Meine Filme des Jahres

Hier sind die für mich wichtigsten Filme des Jahres 2017. Unter den ausländischen Filmen ist meine Nr. 1 der ungarische Film ON BODY AND SOUL von Ildikó Enyedi, der Berlinale-Sieger, der auf wunderbare Weise zwei Traumgeschichten miteinander verbindet, die zwei Menschen zusammenführen, die auf einem Schlachthof in Budapest arbeiten. Meine Nr. 2 ist der amerikanische Film Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan, meine Nr. 3 die finnisch-deutsche Produktion Die andere Seite der Hoffnung von Aki Kaurismäki.

Bei den deutschen Filmen hat mich am meisten  WESTERN von Valeska Grisebach beeindruckt. Der Film erzählt die Geschichte des deutschen Bauarbeiters Meinhard in Bulgarien , der schon viel erlebt hat und auch im tiefen Osten seine Souveränität bewahrt. Kamera: Bernhard Keller, Montage: Bettina Böhler. Nr. 2 ist für mich Casting von Nicolas Wackerbarth, Nr. 3 Aus dem NichTS von Fatih Akin mit der herausragenden Diane Kruger.

Drei Dokumentarfilme stehen auf meiner Jahresbestenliste: Beuys von Andres Veiel, Überleben in Neukölln von Rosa von Praunheim und I AM NOT YOUR NEGRO von Raoul Peck. Ein interessantes Kinojahr!

Filmbuch des Jahres 2017

Als das Buch 1996 im Rowohlt Verlag erschien, war es mein Filmbuch des Jahres. Hanns Zischler hatte sich auf eine Spuren-suche begeben, um speziell die Kinobesuche von Franz Kafka in Prag, Paris, München, Verona und bei anderen Reisen aus Briefen und Tagebüchern zu rekonstruieren. Seine Recherchen führten zu beeindruckenden Ergebnissen. Jetzt ist das Buch, stark überarbeitet, in einer Neuauflage erschienen, und eine beigefügte DVD enthält sechs Filme, die Kafka einstmals gesehen hat und die ihn zum Weinen oder zum Lachen gebracht haben. Noch einmal erkläre ich „Kafka geht ins Kino“  zum Filmbuch des Jahres, weil die Neuausgabe noch größere Qualitäten hat als die Erstausgabe und keine Neuerscheinung damit konkurrieren kann. Mehr zum Buch: 16099&action=edit 

Durch Manhattan

Im Mai 2017 haben der Autor Niklas Maak und die Künstlerin Leanne Shapton zu Fuß Manhattan durchquert, vom Staten Island Ferry Terminal im Süden bis zum Inwood Hill Park im äußersten Norden, sie haben an zwei Tagen eine Strecke von insgesamt 21 Kilometern zurückgelegt. In 107 kleinen Texten erzählt Maak von der Begegnung mit Menschen, von bekannten und weniger bekannten Gebäuden, von der Geschichte Manhattans. Stationen auf ihrem Weg sind u.a. die Beaver Street (mit dem Restaurant ‚Delmonico’s’), die Wall Street, die Liberty Street und der Zucotti Park, die Nassau Street (mit fünf Texten), die Ann Street (mit dem Woolworth Building), die Grand Street (mit dem Zugang zu Chinatown), Little Italy, die Prince Street (mit dem Italiener ‚Fanelli’ und dem Apple Store), die Houston Street (mit den Türmen der NYU), der Washington Square Park, 5th Avenue/East 18th Street (mit sehr speziellem Urban Gardening), Broadway/West 25th Street (man riecht noch, dass hier kürzlich die St. Sava-Kirche abgebrannt ist), der Bryant Park am Time Square, East 43rd Street (mit dem Century Club), 6th Avenue/56th Street (mit dem Blick auf den Trump Tower), der Central Park (mit acht Stationen), West 114th Street (mit der unfertigen Kathedrale Saint John the Devine), der Hancock Place (den der Autor mit einer Reflektion über Edward Hopper verbindet), die Morningside Avenue (Begegnung mit verschiedenen Menschen), die Saint Nicholas Avenue (sie werden Zeugen eines Autounfalls, es gibt aber nur Sachschaden), Amsterdam Avenue/Sugar Hill (mit einem Sozialbau, der nach Thurgood Marshall benannt ist), West 160th Street (mit dem Morris-Jumel Mansion), 192nd Street (wo nur noch Spanisch gesprochen wird), die Dyckman Street Station (mit Informationen über unterschiedliche Lederjacken), Inwood Hill I (mit dem Café ‚Capitol’, wo Musik von Cat Power erklingt), die Subway Station an der 215 Street (wo über dem Harlem River die Lichter angehen und die Reise zu Ende ist). Die Erzählweise von Niklas Maak finde ich phänomenal in ihrer Anschaulichkeit, in den Assoziationen und in der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Die Abbildungen von Leanne Shapton sind mir über weite Strecken zu simpel und plakativ. Ein Übersichtsplan mit der zurückgelegten Route ist beigefügt. Wenn wir je wieder nach New York fahren, werde ich das Buch auf die Reise mitnehmen. Mehr zum Buch: durch-manhattan/978-3-446-25666-8/

Martin Scorsese

Das jüngste Heft der Schweizer Kulturzeitschrift Du (November/ Dezember 2017, Nr. 880) ist dem amerikanischen Regisseur Martin Scorsese gewid-met. Das Editorial stammt vom Chef-redaktor Oliver Prange („Düstere Ironie und mora-lische Mehrdeu-tigkeit“). Martin Scorsese äußert sich zu der Frage „Warum Filme-machen eine Kunst ist“. Er kommt auch in drei Gesprächen zu Wort: das erste stammt aus dem Jahr 1976, geführt von Roger Ebert, Paul Schrader und Scorsese, das zweite aus dem Jahr 1997, als sich Woody Allen und Scorsese in New York trafen, das dritte aus dem Jahr 2008, mit seinem Freund Spike Lee. Susan Vahabzadeh charakterisiert in ihrem Text Scorsese als Dokumentaristen der dunklen Seite des amerikanischen Traums, Jesse Hassenger beschreibt, wie die Zusammenarbeit mit dem Darsteller Leonardo DiCaprio Scorseses Werk verändert hat, Stephen Galloway erzählt die lange Geschichte des Projekts SILENCE, Rick Tetzeli listet mit längeren Zitaten die 85 Filme auf, die den Regisseur geprägt haben; dominant sind Titel von Robert Altman, Roberto Rossellini und Luchino Visconti. Auf Seite 71 wird ausdrücklich auf die Ausstellung des Berliner Museums für Film und Fernsehen hingewiesen, die hier vor vier Jahren stattfand und seither um die Welt wandert. 82 Seiten, im Großformat, mit vielen Abbildungen. Mehr zur Zeitschrift: http://www.du-magazin.com

„Die Zweisamkeit der Einzelgänger“

Dies ist der vierte autobio-grafische Roman des Schauspie-lers Joachim Meyerhoff, ich habe ihn über Weihnachten gelesen, er hat mich – wie die vorangegangenen – sehr beeindruckt. Der Autor blickt diesmal zurück auf die frühen 1990er Jahre und erzählt von seinem existentiellen Spagat zwischen Bielefeld und Dort-mund, als er sich in drei Frauen verliebt: die ehrgeizige und literarisch sehr gebildete Studentin Hanna, die attraktive und lebenslustige Tänzerin Franka und die nachtaktive Bäckerin Ilse. Das Medikament „Hallo Wach“ wird bald zu einem Grundnahrungsmittel, um allen Ansprüchen – auch denen des Theaters – gerecht werden zu können. Gesangsunterricht für die Mitwirkung in „Anatevka“ bringt nicht die erhofften Ergebnisse. In Schillers „Räubern“ spielt er nur die Nebenrolle des Razmann, aber er ist Mitwisser von drei folgenreichen Schreck-schüssen Karl Moors auf die bereits halbblinde Darstellerin der Amalia. Immer wieder gibt es Rückblenden auf Joachims Kindheit und Jugend, deren Personal uns aus den ersten drei Romanen bekannt ist; trauma-tisch: der Tod des mittleren Bruders bei einem Autounfall. Auch die Großeltern werden mehrmals ins Spiel gebracht. Das alles geschieht nicht nur dramaturgisch, sondern auch sprachlich auf hohem Niveau. Ich bin gespannt auf die fünfte Folge von „Alle Toten fliegen hoch“. Mehr zum Buch: 978-3-462-04944-2/

Abschied vom gedruckten „Filmdienst“

Heute ist die letzte gedruckte Ausgabe des Filmdienstes erschienen, nach siebzig Jahren ist Schluss. Das vor-liegende Heft ist aus gegebe-nem Anlass ein besonderes. 26 Autorinnen und Autoren verabschieden sich mit einem persönlichen Text unter der Kafka variierenden Über-schrift „Im Kino gewesen. Geschrieben“. Da liest man wunderbare, zum Teil sehr persönliche Reminiszenzen von Wilfried Reichart an Kino und Heimkino, Michael Ranze an Vincente Minnellis THE BAND WAGON, Ulrich Kriest an Straub-Huillet, Franz Everschor an Filmmusik, Ralf Schenk an das Kino in seiner Kindheit auf dem Dorf, Rainer Gansera an den Filmkritiker Gunter Groll, Alexandra Wach an das Filmmuseum in Amsterdam, Esther Buss an Texte von Maria Lang, Jörg Gerle an den Nachspann oder Claus Löser an das Kino seines Großvaters in Hilbersdorf. Die zwanzig Zeichnungen auf dem Titel (TAXI DRIVER) und im Heft stammen von Wolfgang Diemer. Daniel Kothenschulte macht sich Gedanken darüber, warum das Kino in Vincent van Gogh verliebt ist. Felicitas Kleiner rezensiert Blu-ray und DVD von Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW und gibt der neuen STAR WARS-Episode vier Sterne. Man blättert und liest, freut sich und ist doch traurig, dass dies die letzte Ausgabe sein soll, die man in der Hand hält. „Fürchtet Euch nicht! Große Veränderungen stehen kurz bevor!“ heißt es auf der letzten Umschlagseite. Ja, den Filmdienst gibt es künftig „online“. Und wer eine gedruckte Filmzeitschrift bevorzugt, möge doch epd film abonnieren. Aber das tue ich bereits seit 34 Jahren. Also bedanke ich mich bei Horst Peter Koll, dem scheidenden Chefredakteur der Zeitschrift, für die tolle Arbeit, die er geleistet hat, und lasse es offen, ob und wie oft ich künftig filmdienst.de aufrufen werde.

Im vergangenen Februar habe ich während der Berlinale eine Laudatio auf den Filmdienst gehalten, der damals mit einem „Caligari Filmpreis“ ausgezeichnet wurde. Hier kann man den Text lesen: siebzig-jahre-filmdienst/ 

Salman Rushdie (Weihnachtsgeschenk 11)

Wenn man sich selbst ein Buch zu Weihnachten schenken will, weil man da eine Woche Zeit zum Lesen hat, dann ist der neue Roman von Salman Rushdie dafür bestens geeignet. Er erzählt die spannende Geschichte von Nero Golden und seinen drei Söhnen, die von Bombay nach New York auswandern und dort vielen Gefahren ausgesetzt sind, denn sie werden von äußeren und inneren Feinden verfolgt. Ihr Nachbar ist der Autor und Filmemacher René Unterlinden, dessen Eltern bei einem Auto-unfall sterben, der zu einem Freund der Familie Golden wird und beschließt, über sie einen Film zu drehen. Zu großen Teilen wird die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, aber Perspektivwechsel gehören zur Dramaturgie dieses Buches und erhöhen die Spannung. Eine eigene Ebene ist der Filmgeschichte gewidmet. Sie wird mit unendlich vielen Titeln ins Spiel gebracht, vom CABINET DES DR. CALIGARI über RASHOMON und die APU-Trilogie bis zu PSYCHO, SHAKESPEARE IN LOVE und LA LA LAND; der Autor verfügt in diesem Bereich über einen erstaunlich großen Wissenshorizont. Die Kernhandlung des Romans ist auf die Zeit zwischen 2008 bis 2016 datiert, vom Tag der Amtseinführung des Präsidenten Obama bis zur Wahl des neuen Präsidenten Trump, der im Buch die Rolle des Joker von Gotham City übernimmt. 500 Seiten, von Sabine Herting sehr gut übersetzt, erschienen bei Bertelsmann. Dies ist mein letzter Geschenkvorschlag in diesem Jahr. Mehr zum Buch: e527561.rhd

Filmkalender (Weihnachtsgeschenk 10)

Man kann sich von einem schönen Filmkalender durchs Jahr begleiten lassen. Er erscheint seit vielen Jahren im Schüren Verlag und registriert für jeden Tag die Künstler aus der Film- und Fernsehwelt, die auf die Welt kamen oder sie verlassen haben. Zum Beispiel: Am 1. September wurden 1922 der Schauspieler Vittorio Gass-man, 1939 die Schauspielerin Lily Tomlin, 1944 der Filme-macher Harun Farocki geboren und der Schauspieler Gottfried John starb 2014. Am 29. Juni starben der Komponist Bernard Herman, die Schauspielerinnen Jayne Mansfield und Lana Turner und der Schauspieler Vittorio Gassman, es wurden der Schauspieler Gary Busey und die Schauspielerin Amanda Donohoe geboren. Es ist ein Wechselspiel zwischen Geburt und Tod. Zwischen die Kalendertage sind kleine Texte eingefügt, zum Beispiel über John Carpenter (* 16. Januar 1948), Sergei Eisenstein (22. Januar 1898 – 11. Februar 1948), die Casting-Agentur von William Morris (gegründet 1898), Daniel Brühl (* 16. Juni 1978), Stanley Kubrick (26. Juli 1928 – 7. März 1999), Gillian Anderson (* 9. August 1968), Tim Burton (* 25. August 1958), Samuel L. Jackson (* 21. Dezember 1948). Der Anhang enthält eine Auflistung von Adressen und Hinweise auf Festivals. Die Texte stammen von Daniel Bickermann, Nils Bothmann, Maxi Braun, Werner Busch, Philipp Fernandes do Brito, Marc Hairapetian, Pascal Maslon und Stefanie Schrank. Bild- und Textredaktion: Werner Busch und Nils Bothmann. Ein kleines Büchlein zum Verschenken an Filmfans. Mehr zum Kalender: 55-filmkalender-2018.html

Annette Dittert (Weihnachtsgeschenk 9)

Sie war von 2008 bis 2015 ARD-Korrespondentin London, wir haben ihre Eloquenz und ihren Charme bewundert, wenn sie von der briti-schen Insel berichtet hat. „London Calling“ hieß ihr Video-Blog bei tagesschau.de und ist jetzt ein Buch von Annette Dittert, aus dem man viel über das Denken und Fühlen der Engländer erfährt. In 14 Kapiteln erzählt die Autorin über das Leben in ihren Hausboten Emily und Emilia in Little Venice, über die Straßen von Spitalfields, Ausflüge nach Nordeng-land, die Portobello Road und Notting Hill, über Gärten und Kirchen, die Skepsis der Briten gegenüber Europa, das Königshaus und speziell Prince Charles, über Paddington und den berühmtesten Bären der Welt, über das besondere Verhältnis der Briten zum Sex, den Winter in London, einen Ausflug nach Tissington und einen vergessenen Friedhof. Immer sind die Erzählungen mit Men-schen verbunden, die Annette Dittert trifft, die ihre eigenen Meinungen haben und diese auch offen vertreten. Der Brexit spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Es gibt natürlich Gegner und Befürworter, die Argumente sind nachvollziehbar. Die Sprache des Buches ist lebendig, der Ton meist liebevoll und am Ende weiß man mehr über die Stadt an der Themse und das Land als zuvor. Wir fahren seit vielen Jahren gern nach London. Vielleicht lese ich dieses Buch bei der nächsten Reise noch einmal. Es ist ein wunderbares Weihnachts-geschenk für alle, die sich in ihrer Zuneigung zu London vom Brexit nicht abschrecken lassen. Mehr zum Buch: buch-8943/

Charles Willeford (Weihnachtsgeschenk 8)

Charles Willeford (1919-1988) ist als Schriftsteller vor allem durch seine Kriminalromane bekannt geworden. In den 1980er Jahren publizierte er vier Romane, in denen der glatz-köpfige, schwergewichtige Detektiv Hoke Moseley in Miami sein Protagonist war. 1962 erschien in den USA „Cock-fighter“, die Geschichte des Hahnenkämpfers Frank Mansfield, der durch Unacht-samkeit einen wichtigen Kampf verliert und schwört, nicht mehr zu sprechen, bis er die Auszeich-nung als Hahnenkämpfer des Jahres gewinnt, was ihm am Ende auch gelingt. Geschrieben als stoisch formulierte Ich-Erzählung. 1990 gab es eine deutsche Über-setzung von Rainer Schmidt bei Ullstein, die wir gern gelesen haben. Jetzt hat der Alexander Verlag eine Überarbeitung veröffentlicht, die im Anhang erstmals die Übersetzung von Willefords „Cockfighter Journal“ enthält, einem Tagebuch, das er während der Verfilmung seines Romans durch den New Hollywood-Regisseur Monte Hellman geschrieben hat. Produzent war damals Roger Corman, Willeford hatte das Drehbuch verfasst und trat in einer Nebenrolle als Kampfrichter auf. Sein Text ist so lakonisch und pointiert wie sein Roman. Eine spannende Lektüre und ein schönes Weihnachtsgeschenk für alle, die sich für amerikanische Südstaatenliteratur interessieren und auch noch ein bisschen für New Hollywood. Mehr zum Buch: hahnenkaempfer.html