Die Brüder Dardenne

Die belgischen Brüder Jean-Pierre (*1951) und Luc (*1954) Dardenne sind in den letzten zehn Jahren in die Spitzengruppe des europäischen Autorenkinos vorgedrungen. Ich bewundere ihre Filme. Der Mainzer Filmwissenschaftler Gregory Mohr analysiert mit großer Sensibilität und Genauigkeit vier Dardenne-Filme: LA PROMESSE (DAS VERSPRECHEN, 1996), ROSETTA (1999), LE FILS (DER SOHN, 2002) und L’ENFANT (DAS KIND, 2005). Ausgehend von einer wissenschaftlich abgesicherten Realismusdefinition beschreibt Mohr zunächst den Stil der Dardennes, ihren Umgang mit Laiendarstellern, Kamera und Licht, Musik und Montage. Dann geht es um die Inhalte, um disfunktionale Familien, Lebensräume (die Filme spielen alle in der belgischen Stadt Seraing), um Arbeit und Geld. Der Autor kommt in der konkreten Analyse den Absichten der Dardenne-Brüder sehr nahe. Am Anfang und am Ende verarbeitet er – aus meiner Sicht – ein bisschen zuviel Sekundärliteratur. Acht Fotos, gut ausgewählt, trennen die Hauptteile des Buches. Titelbild: Emilie Dequenne als ROSETTA. Band 64 der „Filmstudien“, die jetzt von Norbert Grob und Oksana Bulgakowa herausgegeben werden und zum Nomos-Verlag gewandert sind. Mehr zum Buch: aspx?product=19554.

Westeuropäisches Kino

Der Band enthält neun Beiträge zur Tagung „Singulär Plural Sein. Fragen und Formen der Gemeinschaft im westeuropäischen Kino“ (2009). Die „Gemeinschaft“ vor allem des französischen, italienischen und westdeutschen Films dominiert die Fragestellungen und wird in der Einleitung aufgelöst. Die Mehrzahl der Texte ächzt unter ihren philophischen Ansprüchen. Dennoch sind für mich mindestens vier sehr lesenswert: Thomas Elsaessers Reflexionen über Jean-Luc Nancy, Claire Denis und den Film BEAU TRAVAIL, Pierre Sorlins Gedanken zum italienischen Neorealismus, Daniel Illgers Überlegungen zum Paradigma der Stadtinszenierung im italienischen Nachkriegskino und Ilka Brombachs Bewertungen speziell der Beiträge von Kluge und Fassbinder zu DEUTSCHLAND IM HERBST. Auch Gertrud Kochs Hinweise auf Kluges ABSCHIED VON GESTERN und Fechners DER PROZESS als westdeutsche Geschichts- und Rechtserzählungen sind – bei aller Verkürzung – nützlich. Mehr zum Buch: utn1550bd0e99c1fea/shopdata/index.shopscript

Filmklassiker der 90er

Fünf Kilogramm, zwei Bände im Schuber, 760 Seiten, 144 „Lieblings-filme“ aus den 1990er Jahren. Es war das Jahrzehnt von THELMA AND LOUISE, SCHINDLER’S LIST, SHORT CUTS, FARGO, TITANIC und GLADIATOR. Aber auch von LEBEWOHL, MEINE KONKUBINE, DER BEWEGTE MANN, LOLA RENNT und ALLES ÜBER MEINE MUTTER. Zu jedem Film gibt es Bilder und Texte auf vier bis acht Seiten. Erinnerungsarbeit. Die Basisfarbe ist Schwarz, die bunten Bilder dominieren. Da denkt man an die Dekadenbände, die ebenfalls von Jürgen Müller herausgegeben wurden. Und, in der Tat, über weite Strecken ist das schwere Stück identisch mit dem Band „Filme der 90er Jahre“, der 2001 erschien. Nur etwas größer im Format, zweigeteilt und bei rund zehn Titeln aktualisiert. Das erklärt den moderaten Preis von 39,99 €. Mehr zum Buch: facts.filmklassiker_der_90er.htm .

Prekäre Obsession

Prekariat, Inklusion und Minoritäts-diskurs gehörten zu Fassbinders Zeit nicht einmal bei Wissen-schaftlern zum Verständigungs-vokabular. Für das Buch sind sie Basisbegriffe. Es handelt sich um einen Sammelband aus dem Sonderforschungs-bereich „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“. 17 Autorinnen und Autoren untersuchen in 15 Aufsätzen Rainer Werner Fassbinders Umgang mit den Randbereichen der Gesellschaft. Es geht um Gewalt, Sadomasochismus, Körper der Minderheiten, Pathos der Fremdheit, Behinderung, jüdische Kapitalisten, Queerness, homosexuelle Minoritäten, Kriegs- und Holocaustnarrative, Terroristen und die Politik des Ästhetischen. Die für die Analysen herangezogenen Filme sind LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, WHITY, KATZELMACHER, ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, FONTANE EFFI BRIEST und MARTHA, CHINESISCHES ROULETTE, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, LILLI MARLEEN und DIE DRITTE GENERATION. Natürlich sind die Texte höchst unterschiedlich im Stil und in der Komplexität. Nicht immer sind die wissenschaftlichen Absicherungen lesefreundlich. Mehr zum Buch: www.transcript-verlag.de/ts1623/ts1623.php

Psychoanalytiker im Spielfilm

Auf der Suche nach Klischees und Stereotypen analysiert die Soziologin Silvia Herb neun amerikanische Filme aus den Jahren 1980 bis 2005: DRESSED TO KILL (Brian de Palma, 1980), ORDINARY PEOPLE (Robert Redford, 1980), ZELIG (Woody Allen, 1983), NUTS (Martin Ritt, 1987), HOUSE OF GAMES (David Mamet, 1987), WHAT ABOUT BOB? (Frank Oz, 1991), FINAL ANALYSIS (Phil Joanou, 1992), ANALYZE THIS (Harold Ramis, 1999) und PRIME (Ben Youngster, 2005). Analog zur Cartoon-Forschung findet sie natürlich die dominanten Erkennungsmerkmale: männliches Geschlecht, Couch/Sessel, Brille, Notizblock, Diplome an der Wand, Bart und Ähnlichkeit mit Freud. Aber es geht auch um das Verhältnis zwischen Wissen und Macht, um Empathie und um Interaktionsbeziehungen zwischen Nähe und Distanz. Die Autorin bleibt – DVD macht’s möglich – ganz nah an den Filmen, kann ihre Beobachtungen sehr konkret vermitteln und leistet damit ihren Beitrag zum Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Gesellschaft. Auch wissenschaftlich ist sie auf sicherem Terrain. Mehr zum Buch: psychosozial/details.php?p_id=2173

Arno Schmidt und das Kino

Er war ein kultur-pessimistischer Sprachkünstler, ein avantgardistischer Erzähler, ein leidenschaftlicher Fotograf und hatte schon zu Lebzeiten eine gut organisierte Fangemeinde. Arno Schmidt (1914-1979) gilt als einer der Großen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Über seine Affinität zum Film und zum Kino war bisher wenig bekannt, weil er als Verächter alles Populären und Trivialen galt. Der Literaturwissenschaftler Guido Erol Öztanil, mit dem Schmidt-Werk bestens vertraut, hat sich auf intensive Spurensuche begeben und dabei erstaunliche Entdeckungen gemacht. In der Kindheit, in der Schule, in der Hamburger Zeit hatten Filme eine große Bedeutung für den späteren Autor, die sich als Subtext vor allem Frühwerk wiederfindet. In den 1960er Jahren hat Arno Schmidt in Bargfeld auch alte Filme im Fernsehen (ARD, ZDF und Deutscher Fernsehfunk) gesehen. Öztanil zieht dafür 330 Ausgaben der Zeitschrift Fernsehtag mit Ankreuzungen aus dem Nachlass heran. Für Filmbesuche in der Jugend (Schmidts Mutter war kinosüchtig) und in der Zeit bis 1945 gibt es viele andere verlässliche Quellen. Intensiv lässt sich Öztanil auf einige Filme ein: den vierteiligen FRIDERICUS REX (1921-23) von Arzen von Cserépy, Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (1924), die Expeditionsfilme ABU MARKÚB (1925) von Bengt Berg und vor allem DAS GROSS WEISSE SCHWEIGEN (1924) von Herbert George Ponting über Captain Scotts Todesfahrt zum Südpol. Ein eigenes Kapitel handelt von der ersten Bilderliebe zu der Schauspielerin Lya Mara. Mit umfänglichem Anhang, einer „Filmographie Arno Schmidt“, Quellenhinweisen und unendlich vielen Fotos. Ein bewundernswertes Werk, wichtig für die Literaturgeschichte wie die Filmgeschichte. Mehr über das Buch: details&id=457.

Film im Zeitalter Neuer Medien II

Digitalität und Kino ist ein angesagtes Thema. In den zehn Aufsätzen dieses Buches werden viele technische Vorgänge, funktionale Veränderungen und mediale Folgen dargestellt. Nach der grundlegenden Einführung des Herausgebers Segeberg folgen drei Teile: 1. Strategien der Digitalisierung, 2. Effekte der D. und 3. Praktiken der D. Zu den Autorinnen und Autoren gehören übliche Verdächtige: Jan Distelmeyer, Martin Doll, Jens Eder, Barbara Flückinger, Franziska Heller, Markus Kuhn, Rüdiger Maulko. Sehr lesenswert sind die Ausätze über computer-generierte Figuren in BENJAMIN BUTTON und AVATAR (Flückinger) und digitale Figuren in Kinofilm und Computerspiel (Eder/Jan-Noel Thon). Bei manchen Texten verirrt man sich leicht im Labyrinth der Sekundärliteratur. Mehr zum Buch: 978-3-7705-5327-3.html

Max Steiner

Er war einer der großen Filmkom-ponisten, der die Entwicklung des Tonfilms stark beeinflusst und den Sound großer Hollywood-Klassiker geprägt hat, beginnend mit KING KONG (1933) über GONE WITH THE WIND bis zu A DISTANT TRUMPET (1964).  Max Steiner (1888-1971), geboren in Wien, ging 1929 nach Hollywood und hat die Musik zu mehr als 300 amerikanischen Filmen geschrieben. Er war 21mal für den Oscar nominiert und hat ihn dreimal gewonnen. Seine Autobiografie ist unveröffentlicht, jetzt hat der Komponist und Autor Peter Wegele ein sehr informatives Buch über Steiner geschrieben, das dreigeteilt ist. Zunächst geht es, etwas allgemeiner, um die Entwicklung der Filmmusik in der Übergangszeit von den 20er zu den 30er Jahren. Dann folgt die Steinersche Lebengeschichte mit vielen bisher unbekannten Details. Der dritte Teil ist speziell dem Film CASABLANCA gewidmet, den Steiner selbst nicht sehr gemocht hat, weil er zu einem Teil vorhandene Melodien verwenden musste, so zum Beispiel das berühmte „As Time Goes By“, das von Herman Hupfeld für eine Broadwayshow komponiert worden war. Wegeles musikalische Analysen sind sachverständig und konkret. Er hat sich intensiv mit Steiner beschäftigt und nimmt auch den Nichtsachverständigen auf die Reise mit. Für John-Ford-Fans: Steiner war einer seiner Lieblingskomponisten, bekam für THE INFORMER einen Oscar und schrieb die Musik zu THE SEARCHERS. Das Buch ist sorgfältig ediert, hat einen umfänglichen Anhang und all meine Sympathien. www.boehlau-verlag.com/978-3-205-78801-0.html

Der zweite Blick

Ein Luxusbuch. Der Verleger Axel Menges, bekannt für ungewöhn-liche, in der Regel zweisprachige Publikationen, lässt den Literaturwissenschaftler Konrad Kirsch einen „zweiten Blick“ auf fünf Filme werfen: zwei von Ridley Scott (BLADE RUNNER und GLADIATOR), je einen von Alfred Hitchcock (THE BIRDS), Blake Edwards (THE PARTY) und Stefan Ruzowitzky (ANATOMIE). Der Autor interessiert sich für die Entdeckung von Korrespondenzen innerhalb der Filme oder Bezüge zu Mythen, Gemälden, historischen Ereignissen, anderen Filmen. Von einem „700-lagigen Kuchen“ habe Scott bei BLADE RUNNER gesprochen. Durch diesen Kuchen frisst sich Kirsch mit großem Bildungsappetit. Die 160 Seiten werden real zu 80, weil der Text links in Deutsch und rechts in Englisch abgedruckt ist. Andererseits sind die Bilder meist etwas klein geraten. Mehr zum Buch: A-Second-Look.pdf . Axel Menges schätze ich vor allem als Verleger der Bücher von Hans Dieter Schaal (Architekt der Ständigen Ausstellung des Museums für Film und Fernsehen). So will ich nicht versäumen, auf eine neue Schaal-Publikation hinzuweisen, die auch einen Blick in „unser“ Filmmuseum wirft: Schaal_Work-in-Progress.pdf?&PU=Menges.

DEFA-Dokumentaristen

„Das Prinzip Neugier“ heißt ein umfäng-liches Buch, in dem 21 Dokumentarfilmer der DEFA über ihr Leben und ihre Arbeit, ihre Erfolge und Schwierigkeiten erzählen. Es ist Oral History der besten Art. O-Ton, wie er lesenswert ist, wenn zugeneigt und sachkundig gefragt wird. Ingrid Poss, einst Dokumentarfilmerin bei der DFEA, heute Autorin, hat das Buch initiiert; sie wurde unterstützt von Christiane Mückenberger und Anne Richter, als Herausgeber fungiert das Filmmuseum Potsdam. Die Gespräche fanden fast alle 2010/2011 statt, nur das Interview mit Karl Gass stammt aus dem Jahr 1998. Die von vielen verehrte Vaterfigur des DDR-Dokumentarfilms starb 2009. Auch Kurt Maetzig, DEFA-Mitgründer und Dokumentarist bis 1950, ist inzwischen tot. Die Reihenfolge der Gespräche ist nach den Geburtsjahren der Protagonisten geordnet (nur Barbara Junge hat man nicht von ihrem acht Jahre älteren Ehemann Winfried getrennt). Erzählt werden Lebengeschichten: Herkunft, Ausbildung, Affinitäten zum Film, Arbeit bei der DEFA, Verhältnis zur Politik, eigener Lieblingsfilm – und dann geht es um die persönlichen Folgen der Wende, also die Trennung von der abgewickelten DEFA, die Versuche einer Neuorientierung, die beruflichen Schwierigkeiten, auch die Verbindungen zu Kollegen und immer die Schlussfrage „Was war die DEFA für Dich?“ Das Erinnerungsvermögen der Befragten ist in vielen Fällen phänomenal; vielleicht weil Dokumentaristen ein gutes Gedächtnis haben müssen. Die Antworten sind in der Regel reflektiert. Man hört – zum Beispiel bei Jürgen Böttcher, Winfried Junge und Volker Koepp, die ich am besten kenne – die Stimme.

Noch der Hinweis auf ein Buch, das 1969 erschien, redaktionell verantwortet u.a. von Rolf Liebmann: Filmdokumentaristen der DDR (über Annelie und Andrew Thorndike, Joachim Hellwig, Walter Heynowski, Gerhard Scheumann, Max Jaap, Heinz Fischer, Joachim Hadaschik, Heinz Müller, Wolfgang Bartsch, Harry Hornig, Peter Ulbrich, Joop Huisken, Karl Gass, Winfried Junge, Jürgen Böttcher, Gitta Nickel, Karlheinz Mund). Es ist interessant, die Porträts aus heutiger Sicht zu lesen. Und noch immer lesenswert ist das Buch von Ralf Schenk und Günter Jordan: Schwarzweiß und Farbe. DEFA-Dokumentarfilme 1946-92. Jovis Verlag, Berlin 1996.