Helke Misselwitz 75

Morgen kann die Filme-macherin Helke Misselwitz ihren 75. Geburtstag feiern und dazu gratuliere ich ihr herzlich. Sie hat herausragende Spiel- und Dokumentarfilme realisiert, war von 1997 bis 2014 Professorin für Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Babelsberg und ist seit 2018 stellvertretende Direktorin unserer Sektion Film und Medienkunst der Akademie der Künste. Im Herbst wird ihr neuester Film zu sehen sein: DIE FRAU DES DICHTERS, das Porträt einer türkischen Malerin. – Unter ihren Filmen schätze ich besonders WINTER ADÉ (1988), eine Reise durch die DDR von ihrem Geburtsort Zwickau nach Saßnitz auf der Insel Rügen. Sie führt unterwegs Gespräche mit einer Werbeökonomin, einem Tanzlehrerehepaar, einer Arbeiterin in einer Brikettfabrik, einer jungen Familie mit finanziellen Problemen, zwei 17jährigen Punks, einem Ehepaar, das seine Diamanthochzeit feiert, Frauen, die filetierte Heringe verpacken und der Leiterin eines Kinderheims. Auf der Reise gibt es einen längeren Aufenthalt in Berlin mit vielen Impressionen. Es ist erstaunlich, wie nahe man den Menschen kommt, die wir auf der Fahrt treffen, und wieviel man von ihrer Umgebung sehen kann. Hinter der Kamera stand damals Thomas Plenert. Bei Absolut Medien erscheint demnächst eine DVD von WINTER ADÉ in restaurierter Fassung und weiteren Filmen von Helke Misselwitz. Ein schönes Geschenk zu ihrem Geburtstag. Mehr zur DVD: Winter+adé+und+andere+Klassiker+von+Helke+Misselwitz

Bewusst im Paradies: Kitsch und Reflexivität

Eine Habilitationsschrift, die an der Universität Duisburg-Essen entstanden ist. Thomas Küpper beschäftigt sich darin mit dem Zusammenhang von Kitsch und Reflexivität. Er befreit den Kitsch aus dem simplen und banalisierenden Gegensatz zur Kunst und öffnet dafür ein größeres Untersuchungsfeld in Literatur, Bildender Kunst, Musik, Film und Fernsehen. Zu den Kinofilmen, die er in seinem Text behandelt gehören ABSCHIEDSWALZER (1934) von Geza von Bolvary mit der Musik von Frédéric Chopin, die drei SISSI-Filme (1955-57) von Ernst Marischka mit Romy Schneider, DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL (1973) von Václav Vorlicek, PRETTY WOMAN (1990) von Garry Marshall und HONIG IM KOPF (2014) von Til Schweiger mit Dieter Hallervorden. Unter den Fernsehsendungen findet man das Fernsehspiel DIE BETTEL-PRINZESS (1974) von Bruno Voges nach dem Roman von Hedwig Courths-Mahler, André Rieus GROSSE NACHT DER WIENER MUSIK, die Serie SCHWARZWALDKLINIK und der MUSIKANTENSTADL. Hilfestellung bei der Definition des Kitsches leisten dem Autor Walter Benjamin, Hermann Broch, Julia Genz, Walther Killy, Harry Pross und viele andere. Natürlich spielen ethische und politische Perspektiven eine große Rolle. Ein wichtiges Kapitel ist dem Thema Kitsch und Tourismus gewidmet. Die Lektüre des Buches ist spannend. Mehr zum Buch: bewusst-im-paradies-kitsch-und-reflexivitaet/?number=978-3-8376-3119-7

The „White“ Mask and the „Gypsy” Mask in Film

Eine Dissertation, die an der Universität Heidelberg ent-standen ist. Radmila Mladenova untersucht darin die unter-schiedliche Verwendung von „weißen“ Masken und „Zigeunermasken“ im Film. Ihr Blick auf die Filmgeschichte erfolgt in einem größeren kulturellen Zusammenhang. Das Spektrum der analysierten Filme ist groß, beginnend mit THE ADVENTURES OF DOLLIE (1908) von D. W. Griffith, gefolgt von ZIGEUNEREN RAPHAEL (Dänemark 1914, Regisseur unbekannt). Ein literarischer Rückblick führt zu der Novelle „La gitanilla (1613) von Miguel de Cervantes. Dann geht es um die Komödie THE BOHEMIAN GIRL (1936) von Charley Rogers und James W. Horne mit Laurel und Hardy. Vier Versionen von THE HUNCHBACK OF NOTRE DAME werden in ihrer Unterschiedlichkeit beschrieben, sie stammen aus den Jahren 1939 (Regie: William Dieterle, Hauptrolle: Charles Laughton), 1956 (Regie: Jean Delannoy, Hauptrolle: Anthony Quinn), 1982 (Regie: Michael Tuchner, Hauptrolle: Anthony Hopkins) und 1996 (Animationsfilm des Disney-Studios von Gary Trousdale und Kirk Wise. Die weiteren Kapitel thematisieren „The Phenomenon of the ‚Gypsy’-themed Films and Their Technology of Truth Productions”, “Production Set-up”, “The ‘Gypsy’-Mask as a Cluster of Attributes”, “The ‘Gypsy’-Mask as a Set of Cinematographic Conventions and Devices”, “Claims to Truth and Authentication Strategies”. Natürlich werden auch die unterschiedlichen Carmen-Filme in den Blick genommen. Unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: uni-heidelberg.de/catalog/book/989

Von Monsterschleim, Gummihühnern und Freilandrosen

Nine Olausen Nielebock stammt aus Norwegen, kam als Kind nach Berlin, machte den Schulabschluss, wurde bei Tobis Filmkunst Pressereferentin und arbeitete von 1988 bis 2011 als Requisiteurin für Kinofilme und Fernsehserien. Sie erzählt in diesem Buch Anekdoten aus ihrem Berufsleben. Zu den bekannten Filmen, die sie mit ausgestattet hat, gehören BEIM NÄCHSTEN MANN WIRD ALLES ANDERS von Xaver Schwarzenberger, OTTO – DER AUSSERFRIESISCHE von und mit Otto Waalkes, PAPPA ANTE PORTAS von und mit Loriot, COSIMAS LEXIKON von Peter Kahane, zu den Fernsehserien EIN HEIM FÜR TIERE, EIN BAYER AUF RÜGEN und SYLTER GESCHICHTEN. Viele Erfahrungen stammen aus der Wendezeit. Sie sind zum Teil wirklich komisch. Nine Olausen Nielebock ist inzwischen Heilpraktikerin und Diplompsychologin. „Ich“ ist das wohl am häufigsten verwendete Wort in diesem Buch – im Text und in den Bildunterschriften. Mehr zum Buch: products/monsterschleim-nielenbock

BLUTSAUGER. Drehbuch

Filmdrehbücher werden eher selten publiziert. Julian Radlmaier wurde 2019 für BLUTSAUGER mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet, der Film ist seit Mai in den Kinos zu sehen, das Drehbuch jetzt im August Verlag erschienen. Schauplatz: ein Ostseebad mit dem Anwesen der jungen Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen. Zeit: August 1928. Zum Personal gehören neben Octavia ihr Assistent Jakob, der sie sehr verehrt, ihre Tante Erkentrud, der Doktor der Pharmazie Humbug, der Organisator Bonin, die Prinzessin XY, ein Allgensammler, ein Bauer, zwei Dorfpolizisten, der Baron Koberskij, der in Wahrheit ein Schauspieler namens Ljowuschka ist und nach schlechten Erfahrungen in Moskau seine Zukunft in Hollywood sieht, sowie zahlreiche Figuren aus Ljowuschkas Vergangenheit, inklusive Sergej Eisenstein, die in Rückblenden zu erleben sind. BLUTSAUGER ist eine Vampirkomödie, ein Theoriediskurs über den Marxismus und ein Spiel mit filmischen Metaphern. Die Lektüre des Drehbuchs macht Spaß. Mit 54 Zeichnungen des Schweizer Comicautors Jan Bachmann. Er ist wie Radlmaier Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Ein Essay des Filmwissenschaftlers Suigi Lie schließt den Band ab: „Zahnweh. Vitalismus und Melancholie im deutschen Vampirfilm“. Mehr zum Buch: matthes-seitz-berlin.de/buch/blutsauger.html?lid=2

PARALLELE MÜTTER (2021)

Zwei sehr unterschiedliche Frauen werden parallel zu Müttern. Janis, Ende 30, erfolgreiche Modefotografin, hat eine Affäre mit den forensischen Anthropologen Arturo, der verheiratet ist und kein Kind von ihr haben will. Sie entscheidet sich gegen eine Abtreibung. Ana, minderjährig, wird von ihren Eltern schlecht betreut und nach einem Party-Wochenende auf Grund einer sexuellen Erpressung schwanger. Janis und Ana treffen sich auf der Entbindungsstation, spazieren durch die Flure und freunden sich an. Sie bringen beide Töchter zur Welt. Dann trennen sich ihre Wege. Doch nach einiger Zeit kommt der Verdacht auf, dass die beiden Töchter unmittelbar nach der Geburt vertauscht wurden. Ein Mutterschaftstest bei Janis bestätigt das. Als sie nach einiger Zeit Ana wiedersieht, hört sie von ihr, dass ihr Baby kürzlich gestorben ist. Für Janis und Ana beginnt eine melodramatische Lebensphase. Der Film von Pedro Almodóvar hat noch eine historische Dimension, die mit der Arbeit des Anthropologen Arturo und der Exhumierung von ermordeten Opfern der Falangisten während des Spanischen Bürgerkriegs zu tun hat. Die dramaturgische Verknüpfung ist klug, sie verstärkt die Verbindungen der Hauptfiguren. PARALLELE MÜTTER hat ein positives Ende und ist ein sehr sehenswerter Film. Dazu tragen auch Penelope Cruz als Janis und Milena Smit als Ana bei. Die Musik stammt von Alberto Iglesias. Bei StudioCanal ist jetzt die DVD des Films erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: studiocanal.de/title/parallele-mutter-2021/

Außen Fuji Tag

Rainer Komers (*1944) ist bekannt als Dokumentarist und Kameramann, aber zu seinen künstlerischen Tätigkeiten gehören auch Lyrik und Grafik. Die Monografie, herausgegeben von Andreas Erb, macht die Verbindung zwischen den verschiedenen Bereichen erkennbar. Daniel Kothen-schulte richtet den Blick auf die Filmplakate von Komers als Mittel der Politik. In zwei Texten von Andreas Erbe geht es um Typogramm („Alles wurde ausgetauscht. Nichts wurde ausgetauscht.“) und Lyrik („Knoten im Kopf“). Michael Girke hat ein Gespräch mit Komers über seine Filmarbeit geführt („Das Poetische und das Politische“). 16 Filme werden ausführlicher vorgestellt, eingeleitet von einem Text von Komers über die Entstehung seiner Filmarbeiten. Mir persönlich ist Rainer Komers vor allem als Kameramann von Klaus Wildenhahn und Peter Nestler bekannt, aber ich erinnere mich auch an einige Filme von ihm, zum Beispiel ZIGEUNER IN DUISBURG (1980), LETTISCHER SOMMER (1992), EIN SCHLOSS FÜR ALLE (1997). Sie haben eine große Bildstärke in der Beobachtung von Menschen und Landschaften. Das Buch ist eine beeindruckende Würdigung seiner Arbeit. Mit Abbildungen in sehr guter Qualität. Mehr zum Buch: programm/titel/481-aussen-fuji-tag.html

Motorlegenden: Elvis Presley

Im Kino ist zurzeit der ELVIS-Film von Baz Luhrmann zu sehen. Er erinnert auf ein-drucksvolle Weise an das Leben und Wirken des Sängers und Schauspielers. Dies tut auch das Buch von Siegfried Tesche in der Reihe „Motorlegenden“. Der Autor erzählt die Elvis-Biografie von der Geburt im Januar 1935 bis zum Tod am 16. August 1977 und das Nachleben bis heute. Im Mittelpunkt steht seine Obesession für Autos und Motorräder. Mit 17 macht er den Führerschein und bekommt zum 18. Geburtstag sein erstes Auto, ein 1942er Lincoln Zephyr Club Coupé geschenkt. Seine Karriere als Sänger ermöglicht es ihm, seiner Leidenschaft für Autos ungehemmt zu frönen. Auf seinem Anwesen Graceland in Memphis und in Los Angeles standen gelegentlich über zwanzig Wagen, die er abwechselnd nutzte. Er verschenkte auch Autos, es sollen mehrere hundert gewesen sein, und machte anderen Menschen damit eine Freude. Die Verbindung von Singen, Spielen und Fahren wird von Siegfried Tesche kongenial hergestellt. Zahllose Abbildungen zeigen Elvis mit der Gitarre, auf der Leinwand, im Auto oder auf dem Motorrad. So wird eine Legende auch 45 Jahre nach dem Tod präsent. Mehr zum Buch: info/p12511_Motorlegenden—Elvis-Presley.html

Körper und Leib in der Animation Art

Eine Dissertation, die an der Universität Tübingen ent-standen ist. Luzie Kollinger untersucht darin Animations-filme, die in ihren Bildern den Körper fokussieren. Sieben Analysen werden jeweils mit Filmbeispielen konkretisiert. Es geht 1. um Innen – Außen und den Blick in, auf und durch den Körper. Filmbeispiel: BUN IN THE OVEN (1999) von Alys Scott-Hawkins. 2. um Werden – Vergehen und den abjekten Körper. Filmbeispiele: TENGRI (2012) von Alisi Telengut und EAGER (2014) von Allison Schulnik. 3. um Ekstase – Manie – Depression und den grotesken Körper. Filmbeispiele: SUMMER’S PUKE IS WINTER’S DELIGHT (2016) von Sawako Kabuki und LE CHAPEAU (1999) von Michèle Counoyer. 4. um Fragment – Totalität. Filmbeispiele RYAN (2004) von Chris Landreth und DANS TON REGARD (2015) von Julien Arnal. 5. um Norm – Anomalie. Filmbeispiel: THROUGH THE HAWTHORN von Anna Benner, Pia Borg und Gemma Burditt. 6. um Natur – Kultur. Filmbeispiel: SUPERVENUS (2013) von Frédéric Doazan. 7. um Präsenz – Absenz. Filmbeispiel: GUGUC (2006) von Sabine Groschup. Die Analysen sind präzise, die Filmbeispiele gut ausgewählt. Unbedingt lesenswert. Mit 267 Abbildungen in sehr guter Qualität. Die Coverabbildung stammt aus dem Film SUMMER’S PUKE IS WINTER’S DELIGHT (Japan 2016). Band 2 der neuen Reihe „Film Studies“. Mehr zum Buch: 717-koerper-und-leib-in-der-animation-art.html

Der Traum vom großen Kino

Eine Dissertation, die an der Hochschule für Fernsehen und Film in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden ist. Christoph Menardi beschreibt darin die Unternehmens-geschichte der Bavaria Film GmbH von 1945 bis 1994. Er unterteilt die fünfzig Jahre in fünf Phasen: 1945-56 Treuhandphase und Reprivatisierung der Bavaria. 1956-59 Von der UFI in den öffentlich-rechtlichen Besitz. 1959-69 Bavaria Atelier GmbH als Produktionsarm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. 1969-79 Von der Krise zum Weltkino. 1979-94 Die Bavaria auf dem Weg zum diversifizierten Medienkonzern. Detailliert werden die Entwicklungen und Veränderungen des Konzerns über die Jahrzehnte geschildert, die Abhängigkeiten vom Süddeutschen Rundfunk, Bayerischen Rundfunk und vom WDR, die kreativen Ideen der Geschäftsführer Helmut Jedele (1959-79) und Günter Rohrbach (1979-94). So wurden über die Jahrzehnte aufwendige Kinofilme hergestellt wie zum Beispiel CABARET, DAS BOOT oder DIE UNENDLICHE GESCHICHTE. Auch der Neue deutsche Film profitierte mit Rainer Werner Fassbinder, Peter F. Bringmann oder Robert Van Ackeren von der Bavaria. Die Studios und das Gelände in Geiselgasteig boten viele Drehmöglichkeiten, die technischen Investitionen waren jeweils auf der Höhe der Zeit. Die Dissertation ist hervorragend recherchiert, 2.178 Quellenverweise und ein umfangreiches Literaturverzeichnis bezeugen das. Tabellen und grafische Abbildungen vertiefen die Vermittlung der Fakten. Eine beeindruckende Publikation. Mehr zum Buch: www.etk-muenchen.de/search/Details.aspx?ISBN=9783967076455#.YrcLGi-21Hc