Kastelau

Der Roman des Schweizer Autors Charles Lewinsky wurde vor sieben Jahren im Verlag Nagel & Kimche publiziert. Jetzt ist bei Diogenes die Taschen-buchausgabe erschienen. Er-zählt wird die fiktive Geschichte eines Filmteams, das im Winter 1944/45 aus dem bombenbe-drohten Berlin in die Idylle des bayerischen Dorfes Kastelau reist, um dort den Film „Lied der Freiheit“ zu drehen. Die Idylle wird zu einem psychischen Kriegsschauplatz, am Ende wird der Drehbuchautor offenbar von einem Schauspieler erschossen. Wir erfahren die Geschichte aus mehreren Perspektiven, wir lesen Interviews, Tagebucheintragungen, Drehbuchauszüge, diverse Dokumente. Die Montage führt zu einer spannenden Lektüre, der Stil der Einzelteile ist sehr unterschiedlich, und der Blick zurück in die Nazizeit ist erstaunlich informativ. -Natürlich erinnern wir uns daran, dass der Autor Erich Kästner die letzten Monate vor Kriegsende mit einem Filmteam in Tirol verbracht hat, um dort das Filmprojekt „Das falsche Gesicht“ zu realisieren. Darüber gibt es seine Tagebuchaufzeichnungen „Notabene 45“. Lewinskys Texte sind pure Fiktion. Mehr zum Buch: kastelau-9783257245936.html

35 Millimeter

Gerade ist die Nummer 42 der Zeitschrift 35 Millimeter er-schienen. Das Heft thematisiert den Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm, also die Zeit zwischen 1927 und 1931. Robert Zion befasst sich mit Fritz Langs Filmen M und DAS TESTA-MENT DES DR. MABUSE. Clemens G. Williges beschreibt den Weg zum Tonfilm in den USA und die Schwierigkeiten einiger Stars, ihre Stimme den neuen Herausforderungen anzupassen. Tonio Klein richtet seinen Blick auf die Filme GET YOUR MAN (1927) und THE WILD PARTY (1929) mit Clara Bow, NOAH’S ARK (1928) von Michael Curtiz und THE LOVE TRAP (1929) von William Wyler. Marco Koch entdeckt die Toneffekte in BLACKMAIL von Alfred Hitchcock. Bernward Knappik feiert René Clair als Meister des Tons. Lars Johansen erinnert an Charlie Chaplins langen Weg zum Tonfilm. Christoph Seelinger beschäftigt sich mit dem Werk von Walter Ruttmann und – in einem langen, beeindruckenden Text – mit dem Einfluss des Futurismus auf den frühen italienischen Tonfilm. Sein Beitrag über die frühen Musikfilme von Germaine Dulac schließt das Thema Stummfilm/Tonfilm ab. Auf sieben Seiten werden dann Blu-rays und DVDs rezensiert. Im zweiten Teil des Heftes gibt es u.a. Beiträge von Lars Johansen über Max Mack, von Clemens H. Williges über Universal Horror (Teil 2), von Matthias Merkelbach über den Film Noir im amerikanischen Fernsehen, von Bernward Knappik über Herbert J. Biberman und seinen Film THE SALT OF THE EARTH (1954), von Carsten Henkelmann über die frühen Jahre des italienischen Regisseurs Umberto Lenzi. Das nächste Heft von 35 Millimeter erscheint im September. In der Titelstory geht es um Tiere im Film. Mehr zur Zeitschrift: 35-millimeter-42-juni-2021/

SCHWESTERLEIN (2020)

Der Film von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond aus der Schweiz lief im Wettbewerb der Berlinale 2020, gewann aber keinen Preis. Weil wir große Fans von Nina Hoss und Lars Eidinger sind und unsere „Schaubühne“ eine wichtige Rolle spielt, hat uns der Film gut gefallen. Erzählt wird die Geschichte der Zwillingsge-schwister Lisa und Sven, die durch eine Erkrankung von Sven zu einer engeren Bindung führt. Lisa lebt als Autorin mit ihrer Familie in der Schweiz, Sven ist Ensemblemitglied an der Berliner „Schaubühne“. Eine aggressive Leukämie-Erkrankung führt zu einer Unterbrechung der Theaterarbeit, sein Regisseur will den „Hamlet“ nicht mit ihm besetzen. Lisa fährt nach Berlin, um ihrem Bruder behilflich zu seine. Sie nimmt ihn mit in die Schweiz, wo es neue Behandlungsmethoden geben soll. Es kommt zu ersten Konflikten in ihrer Familie. Als sich Svens Lage nicht verbessert, begleitet Lisa ihn mit ihren Kindern zurück nach Berlin. Sie schreibt inzwischen an einer Theateradaption von „Hänsel und Gretel“. Am Sterbebett ihres Bruders vollendet sie das Stück. Der Film hat natürlich starke emotionale Momente. Herausragend sind Nina Hoss als Lisa, Lars Eidinger als Sven, Thomas Ostermeier als dessen Freund und Regisseur, Marthe Keller als Mutter von Lisa und Sven. Bei Weltkino ist jetzt die DVD des Films erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: weltkino.de/filme/schwesterlein

Movie Cocktails

Coole Drinks aus legendären Filmen können in diesen heißen Tagen zur Entspannung beitra-gen. 72 Cocktail-Rezepte prä-sentiert das Buch von Will Francis (Text) und Stacey Marsh (Illustrationen). Sie sind alphabetisch geordnet: von Amber Moon aus dem Film MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (1974), getrunken von John Gielgud, bis Zombie aus dem Film TO GILLIAN ON HER 37TH BIRTHDAY (1996), getrunken von Claire Danes. Hier sind noch zehn weitere Empfehlun-gen: Daiquiri aus dem Film OUR MAN IN HAVANNA (1959), getrunken von Alec Guiness, Dubonnet Cocktail aus dem Film TOOTSIE (1982), getrunken von Dustin Hoffman, French 75 aus dem Film CASABLANCA (1942) getrunken von Humphrey Bogart, Kir Royal aus dem Film THE PHILADELPHIA STORY (1940), getrunken von Katharine Hepburn, Manhattan aus dem Film SOME LIKE IT HOT (1959), getrunken von Marilyn Monroe, Mississippi Punch aus dem Film BREAKFAST AT TIFFANY’S, getrunken von Audrey Hepburn, Rob Roy aus dem Film ANGELS OVER BROADWAY (1940), getrunken von Rita Hayworth, Scotch Mist aus dem Film THE BIG SLEEP (1946), getrunken von Lauren Bacall, Singapore Sling aus dem Film FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS (1998), getrunken von Johnny Depp, Vodka Gimlet aus dem Film ABOUT SCHMIDT (2002), getrunken von Jack Nicholson. Jedem Drink und jeder Person sind zwei Seiten gewidmet: mit Rezept und Geschichte des Drinks, Handlung des Films und gezeichnetem Porträt. „Cheers!“. Mehr zum Buch: Will-Francis/Prestel/e584863.rhd

Alienität und Alterität

Eine Dissertation, die an der Westfälischen Wilhelms-Uni-versität Münster entstanden ist. Sarah Brauckmann untersucht darin Raumkonzepte in den Filmen David Leans und fragt nach der Identitätssuche der handelnden Personen. Vier Filme des Regisseurs werden detailliert untersucht: der Kriegsfilm THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI (1957) nach dem Roman von Pierre Boulle, das Historienepos LAWRENCE OF ARABIA (1962), das russi-sche Liebesdrama DOCTOR ZHIVAGO (1965) nach dem Roman von Boris Pasternak und der Historienfilm A PASSAGE TO INDIA (1984) nach dem Roman von Edward Morgan Forster. Jede Analyse beginnt mit „Befunden einer Annäherung“ an Räume und Grenzen. Es folgen „Die sujetlose Ebene“ und „Die sujethafte Ebene“. Am Ende steht jeweils eine raumseman-tische Auswertung. Alle vier Analysen haben einen Umfang von je rund achtzig Seiten und erschließen die Filme konkret und bildgenau. Die Inszenierungsqualitäten des Regisseurs werden deutlich, auch Kamera-führung und Montage stehen im Blickpunkt. Der Text hat ein hohes theoretisches Niveau. Mit 100 kleinen Abbildungen in sehr guter Qualität. Coverfoto: LAWRENCE OF ARABIA. Mehr zum Buch: 673-alienitaet-und-alteritaet.html

Cinépassion – Coming of Age

„Cinépassion“ ist eine Veran-staltungsreihe in Zürich, bei der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker Filme mit einer fachlichen Einführung zeigen und diskutieren. Zum vierten Mal ist jetzt ein Band mit den (überarbeiteten) Texten erschienen. Thema: Coming of Age. Zwanzig Filme wurden vorgeführt, die dokumentierten Texte sind jeweils zehn oder elf Seiten lang und öffnen den Blick für den psychischen Hinter-grund. Die zwölf Referentinnen und Referenten sind fast durchweg in einer eigenen Praxis in Zürich tätig. Jeweils drei Texte stammen von Yvonne Frenzel Ganz, Markus Fäh und Andrea Kager. Dies sind die ausgewählten Filme: L’ENFANT D’EN HAUT (2012) von Ursula Meier, FISH TANK (2009) von Andrea Arnold, STAR (2014) von Anna Melikyan, MOMMY (2014) von Xavier Dolan, THE LOVELY BONES (2009) von Peter Jackson, BILLY ELLIOT (2000) von Stephen Daldry, LA HAINE (1995) von Mathieu Kassovitz, BULLY (2001) von Larry Clark, DAS WEISSE BAND (2005) von Michael Haneke, ATONEMENT (2007) von Joe Wright, DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (2015) von Stina Werenfels, DIE FREMDE (2010) von Feo Aladag, HOME (2008) von Ursula Meier, A CLOCKWORK ORANGE (1971) von Stanley Kubrick, THE RETURN (2003) von Andrej Swjaginzew, ABRIT PUERTAS VENTANAS (2011) von Milagros Mumenthaler, ENTRE LES MURS (2008) von Laurent Cantet, PERSEPOLIS (2007) von Vincent Paronnaud und Marjane Satrapi, THE DREAMERS (2003) von Bernardo Bertolucci und WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN (2011) von Lynne Ramsay. Interessante Lektüre. Coverfoto: THE DREAMERS. Mehr zum Buch: product_info.php/products_id/2992

Einladung zum Schreiben

Vor zwei Jahren hat Doris Dörrie das schöne Buch „Lesen, Schreiben, Atmen“ publiziert, autobiografische Geschichten, die zu einer Einladung an den Leser werden, selbst zu schrei-ben. Ihr neues Buch ist eine praktische Konsequenz daraus. Fünfzig kleine und große Themen werden von ihr mit kurzen Stichworten auf einer Seite vorgegeben, dann folgen drei liniierte Seiten, auf denen man selbst seine Gedanken oder Erinnerungen handschriftlich formulieren soll. Zehn Minuten, so ist der Ratschlag, soll man sich dafür am Tag Zeit nehmen. Inspi-rierende Themen sind u. a. Gummibärchen – Wunden und Narben – Haare – Dunkelheit – Musik – Erdbeeren – Glück – Reisen – Tod – Schlafen – Farben – Geschenke. Da kann einem viel einfallen, man muss nur den Mut haben anzufangen. Morgen? Oder in der kommen-den Woche? Wir werden sehen. Mehr zum Buch: einladung-zum-schreiben-9783257071108.html

WIE IM HIMMEL (2004) / WIE AUF ERDEN (2015)

Der schwedische Regisseur Kay Pollack hatte nach der Ermor-dung des Ministerpräsidenten Olof Palme 1986 keinen Film mehr gedreht, weil dieser nach einem Kinobesuch umgebracht worden war. 2004 drehte Pollack dann den Film WIE IM HIMMEL, der höchst emotional die Lebensgeschichte des Diri-genten Daniel Daréus erzählt. In kurzen Rückblenden erleben wir seine Kindheit und Jugend, er wächst vaterlos auf, seine musikalische Begabung wird entdeckt, seine Mutter stirbt bei einem Autounfall. Als Mittvierziger ist er ein Stardirigent, erleidet aber bei einem Konzert einen Herzinfarkt und zieht sich in sein Heimatdorf zurück. Dort übernimmt er als Kantor die Leitung des Kirchenchors. Er ist bei den Mitgliedern sehr beliebt, wird aber vom Pfarrer bekämpft. Sein Chor wird zu einem Gastspiel in Österreich eingeladen und reist mit dem Bus nach Innsbruck. Am Nachmittag vor dem Konzert fährt Daréus mit dem Fahrrad durch die Stadt, vergisst die Zeit und überanstrengt sich. Er erleidet auf der Toilette des Veranstaltungsortes seinen zweiten Infarkt, der Chor singt ohne Leitung, der Dirigent stirbt. In die Handlung sind noch andere dramatische Vorgänge eingefügt. Es gibt viele gewaltsame Konflikte, die positive Botschaft heißt: Zusammenhalt macht stark. Der Film hat beeindruckende Momente, Daniel Daréus ist mit Mikael Nyqvist gut besetzt. 2015 hat Kay Pollack eine Fortsetzung gedreht: WIE IM HIMMEL. Hier übernimmt Lena, die Freundin von Daréus, die Führungsposition und gibt dem Chor eine Wiederbelebung. Die emotionale Stärke des ersten Films wird nicht erreicht. Bei Studio Canal sind jetzt Blu-rays der beiden Filme erschienen. Mehr dazu: wie_im_himmel-wie_auf_erden-special_edition-blu-ray

Commissario Brunettis 30. Fall

In jedem Frühjahr überrascht uns Donna Leon mit einer neuen Ermittlung ihres Commissario Brunetti in Venedig. „Flüchtiges Begehren“ heißt der 30. Roman, der gerade bei Diogenes erschienen ist. Zwei Amerikanerinnen machen mit zwei jungen Venezianern in der frühen Nacht eine Spritztour in die Lagune, das Boot fährt gegen einen Pfahl, die beiden Amerikanerinnen verletzen sich schwer und werden von ihren Begleitern auf den Steg des Ospedale gelegt. Warum wurde nicht die Notaufnahme benachrichtigt? Guido Brunetti macht sich auf die Suche nach den Bootsführern und entdeckt als Hauptschuldigen einen machthungrigen und geldgierigen Onkel, der grausamen Menschenhandel betreibt. Spannende Lektüre und außerdem eine gute Einstimmung, wenn man gerade nach Venedig fährt. – 26 Romane von Donna Leon sind inzwischen verfilmt worden, zuletzt STILLE WASSER (2019). Und damit geht die Reihe vorerst zu Ende, denn der Brunetti-Darsteller Uwe Kockisch, inzwischen 77 Jahre alt, hat sich von der Rolle verabschiedet. Als Vorbereitung unserer Venedig-Reise haben wir noch einmal drei Folgen gesehen, die uns wieder gut gefallen haben. Schon bei der ersten Einstellung – Blick aus der Luft über die Stadt, begleitet von André Rieus Titelmusik – geht einem das Herz auf. Natürlich ist man mit dem Personal bestens vertraut, neben Uwe Kockisch sind das vor allem Julia Jäger als seine Frau Paola, Michael Degen als Vice-Questore Patta, Karl Fischer als Sergente Vianello, Annett Renneberg als Assistentin Elettra. Die Regie von Sigi Rothemund ist professionell. Aber entscheidend ist der Schauplatz: Venedig. Schade, dass die Filmreihe nicht fortgesetzt wird. Hoffentlich kann Donna Leon (*1942) noch lange schreiben. Mehr zum Buch: https://www.diogenes.ch/microsites/donnaleon.html

Ohne Rücksicht auf Verluste

Die Bild-Zeitung, 1952 vom Verlag Axel Springer gegründet, ist das auflagenstärkste Presse-organ in der Bundesrepublik. Mit täglich mehr als fünf Millio-nen Exemplaren erreichte ihre Auflage Mitte der 1980 den Höhepunkt. Inzwischen werden nur noch 1,1 Millionen in ge-druckter Form verkauft. Der Einfluss auf die Meinungsbil-dung ist weiterhin groß. Mats Schönauer und Moritz Tscher-mak dokumentieren in ihrem Buch „Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet“. 14 Kapitel strukturieren den Text: Bild und ihre Feindbilder – Bild unter Julian Reichelt – Bild und ihre Leser – Bild und Politik – Bild und Migration – Bild und Rechts-populisten – Bild und die Justiz – Bild und Frauen – Bild und Hartz IV – Bild und Sport – Bild und ihre TV-Pläne – Bild und ihre Opfer – Interview mit einem Betroffenen – Bild und die Kritik. Die beiden Autoren, als Bildblogger mit der Zeitung bestens vertraut, kritisieren vehement die journalistische Arbeit von Bild und belegen dies mit unendlich vielen Beispielen. Mit der Übernahme der Chefredaktion durch Julian Reichelt ist die thematische Politisierung deutlich stärker geworden. Seit Günter Wallraffs Buch „Der Aufmacher – Der Mann, der bei Bild Hans Esser war“ (1977) hat sich kein Buch so fundamental mit der Zeitung beschäftigt. Mit einem Nachwort von Kevin Kühnert, der 2018 selbst zum Opfer der Bild-Zeitung wurde. Mehr zum Buch: ohne-ruecksicht-auf-verluste-9783462053548