film gewidmet: Verena Richter analysiert L’HOMME BLESSÉ von Patrice Chéreau und Hervé Guibert (1983) mit dem Blick auf Schwellenorte für jugendliche Sexualität und homosexuelle Grenzerfahrungen. Mehr zum Buch: die-un-sichtbare-stadt/

BIOLOGIE ! (1990)

Filmtitel mit einem Ausrufe-zeichen sind meist mit einer Botschaft verbunden. BIOLOGIE! ist ein Plädoyer für Natur- und Artenschutz. Die 15-jährige Ulla (gespielt von Stefanie Stappenbeck) wird zur Umweltaktivistin, als sie bei einem Schulausflug entdeckt, dass in einem Landschafts-schutzgebiet eine Datsche gebaut und in einem gestauten Bach Forellenzucht betrieben wird. Der Übeltäter ist ausgerechnet der Vater ihres Freundes Winfried, der als einflussreicher Generaldirektor viel Macht ausübt. Ulla lässt sich nicht einschüchtern. Am Ende steht sie vor einem Schultribunal und wird relegiert. Der Film von Jörg Foth entstand im Sommer und Herbst 1989, kurz vor der Wende. Die erzählte Geschichte wirkt etwas überfrachtet, hat aber nach dreißig Jahren in der „Friday for future“-Zeit nicht an Aktualität verloren. In Nebenrollen sind Helke Misselwitz, Peter Welz und die Dramaturgin Erika Richter zu sehen. Bonus-Film auf der DVD von Absolut Medien ist ABSCHIEDSDISCO von Rolf Losansky, der ebenfalls 1990 in die Kinos kam. Hier ist der 15-jährige Schüler Henning (gespielt von Holger Kubisch) die Hauptfigur, der nach dem Tod seiner Freundin zu seinem Großvater in ein Dorf im Braunkohlenrevier flüchtet und dort vielen seltsamen Menschen begegnet. Bagger fressen sich durch die Landschaft, das Dorf soll der Kohle weichen. Am Ende pflanzt Henning ein Bäumchen in einer fast toten Gegend. Als Symbol für Heimat, Alter und Würde. Zwei Jugendfilme aus der Wendezeit mit vielen Verbindungen und Parallelen. Mehr zur DVD: ABSCHIEDSDISCO+von+Rolf+Losansky

DIE WÜTENDEN (2019)

Der französische Film von Ladj Ly lief 2019 im Wettbewerb in Cannes, gewann den „Preis der Jury“ und gilt als einer wichti-gen Filme des Jahres. In Deutschland kam er im Januar 2020 in die Kinos. Er zeigt Konflikte in einer der Pariser Banlieus, schildert die schwie-rigen Lebensverhältnisse der Bewohner und die Arbeit der Polizei. Drei Beamte stehen im Blickpunkt: der leicht psychoti-sche Chris, der eher entspannte Gwada und der neu ins Team gekommene Stéphane. Der Diebstahl eines Löwenbabys aus einem Zirkus wird zu einer ernsten Konfrontation, als die Polizisten den minderjährigen Dieb Issa festnehmen wollen und dessen wütende Freunde sich dagegen wehren. Das Löwenbaby wird von den Polizisten gefunden und zurückgegeben. Issa wird vom Zirkusdirektor zur Strafe für den Diebstahl kurzfristig in einen Löwenkäfig gesperrt und traumatisiert. Unter den drei Polizisten gibt es große Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit den jugendlichen Tätern. Auch an einem der folgenden Tage geraten die Drei in Gefahr, als sie in einem Wohnhaus von Jugendlichen attackiert werden. Das Ende bleibt offen. Der Film setzt in seinen Bildern auf große physische Präsenz. Das bewirken die Kameraführung und die Montage. Bei Alamode ist jetzt die DVD des Films erschienen, der große Qualitäten hat. Mehr zur DVD: die-wuetenden-les-miserables.html

Wohlbrück & Walbrook

Im Zeughauskino ist zurzeit eine Filmreihe mit dem Schauspieler Adolf Wohlbrück zu sehen, die von Frederik Lang kuratiert wurde. Wohlbrück (1896-1967) galt in den frühen 1930er Jahren als der schönste Mann im deutschen Film, emigrierte 1936 nach Großbritannien und nannte sich fortan Anton Walbrook. Gezeigt werden (noch bis zum 19. September) 27 Filme. Bei Synema ist aus diesem Anlass ein wunderbares 120-Seiten-Buch erschienen, herausgegeben von Lang zusammen mit Brigitte Mayr und Michael Omasta. Die Texte stammen von Marcel Ophüls (Geleitwort), Michael Pekler (über die deutschen Filme von Wohlbrück), Elisabeth Streit (über die gemeinsamen Filme von Wohlbrück und Renate Müller), Daniela Sannwald (Wohlbrück als Fotomotiv), Dominik Graf („Life is so unimportant“), Christian Cargnelli (Walbrook im britischen Film), Michael Omasta (Walbrooks Schurkenstücke mit Thorold Dickinson), Regina Schlagnitweit (Wohlbrück: „Élégant musicale“), Christoph Hochhäusler (Walbrook in LA RONDE von Max Ophüls), Hannes Brühwiler (Blick auf die Geschichte: SAINT JOAN und I ACCUSE!), Peter Nau (über zwei Filme nach dem Roman „Laura“ von Vera Caspary). Michael Omasta und Brigitte Mayr unternehmen eine Passage durch ein Schauspielerleben, Frederik Lang hat eine Kommentierte Filmografie zusammengestellt, von MARIONETTEN (1915) bis ROBERT UND ELISABETH (1966). Es gibt auch einen Filmessay über Wohlbrück, er stammt von Ullrich Kasten und wurde 1989 realisiert: DER SCHATTEN DES STUDEN-TEN. Eine interessante Filmreihe (gefördert vom Hauptstadtkultur-fonds), eine exzellente Publikation mit vielen Abbildungen. Mehr zur Filmreihe und zum Buch: wohlbrueck-walbrook.html / schauspieler-gentleman-emigrant/

Allgemeines Handbuch der Film-Musik

Als dieses Buch – zweibändig – 1927 erschien, war es ein Basis-werk. Die Herausgeber Hans Erdmann und Giuseppe Becce galten als Protagonisten der musikalischen Begleitung von Stummfilmen. Erdmann hatte die Musik zu Turnaus NOSFE-RATU komponiert, von Becce stammte u.a. die Begleitung zu DAS CABINET DES DR. CALI-GARI, DER MÜDE TOD, DER LETZTE MANN und GEHEIM-NISSE EINER SEELE. Im ersten Teil geht es um grundsätzliche Themen wie: „Der Film im Rahmen der Zeitkünste“, „Wie kam die Musik zum Film?“, „Kann der stumme Film ohne Musik sein?“, „Ist eine künstlerische Bindung zwischen Film und Musik möglich?“, „Zur Musikdramaturgie des Films“. Der zweite Teil ist dem praktischen Gebrauch gewidmet. In einem „thematischen Skalenregister“ werden mit Noten Musikbeispiele aufgelistet, die für alle denkbaren Szenen in Frage kommen. Eine einbändige Neuausgabe des Buches ist jetzt im Verlag Ries & Erler erschienen. Mit einem Vorwort von Hans Brandner. Nicht nur für Musikkenner eine interessante Lektüre. Mehr zum Buch: allgemeines-handbuch-der-film-musik.html

Harry Baer

Zwei Untertitel hat der Schau-spieler Harry Baer seiner Auto-biografie gegeben: „Das musste ausgerechnet mir passieren“ und „Mein Leben mit und ohne Fassbinder“. Baer, geboren 1947 in Biberach an der Riß, hieß eigentlich Harry Koch, wurde dann zu Harry Zöttl und von Fassbinder zu Harry Baer. Mit enormem Erinnerungsvermö-gen erzählt er seine Lebens-geschichte, die ihn zunächst nach Augsburg und 1958 nach München führt. Er macht als Schlagzeuger Musik, wird 1969 Mitglied des „antiteaters“ und spielt, beginnend mit KATZEL-MACHER, Haupt- und Nebenrollen in 19 Filmen von Rainer Werner Fassbinder. Auch hinter der Kamera ist er als Assistent in verschiedenen Bereichen tätig. Die Verbindung zu RWF ist eng, wird gelegentlich durch Streitigkeiten unterbrochen, dauert aber bis zum letzten Film, QUERELLE. Parallel hat Harry Baer auch bei anderen Regisseuren wichtige Rollen gespielt, zum Beispiel bei Hans-Jürgen Syberberg die Titelfigur in LUDWIG – REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG, bei Werner Schroeter, Daniel Schmid, Doris Dörrie, Bernhard Sinkel, Mika Kaurismäki, Fred Kelemen, im Tatort und im Spreewaldkrimi. Seine Schilderung des beruflichen Lebens ist vor allem in der Zeit nach 1982 ein Auf und Ab. Bei der Arbeit zur Fassbinder-Ausstellung 1992 am Berliner Fernsehturm habe ich ihn persönlich kennen- und schätzen gelernt. Die Lektüre seiner Lebensgeschichte ist spannend und unterhaltsam. Mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff und einem Nachwort des Herausgebers Michael Töteberg. Zahlreiche Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: buch.php?ID=767