Andrzej Żuławski

Mit spürbarer Leidenschaft hat Alexander Schmidt einen inter-essanten Text über das „Kino der Ekstase“ des polnischen Regisseurs Andrzej Żuławski (1940-2016) geschrieben, des-sen Unterschätzung durch Film-kritik und Filmwissenschaft er beklagt. Zunächst macht der Autor theoretische Vorgaben: zu Konzeptionen der Selbstüber-schreitung in Religion und Philosophie (Georges Batailles), zur Parallelisierung von Film und Bewusstseinsphänomenen (Gilles Deleuze). Dann unter-sucht er Motive der Selbstüberschreitung in ausgewählten Filmen Żuławskis: Gewalt und Tod, Sexualität und Liebe, Begegnungen mit dem Unbekannten, Schauspiel und Tanz. Schließlich richtet er seinen Blick auf die Inszenierungsformen der Selbstüberschreitung: Schau-spielstil, Kamerabewegung, Mise-en-Scène, Montage. Er geht dabei nicht auf alle Filme des Regisseurs ein, sondern konzentriert sich auf sechs Spielfilme, die zwischen 1972 und 1995 entstanden sind. Die vermittelten Erkenntnisse basieren auf konkreten Beobachtungen und lesen sich überzeugend. Band 37 der Schriftenreihe „Film- und Medien-wissenschaft“, herausgegeben von Irmbert Schenk und Hans Jürgen Wulff im ibidem-Verlag. Keine Abbildungen. Mehr zum Buch: kino-der-ekstase.html

Zwei Western-Legenden

Burt Lancaster spielt in dem Western MASSAI (1954) einen Indianer, der sich nicht der Kapitulation seines Häuptlings Geronimo gegenüber der Kaval-lerie anschließt, sondern rebel-liert und seinen eigenen Weg geht. Er wird gefangen genom-men, kann fliehen, heiratet die schöne Häuptlingstochter Nalinle (Jean Peters), die bald ein Kind erwartet, arbeitet im Verborgenen als Farmer, nimmt noch einmal den Kampf gegen die Weißen auf und gibt auf, als er den durchdringenden Schrei seines frisch geborenen Kindes hört. Es wird ihm vergeben. Stark, neben Lancaster: die Darsteller John McIntire als Major Al Sieber und Charles Buchinsky (später wird er als Charles Bronson bekannt) als Soldat Hondo, der mit Massai um Nalinle konkurriert. Regie führte Robert Aldrich, hinter der Kamera stand Ernest Laszlo. Tolle Bilder. Text im Booklet von Fritz Göttler. Legende Nr. 53. Mehr zur DVD 1: 1024438&nav1=FILM

Kirk Douglas (er ist inzwischen, man kann es kaum glauben, 101 Jahre alt) spielt in dem Western THE INDIAN FIGHTER (1955) den Trapper Johnny Hawks, der im Konflikt zwischen Armee und Sioux-Indianern vermittelt, sich in die Häuptlingstochter Onahti (Elsa Martinelli) verliebt und die Schurken Todd (Walter Matthau) und Chivington (Lon Chaney jr.) an die Indianer ausliefert. Andre de Toth hat diesen sehr poetischen Western inszeniert, die Musik stammt von Franz Waxman, in Nebenrollen sieht man Elisha Cook jr. als Fotografen Briggs und Hank Warden als Wärter Crazy Bear. Es sind vor allem die Landschaftsaufnahmen in CinemaScope, die auch heute noch beeindrucken. Und die Schauspieler*innen in ihren Aktionen vor mehr als 60 Jahren. Speziell ihnen ist der wunderbare Text von Fritz Göttler im Booklet gewidmet. Legende Nr. 54. Mehr zur DVD 2: 1024398&nav1=FILM

Werben für Metropolis

Patrick Rössler, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt, hat im vergangenen Jahr das beein-druckende Buch über Deutsche Kinopublizistik 1917-1937 publi-ziert (filmfieber/). Jetzt ist in der Reihe der „Filmblatt-Schriften“ von CineGraph Babelsberg sein Buch „Werben für Metropolis“ erschienen. Es geht darin um die wöchentlichen Informationen der Verleihfirma PARUFAMET für Kinobesitzer und Feuilleton-Redaktionen in den Jahren 1926/27. Auf 300 Seiten sind sie im Faksimile abgebildet und werden durchgehend vom Autor kommentiert. Sie stammen aus dem Nachlass eines Kinobesitzers, enden mit dem 28. Oktober 1927, die bis in die ersten Monate 1928 erschienen Hefte sind nicht erhalten. Die bilderreiche Lektüre ist spannend, man kann über die Film- und Personenregister speziellen Interessen nachgehen. Farbabbildungen auf 16 Seiten am Ende. Respekt vor der editorischen Leistung! Mehr zum Buch: kinobesitzer-und-die-presse

„Kalter Frieden“ von Philip Kerr

Im März ist der britische Autor Philip Kerr in London gestorben. Das war eine traurige Nachricht. Sein Serienheld, der Privat-detektiv und ehemalige Kriminaloberkommissar Bernhard (Bernie) Gunther aus Berlin, begleitet mich seit 1995, seit „Feuer in Berlin“ (rororo-thriller). „Kalter Frieden“, gerade im Wunderlich Verlag erschienen, ist der elfte Band mit ihm. Die Geschichte spielt im Jahre 1956 in Cap Ferrat an der französischen Riviera. Unter den Namen Walter Wolf arbeitet Bernie als Concierge im Grand Hotel, spielt Bridge in einer Viererrunde, begegnet dem ehemaligen SD-Hauptmann Harold Henning, der sich jetzt Harold Heinz Heben nennt, lernt die attraktive Engländerin Anne French kennen und wird involviert in Erpressungsversuche, gegen die sich der Autor William Somerset Maugham zu wehren versucht. Im Kern geht es um feindliche Unterwanderungen des britischen Geheimdienste MI5 und MI6 und der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR. Zwei Rückblenden führen uns nach Berlin 1938 und nach Königsberg 1944-45. Bernie gerät als Ich-Erzähler mehrfach in größte Gefahr, die Wendungen in der Geschichte sind spannend und wunderbar erzählt. Die gute Nachricht: es wird noch zwei weitere Bände der Serie geben, die Kerr vor seinem Tod vollendet hat und in den Jahren 2019/20 auf Deutsch erscheinen werden. Mehr zum Buch: kalter-frieden.html

Klaus Wowereit

Dreizehneinhalb Jahre war er Regierender Bürgermeister von Berlin. Seine beiden berühmtes-ten Sätze sind „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ und „Berlin ist arm, aber sexy“. In seinem Buch „Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin“ zieht Klaus Wowereit dreieinhalb Jahre nach seinem Rücktritt persönliche Bilanz. Sie fällt – abgesehen vom noch nicht eröffneten Flughafen BER – relativ positiv aus. Es geht um die konkurrierenden Parteien in der Stadt, um die Berliner Wirt-schaft, die Problem-Kieze, die Kultur, die Mobilität und den langen Weg zur „Smart City“. – Unter den deutschen Politikern war ich keinem so nahe wie ihm. Er hat mir 2001 den Verdienstorden des Landes Berlin verliehen und 2007 das Bundes-verdienstkreuz, seine Rede bei meiner Verabschiedung aus der Kinema-thek war sehr persönlich und zugeneigt, er hat sich im Lotto-Beirat für viele Anträge der Kinemathek stark gemacht, es gab wenig Konflikte zwischen uns in seiner Zeit als Kultursenator im Nebenamt, er war meine wichtigste Bezugsperson in meinen vier Jahren als Kurator des Hauptstadtkulturfonds. Ich finde sein Buch reflektiert, problembewusst, auch selbstkritisch, ich habe es mit großem Interesse gelesen. Mit 16 farbigen Abbildungsseiten. Mehr zum Buch: dp/3841905102

DER FÖRSTER/DER WILDERER VOM SILBERWALD (1954/57)

Heute ist dieser Film pure No-stalgie. Ein Heimatfilm des Jahres 1954, produziert In Österreich, der Regisseur Alfons Stummer hat als Regisseur drei Filme realisiert: DER FÖRSTER VOM SILBERWALD, WO DIE ALTEN WÄLDER RAUSCHEN (1956) und DER SATAN MIT DEN ROTEN HAAREN (1964). Der Hauptdarsteller Rudolf Lenz (1920-1987) wurde mit diesem Film ein Star. Er hat in vielen Heimatfilmen mitgespielt, aber auch in fünf Filmen von Rainer Werner Fassbinder. Er war in seinen frühen Filmen immer der naturverbundene positive Held. Die Hauptdarstellerin Anita Gutweil drehte danach mit Rudolf Lenz DIE SENNERIN VON ST. KATHRIN (1955, Regie: Herbert B. Fredersdorf), FÖRSTERLIESL (1956, Herbert B. Fredersdorf), DER WILDERER VOM SILBERWALD (1957, Otto Meyer), EINMAL NOCH DIE HEIMAT SEH’N (1958, Otto Meyer) und HEIMAT NACH DIR, MEIN GRÜNES TAL (1960, Hermann Leitner). Rudolf Lenz ist 1987 im Alter von 67 Jahren gestorben, Anita Gutweil (*1931 in Klagenfurt) lebt noch. Die Doppel-DVD, publiziert von den Filmjuwelen, kombiniert den interessanten FÖRSTER VOM SILBERWALD mit dem eher schwachen Fortsetzungsfilm DER WILDERER VOM SILBERWALD, der stärkere kriminalistische Elemente enthält. Informatives Booklet von Reiner Boller. Mehr zur DVD: Der+Förster+vom+Slberwald

Lexikon des internationalen Films 2017

Nun ist das Lexikon des inter-nationalen Films, auf das ich im vergangenen Jahr schon einen Nachruf publiziert habe, doch noch einmal erschienen, und, wer weiß, vielleicht geschieht ja noch ein Wunder… Das Jahr-buch 2017, redaktionell letzt-malig von Horst Peter Koll verantwortet (Mitarbeit: Jörg Gerle), erfüllt alle Ansprüche, die ich an so eine Publikation habe. Horst Peter hat auf 36 Seiten wieder eine Chronik der wichtigsten Filme, der großen Ereignisse und der Abschiede formuliert. Das „Special“ – mit Beiträgen von Holger Twele, Kirsten Taylor, Margret Köhler, Wolfgang Hamdorf, Björn Hayer, Charles Martig, Petra Kammerevert und Reinhard Kleber – ist Europas Kino-filmen gewidmet. Es enthält interessante Texte u.a. über Jean-Pierre und Luc Dardenne, François Ozon, Pedro Almodóvar, Lars von Trier und Michael Haneke. Es folgt auf 376 Seiten das Lexikon der Filme des Jahres 2017. Dokumentiert sind wie immer die „Silberlinge“ (heraus-ragende DVD- und Blu-ray-Editionen) und die Preise der wichtigsten Festivals und Länder. Ein Buch, das man gern in die Hand nimmt. Coverfoto: JAHRHUNDERTFRAUEN. Mehr zum Buch: filmjahr-2017.html

Eine Partie Dame

Dieses Drehbuch der österreichi-schen Autorin Elfriede Jelinek ist nie verfilmt worden. Die erste Fassung entstand 1980, als Regis-seur war der dffb-Absolvent Rainer Boldt vorgesehen, der die Autorin Ende der 70er Jahre in Wien kennengelernt hatte. Produzieren sollte die Firma Common Film, die Boldt 1969 gegründet hatte und seit 1970 mit Helmut Wietz, ebenfalls Absolvent der dffb, unterhielt. Die Finanzierung des Jelinek-Projekts durch Förderungen und Fernseh-beteiligungen scheiterte allerdings endgültig Mitte der 80er Jahre. Jetzt liegt das Drehbuch, herausgegeben von Wolfgang Jacobsen und Helmut Wietz, in gedruckter Form vor, erschienen im Verbrecher Verlag. Es liest sich durchaus spannend. Die Handlung spielt in Wien 1979. Hauptfiguren sind der Lokalbesitzer Andzrej, polnischer Jude, Kommunist, Kopf eines Agentenrings, und die Studentin der Theaterwissenschaft Lisa, die eine obsessive Beziehung zu Andzrej beginnt und damit aus dem Gleis gerät. Es gibt interessante Nebenfiguren: Lisas bisherigen Freund Klaus, ihre Mutter, den Aushelfer in Andzrejs Lokal, Ivan, die russische Emigrantin Janka und viele andere. Die Dialoge sind oft dialektgefärbt. Und natürlich ist die Stadt Wien sehr präsent, ihre Atmosphäre, ihre Lage zwischen Ost und West. Die Geschichte endet brutal. Das Nachwort von Wolfgang Jacobsen vermittelt sehr präzise die Geschichte des Projekts, von dem ich bisher nichts wusste. Mehr zum Buch: book/detail/931

Stanley Kubrick: Photographs

Im Alter von 17 Jahren begann Stanley Kubrick professionell für die Zeitschrift Look zu fotografieren. Von 1946 bis 1950 war er dort festan-gestellt. Sein Thema: New York, die Stadt und die Menschen. Im Museum of the City of New York ist seit Anfang Mai eine Ausstellung mit rund 300 Fotos von Kubrick zu sehen. Im Taschen Verlag erschien der Katalog, der Arbeiten dieses großen Regisseurs zeigt, die uns (mir) bisher nicht zugänglich waren. Es sind auch zahlreiche Fotos publiziert, die bisher nicht veröffentlicht wurden. Die Abfolge ist chronologisch nach dem Datum der Aufnahmen. Der Reproduktion ausgewählter Look-Seiten folgen jeweils Vergrößerungen der Fotos in herausragender Qualität. Ich nenne einfach zehn Stories, die mir besonders gut gefallen haben: „Life and Love in the New York Subway“ (1947, sieben Fotos), „Columbia University“ (1948, 15 Fotos), „Wash Day. A Greenwich Village Self-Service Laundry“ (1948, drei Fotos), „How the Cicus Gets Set“ (1948, 15 Fotos, eins in Farbe), „Prizefighter. Walter Cartier as a Young, Strong Middleweight“ (1949, neun Fotos), „Montgomery Clift. Glamour Boy in Baggy Pants“ (1949, fünf Fotos). „A Dog’s Life in the Big City“ (1949, vier Fotos). „Rocky Graziano. He’s a Good Boy Now“ (1950, acht Fotos). „Leonard Bernstein“ (1950, sechs Fotos). Nicht publiziert bisher: „Naked City“ (1947, sechs Fotos am Set von Jules Dassin). „Shoeshine Boy“ (1947, zehn Fotos des Schuhputzerjungen Mickey), „Rosemary Williams – Showgirl“ (1949, zehn Fotos). Die beiden Texte von Donald Albrecht & Sean Corcoran („Durch ein anderes Objektiv: Stanley Kubricks Fotografien“) und Luc Sante („Stanley Kubrick: Sehen Lernen“) sind auch in deutscher und französischer Sprache abgedruckt. Es wäre wunderbar, wenn diese Ausstellung demnächst nach Berlin käme. Mehr zum Buch: Through-Different/dp/383657232X

Gérard Depardieu

Fünf Jahre – natürlich mit Unterbrechun-gen – hat der französische Zeichner Mathieu Sapin den Schau-spieler Gérard Depardieu „am Rockzipfel“ begleitet – und am Ende ist daraus ein Comicporträt entstanden, das jetzt auch in einer deut-schen Ausgabe bei Reprint erschienen ist. Sapin war vor allem bei verschiedenen Reisen von Depardieu dabei: nach Aserbaid-schan (2012), nach Bayern, Portugal, Katalonien (2015) und nach Moskau (2016). Der Zeichner ist die kleine Person am Rande, der Schauspieler der Koloss im Zentrum. Die Zeichnungen sind originell, Dialoge, Gedanken und Bemerkungen außerhalb der Bilder machen die Lektüre zu einem komplexen Vorgang. Man muss viel lachen, aber es gibt mehr Momente, die berühren und eine erstaunliche Nähe zum Protagonisten herstellen. Essen, Politik, Kleidung, Geld, Sterben, Filmarbeit spielen eine große Rolle. Wunderbar: die Beobachtungen am Set bei den Dreharbeiten zu LE DIVAN DE STALINE von Fanny Ardant mit Depardieu als Stalin. Eine sehr lesenswerte Rezension des Buches hat Georg Seeßlen in epd Film (5/2018) publiziert. Mehr zum Buch: depardieu-kopieren/