Die Nibelungen

Das literarische Spiel von Felicitas Hoppe mit den Nibelungen findet auf vielen Ebenen, in unterschiedlichen Zeiten und mit häufigen Perspektivwechseln statt. Der Untertitel des Romans heißt „Ein deutscher Stummfilm“ und verweist auf den zweiteiligen Film von Fritz Lang aus dem Jahr 1924. Aber Schauplatz ist überwiegend die Freilichtbühne der Nibelungenfestspiele in Worms, wo „Frau Kettelhut“ Regie führt. Sie könnte eine Enkelin des Filmarchitekten Erich Kettelhut sein, der mit Fritz Lang zusammengearbeitet hat. Im Nachspann des Romans hat Quentin Tarantino einen Credit für die Dramaturgie. In seinem Western DJANGO UNCHAINED gibt es Hinweise auf die Nibelungen. Das Personal des Romans teilt sich zwischen Darstellung und Rollen. Wir erleben den Grünen Jäger Siegfried und seinen Widersacher Hagen, die deutsche Superwitwe Kriemhild und ihren Grünen Zwilling Brunhild, ihre Mutter Königin Ute, das dreifache G (Gunther, Gernot und Giselher), König Etzel („Die große Null“), Dietrich von Bern („Der größte Held von allen“) und die Tarnkappe, den Zwerg Zorn. Alle werden auf der Wormser Bühne von Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt, die zwischen den Akten Interviews geben sollen, obwohl sie lieber Ruhe hätten. Drei Großkapitel liefern die Struktur: „Der Rhein“, „Die Donau“ und „Die Klage“. Am Ende sind fast alle tot. Die Hauptfigur ist „Die Goldene Dreizehn“, die personifizierte Verkörperung des Schatzes, um den hart gekämpft wird. Er trägt das Gold in sich. Felicitas Hoppe spielt mit dem Stoff, sie arbeitet mit Assoziationen und Imaginationen, das macht die Lektüre nicht leicht. Gelegentlich wird aus der Prosaübertragung des Nibelungenliedes von Uwe Johnson zitiert. Ihm ist der Roman gewidmet. Ich finde ihn höchst lesenswert. Mehr zum Buch: felicitas-hoppe-die-nibelungen-9783100324580

Politik der Grenze

Interdisziplinäre Perspektiven auf die Frontier im Western der Gegenwart. Die elf Texte doku-mentieren eine Tagung, die im Februar 2020 an der Univer-sität Trier stattgefunden hat. Das Herausgeberduo Anja Peltzer und Jörn Ahrens leitet den Band mit einer pointierten Bestandsaufnahme zum Western der Gegenwart ein. Vinzenz Hediger befasst sich mit dem amerikanischen Western als Nachkriegsfilm („Schwarzer Kaffee für weiße Siedler“). Bei Elisabeth Bronfen geht es um den Western im zeitgenös-sischen TV-Drama („Resettling the Frontier“). Ivo Ritzer äußert sich zu den Western von Walter Hill („Moderne Genre-Tradition“). Marcus Stiglegger reflektiert über Generische Hybridität als zeitgenössische Mythentransformation („Inner Frontier“). Josef Früchtl sieht das Genre in einem philosophischen Zusammenhang („Der Western in postheroischer Zeit“). Jöhn Ahrens entdeckt die Ankunft der Moderne in Michael Winterbottoms THE CLAIM („They were like Kings“). Rainer Winter äußert sich zur Dekonstruktion des Cowboymythos („Die Faszination des individualistischen Helden“). Andreas Wagenknecht nimmt die DEFA-Indianerfilme unter die Lupe („Als Alex ausritt, den Western zu erobern“). Lars Nowak untersucht Raumkonstruktionen in den postklassischen Western von Anthony Mann („Zersplitterung, Entwurzelung, Entfremdung“). Arno Meteling beschäftigt sich mit Grenzräumen und Grenzobjekten im Western („Die Büchse der Pandora“). Anja Peltzer sieht eine Paradoxie gerechter Gewalt innerhalb und außerhalb des Western („Kopfgeldjäger und andere Pathologien des Rechthabens“). Alle elf Texte haben ein hohes Niveau und machen den Band sehr lesenswert. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: halem-verlag.de/politik-der-grenze/

MEIN JAHR IN NEW YORK (2020)

Eine Coming-of-Age-Geschichte aus den 1990er Jahren. Die junge Joanna möchte Schrift-stellerin werden. Sie arbeitet in einer New Yorker Agentur und hat dort die Aufgabe, die Fan-post an den Autor J. D. Salinger lakonisch mit dem Satz „Sorry, Mr. Salinger möchte keine Post“ zu beantworten. Dies geschieht damals noch mit der Schreib-maschine. Gegen die Anwei-sungen ihrer Chefin Margret beginnt Joanna, den Brief-schreibern persönlich zu antworten. Ihre Texte sind mit viel Empathie formuliert. Und als Zuschauer kommt man ihr sehr nahe. Der Film des kanadischen Regisseurs Philipp Falardeau öffnet einen interessanten Blick in die amerikanische Literaturszene, die beiden Hauptdarstellerinnen Margaret Quallery (Joanna) und Sigourney Weaver (Margaret) haben eine starke Ausstrahlung, und das New York vor 9/11 ist sehr präsent. Der Film wurde 2021 auf der Berlinale als Special gezeigt. Bei Koch Media ist jetzt die DVD des Films erschienen. Zu den Extras gehören Interviews mit Margaret Qualley, Philippe Falardeau und der Schriftstellerin Joanna Rakoff, deren Roman „My Salinger Year“ die Vorlage zum Film war. Sehr zu empfehlen. Mehr zur DVD: view/film/mein_jahr_in_new_york_dvd/

Medien der Sorge

Eine Dissertation, die an der Ruhr-Universität Bochum entstanden ist. Jasmin Degeling untersucht darin die Praktiken des Über-sich-selbst-Schreibens bei Christoph Schlingensief und Elfriede Jelinek. Es sind vor allem die späten medialen Arbeiten von Schlingensief, die hier im Blickfeld stehen. Als Künstler kommen Joseph Beuys, Hugo Ball und das Heilsprogramm von Richard Wagner ins Spiel. Ein eigenes Kapitel ist dem „Operndorf“ in Afrika gewidmet. „Kritischer Vitalismus“ und die Ästhetik des Lebendigen, die Ambiguität der Bilder und die kunstreligiöse Sakralisierung des Lebens schließen den Schlingensief-Teil. Bei Elfriede Jelinek geht es um ihr Überleben im Internet. Was ist ein Onlineroman? Was verbindet Autobiografien und Sorgetechniken? Wie entstehen literarische Figurationen des Wanderns? Das Internet hat ein eigenes Milieu für Virtualisierung und Selbstsorge. Die Mittel der ästhetischen Therapeutik sind begrenzt. Wer mit Schlingensief und Jelinek vertraut ist, findet viele interessante Hinweise und neue Informationen. Mehr zum Buch: medien-der-sorge-techniken-des-selbst

Tödliche Mischung

Heike Klippel, Professorin für Filmwissenschaft an der Uni-versität Braunschweig, erforscht in diesem beeindruckenden Buch das Giftmotiv im Spiel-film. Fünf Kapitel strukturieren den Text und werden mit Film-analysen konkretisiert. 1. „Die Giftmörderin“. Film: THE PARADINE CASE von Alfred Hitchcock. 2. Gift und Macht. Beispiele: die HAMLET-Filme von Laurence Olivier, Grigori Kozintsev, Tony Richardson, Franco Zeffirelli, Kenneth Branagh und Michael Alme-reyda, YE YAN – THE BANQUET von Xiaogang Feng und IWAN GROSNY von Sergej Eisenstein. 3. Illegitime Ansprüche und verkehrte Welt. Filmbeispiele: ARSENIC AND OLD LACE von Frank Capra, KIND HEARTS AND CORONETS von Robert Hamer, THE LAST SUPPER von Stacy Title als Komödien, MADELEINE von David Lean als Drama. 4. Gift und Abjekt. Filme: A BLUEPRINT FOR MURDER von Andrew L. Stone und MERCI POUR LE CHOCOLAT von Claude Chabrol (Stiefmütter), NOTORIOUS von Alfred Hitchcock, MOURNING BECOMES ELECTRA von Dudley Nichols, WHITE OLEANDER von Peter Kosminsky (Mütter), DRAGONWYCK von Joseph L. Mankiewicz und FOOTSTEPS IN THE FOG von Arthur Lubin (Giftmörder), MONSIEUR VERDOUX von Charles Chaplin und THE YOUNG POISENERS HANDBOOK von Benjamin Ross (Schwarze Komödien). 5. Gift und Verzweiflung. Filme: DAS BEKENNTNIS DER INA KAHR von G. W. Pabst, LA VERITÉ SUR BÉBÉ von Henri Decoin und THÉRÈSE DESQUEYREUX von Georges Franju (Ehedramen). Gift ist in der Regel nicht sichtbar. Die Autorin öffnet durch Szenenbeschreibungen den Blick auf das Verborgene, entlarvt Hinterhältigkeit und Kaltblütigkeit der Täter/innen. Die Filmauswahl ist gut getroffen, kleine Abbildungen geben dem Text eine zusätzliche Anschaulichkeit. Ein Basiswerk zum Thema Gift. Mehr zum Buch: titel-ansicht.php?id=267&am=12

Populäre Präsentationen

Es geht um Fotografie und Film als Medien musealer Aneig-nungsprozesse. 14 Beiträge zu einer Tagung, die 2018 im Museum für Fotografie in Berlin stattgefunden hat. Sieben Texte haben mir besonders gut ge-fallen. Ulrich Hägele vermittelt einen historischen Abriss zu Präsentation von Fotografie und Film im Museum und in Aus-stellungen von 1839 bis in die Gegenwart. Sehr anschaulich: seine Beschreibung der Aus-stellung des Deutschen Werkbunds „Film und Foto“ 1929 in Stuttgart. Antje Akkermann und Sebastian Bollmann haben ein Glossar der Medienplanung für die Ausstellungen der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt-Forum zusammengestellt. Nathalie Dimic erinnert an die Foto-Ausstellungen „Die Frau in Haus und Beruf“ (Berlin 1912) und „Das Haus der Frau“ (Leipzig 1914), die zur Anerkennung der Fotografin als Beruf führten. Alexander Renz beschäftigt sich mit Fotografie und Film als dramaturgischem Mittel in kulturhistorischen Museumsausstellungen. Von Alexander Kraus stammt ein Beitrag über Reportagefotografie als Quelle der Zeitgeschichte in der Ausstellung „Robert Lebeck. 1968“. Irene Ziehe beschäftigt sich mit Foto und Film als Medien „volkserzieherischer“ Museumsarbeit in den 1920er und 1930er Jahren. Cornelia Brink richtet ihren Blick auf zwei Ausstellungen, die den Auschwitz-Prozess 1963-65 begleitet haben. Band 13 der Reihe „Visuelle Kultur. Studien und Materialien“. Mehr zum Buch: waxmann_pi2%5baction%5d=show

Das Dämmern der Welt

Werner Herzog, der 2022 achtzig Jahre alt wird, ist nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Schriftsteller aktiv. Ich erinnere mich gern an „Vom Gehen im Eis“ (1978) oder „Die Eroberung des Nutzlosen“ (2004). Sein neuer Text, „Das Dämmern der Welt“, ist nicht als Roman oder Erzählung ausgewiesen, er erzählt die Geschichte des japanischen Nachrichtenoffiziers Hiroo Onoda, der auf einer philip-pinischen Insel nicht wahr-nimmt, dass der Krieg 1945 zu Ende ist. Er taucht im Dschungel unter und führt das Leben eines Einzelkämpfers. Anfangs gesellen sich noch zwei japanische Kameraden zu ihm, die aber auf der Strecke bleiben. Es gibt Unwetter und Regenzeiten, Schwierigkeiten, sich zu ernähren, die Gefahr, entdeckt zu werden. Fast dreißig Jahre, man kann es kaum glauben, ist Onoda auf der Insel Lubang unterwegs. Werner Herzog beschreibt dies im Präsens, mit poetischen Metaphern, in kurzen, chronologisch datierten Kapiteln, die spannend zu lesen sind. Der Autor hatte 1997, als er in Tokio eine Oper inszenierte, eine intensive Begegnung mit Onoda, die ihn zu seinem Buch inspiriert hat. Onoda ist 2014 gestorben. Mehr zum Buch: das-daemmern-der-welt/978-3-446-27076-3/

NOMADLAND (2020)

Es war (nicht nur für mich) der schönste Kinofilm seit langem: NOMADLAND von Chloe Zhao. In Venedig gewann der Film den Goldenen Löwen, bei der Oscar-Verleihung 2021 wurde er als bester Film, für die beste Regie und Frances McDormand als beste Hauptdarstellerin aus-gezeichnet. Erzählt wird die Geschichte der 60jährigen Fern, die nach dem Tod ihres Mannes und dem Verlust ihres Arbeits-platzes und ihres Hauses zur Nomadin wird. Sie fährt mit ihrem weißen Van durch den Westen der USA, nimmt Jobs in Restaurantküchen, bei der Zucker-rübenernte oder als Verpackerin an, lernt neue Menschen kennen, die auch unterwegs sind und zu Freunden werden. Auf einem Campingplatz wird sie zur respektierten Organisatorin, aber dann geht ihre Reise weiter. Am Ende kehrt sie kurz in ihren Heimatort, ins verlassene Haus zurück, nimmt Abschied und fährt im Van mit unbekanntem Ort davon. Der Film ist bewegend, hat auch komische Momente und ist wunderbar fotografiert (Kamera: Joshua James Richards). Natürlich ist Frances McDormand sein größtes Kapital. Sie spielt einfach herausragend. Vor wenigen Tagen ist die DVD des Films erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: AcbEAQYAiABEgIuF_D_BwE

Deutscher Filmpreis

Heute Abend wird im Palais am Funkturm zum 71. Mal der Deutsche Filmpreis verliehen, genannt „Lola“. Ich werde nicht dabei sein, aber ab 23 Uhr die Aufzeichnung im ZDF anschauen. Wenn ich Mitglied der Filmakademie wäre und abstimmen dürfte, wären dies meine Voten in den zwölf wichtigsten Kategorien: Bester Film: FABIAN. Bester Dokumentarfilm: HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE. Bester Kinderfilm: JIM KNOPF UND DIE WILDE 13. Beste Regie: Dominik Graf (FABIAN). Bestes Drehbuch: Constantin Lieb und Dominik Graf (FABIAN). Beste weibliche Hauptrolle: Maren Eggerth (ICH BIN DEIN MENSCH). Beste männliche Hauptrolle: Oliver Masucci (ENFANT TERRIBLE). Beste weibliche Nebenrolle: Birgit Minichmayr (SCHACHNOVELLE). Beste männliche Nebenrolle: Milan Peschel (JE SUIS KARL). Beste Kamera: Hanno Lentz (FABIAN). Bester Schnitt: Andrew Bird (A SYMPHONIE OF NOISE). Beste Musik: Martin Todsharow (ENFANT TERRIBLE). Dass Tom Schilling als Hauptdarsteller von FABIAN die Nominierung nicht geschafft hat, kann ich nicht verstehen. Natürlich finde ich es wunderbar, dass Senta Berger den Ehrenpreis erhält. Mehr zu den Nominierungen: www.deutscher-filmpreis.de/preisverleihung/2021/

Lebens Licht und Lebens Schatten

Paul Werner Wagner führt mit großer Kompetenz Gespräche mit Kulturschaffenden der ehemaligen DDR, vor allem zum Thema Film. Ich habe selbst an mehreren Gesprächen teilgenommen und war von Wagners Moderatorenqualität immer beeindruckt. Im Quintus Verlag ist jetzt ein Buch mit 15 besonders interessanten Gesprächen publiziert worden. Sie stammen aus den Jahren 2003 bis 2019. Zu Wort kommen die Regisseure Kurt Maetzig, Egon Günther, Roland Gräf, Herrmann Zschoche, Siegfried Kühn, Rainer Simon, der Autor Ulrich Plenzdorf, die Schauspielerinnen Eva-Maria Hagen, Christel Bodenstein, Jutta Hoffmann, Angelica Domröse und Cox Habbema, die Schauspieler Otto Mellies, Hilmar Thate und Jaecki Schwarz. Es geht um die Arbeit vor und hinter der Kamera, um das Leben vor und nach 1989, um Beruf und Freizeit. Auch wenn man viel über die genannten Personen weiß, erfährt man Neues, Interessantes, Originelles. Den Abschluss des Buches bildet ein Gespräch, das der Journalist Hans-Dieter Schütt mit Paul Werner Wagner geführt hat: „Ich bin gefühlsbereit“. Das sehr empfehlenswerte Buch wurde gemeinsam von der DEFA-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben. Mit jeweils einer Abbildung zu Gesprächsbeginn. Mehr zum Buch: www.quintus-verlag.de/Lebens-Licht-und-Lebens-Schatten/978-3-96982-005-6