Österreich real

Vierzig Jahre österreichischer Dokumentarfilm werden in 25 Essays und 54 kürzeren Texten präsent gemacht. Dies erfolgt nicht in chronologischer Form, sondern tangential, in Grenz-gängen, mit dem Blick auf Orte, auf Geschichte und Gegenwart, auf Genres. Zu den Autorinnen und Autoren der Essays gehö-ren Brigitte Mayr und Michael Omasta, Nanna Heidenreich, Joachim Schätz, Dominik Kamalzadeh, Christa Blüm-linger, Mattias Wittmann, Claudia Slanar, Bert Rebhandl, Vrääth Öhner, Sebastian Höglinger, Astrid Peterle, Dominique Gromes, Stefan Grissemann, Isabella Reicher, Peter Schernhuber, Esther Buss, Lukas Foerster, Carolin Weidner, Friederike Horstmann, Florian Widegger, Sebastian Markt, Stefanie Diekmann und Cristina Nord. Die Texte haben ein hohes Niveau. Mit über 300 Abbildungen in sehr guter Qualität. Ein herausragendes Buch über unser Nachbarland, dessen Dokumentarfilme ich sehr schätze. Mehr zum Buch: www.filmarchiv.at/bestellen/shop/oesterreich-real/

Der Dreh von Inkarnation

Der Roman des englischen Autors Tom McCarthy erzählt die Geschichte der Produktion des Science-Fiction-Films Inkarnation. Sie ist technisch kompliziert, weil alle gedrehten Szenen Bild für Bild digital überarbeitet werden. Dies geschieht bei der Firma Panta rhei. Verantwortlich dafür ist der Mitarbeiter Marc Phocan, der eng mit einer Anwaltsfirma zusammenarbeitet, die sich mit Copyright beschäftigt. Eine zweite wichtige Figur ist die junge Anwältin Monica Dean, die das Lebenswerk der Organisationspsychologin Lillian Evelyn Gilbreth über Bewegungsabläufe erschließt. Eine entscheidende Box im Nachlass fehlt. Es gibt aber weltweit noch andere Schauplätze: in Riga begegnet Phocan einem ehemaligen sowjetischen Wissenschaftler, der mit Gilbreth kommuniziert hat, in Rom findet ein Kongress von Sportsoziologen statt, in London tagen Anwälte zum Thema Copyright, in Windkanälen üben österreichische Bobfahrer. Die Arbeit am Weltraumabenteuerfilm dauert natürlich länger als erwartet. McCarthy verbindet die Schauplätze und die Personen zu einem komplexen Netzwerk, das spannend zu lesen ist. Mehr zum Buch: der-dreh-von-inkarnation-t-9783518431238

Menschenbilder in István Szabós Filmwerk

Eine Dissertation, die an der Ludwig-Maximilian-Universität in München entstanden ist. Ingrid Glatz-Anderegg erforscht darin religiöse Motive und anthropologische Deutungen im Filmwerk des ungarischen Regisseurs István Szabó. Sieben Filme werden detailliert analysiert: das Kindheitsdrama VATER (1966), der historische Budapest-Film ZIMMER OHNE AUSGANG (1980), das Biopic HANUSSEN (1988), der Lehrerin-Film SÜSSE EMMA, LIEBE BÖBE (1992), die Roman-Verfilmung HINTER DER TÜR (2012) und der Arzt-Film ABSCHLUSSBERICHT (2020). Es geht um Figuren, Bildgestaltung, Religion, Geschichte, Der Text ist reflexiv und öffnet den Blick auf das Gesamtwerk von István Szabó. Abbildungen in guter Qualität konkretisieren ihn. Sehr lesenswert. Coverabbildung: István Szabó bei der Arbeit mit Helen Mirren für den Film HINTER DER TÜR. Mehr zum Buch: 743-menschenbilder-in-istvan-szabos-filmwerk.html

Eröffnung Cannes

In Cannes werden heute die 76. Internationalen Film-festspiele eröffnet. Im Wettbewerb um die „Gol-dene Palme“ konkurrieren 21 Filme. Sie stammen u. a. von Wes Anderson, Marco Bellocchio, Jonathan Glazer, Jessica Hausner, Todd Haynes, Aki Kaurismäki, Ken Loach, Nanni Moretti, Alice Rohrwacher und Wim Wenders. Eröffnungsfilm ist das Historiendrama JEANNE DU BARRY von Maiwenn mit Johnny Depp in der Rolle Ludwig des XV. Außer Konkurrenz sind der neue INDIANA JONES-Film von James Mangold und KILLERS OF THE FLOWER MOON von Martin Scorsese zu sehen. Jury-Präsident ist der schwedische Regisseur Ruben Östlund. Michael Douglas wird mit dem Ehrenpreis des Festivals ausgezeichnet. Als neue Präsidentin des Festivals fungiert Iris Knobloch, künstleri-scher Leiter ist weiterhin Thierry Frémaux. Das Festival endet mit der Preisvergabe am 27. Mai. Mehr zum Programm: les-films-de-la-selection-officielle-2023/

PASSAGIERE DER NACHT (2022)

Der französische Film von Mikhael Hers führt uns zurück in das Jahr 1981. In Paris ist gerade der neue Präsident François Mitterand gewählt worden. Talulah, ein heimat-loser Teenager, trifft in der Stadt ein. Und Elisabeth, Mutter der fast erwachsenen Kinder Matthias und Judith, wird von ihrem Mann verlassen. Sie sucht sich einen Job, landet bei der Late-Night-Sendung „Passagiere der Nacht“, zuerst als Telefonistin, dann wird sie zu einer der Moderatorinnen. Dort trifft sie auf Talulah, die sie zu sich nach Hause einlädt. Fortan hat sie sich um drei Kinder zu kümmern. Es gibt Konflikte, zum Beispiel die Drogensucht von Talulah, aber Elisabeth behält die Übersicht. Einmal gehen Talulah, Matthias und Judith gemeinsam ins Kino. Sie sehen den Film VOLLMONDNÄCHTE von Eric Rohmer. Ein schöner Moment. Elisabeth spürt am Ende, dass ihre Kinder erwachsen geworden sind. Wie wird ihre Zukunft aussehen? Der Film ist wunderbar erzählt, die Hauptrollen spielen Charlotte Gainsbourgh (Elisabeth), Noée Abita (Talulah), Quito Rayon Richter (Matthias) und Megan Northam (Judith). Bei eksysten ist jetzt die DVD des Films erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: heksystent.com/passagieredernacht.html

Verleihung Deutscher Filmpreis

Heute Abend werden im Thea-ter am Potsdamer Platz die Deutschen Filmpreise, genannt „Lolas“, des Jahres 2023 ver-liehen. Mit zwölf Nominierun-gen ist der Film IM WESTEN NICHTS NEUES von Edward Berger auch ein Favorit für die „Goldene Lola“. In sieben Kategorien ist der Film DAS LEHRERZIMMER von Ilker Catak nominiert. Völlig un-verständlich ist für mich, dass der Film ROTER HIMMEL von Christian Petzold, für mich der beste deutsche Film des Jahres, draußen vor bleibt. Er kam nicht einmal in die Vorauswahl. Das hat die Diskussion über den Vergabemodus des Deutschen Filmpreises durch die Mitglieder der Deutschen Filmakademie neu entfacht. Moderiert wird der Abend von Jasmin Shakeri. Wunderbar, dass Volker Schlöndorff endlich den Ehrenpreis bekommt. Die Veran-staltung ist ab 19 Uhr als Livestream zu sehen in der ZDF-Mediathek. Mehr zu den Nominierungen: deutscher-filmpreis.de/preisverleihung/2023/

Mean Baby

Die amerikanische Schau-spielerin Selma Blair (*1972) wurde mit Filmen wie CRUEL INTENTIONS (1999), LEGALLY BLONDE und STORY TELLING (2001), HELLBOY (2004) international bekannt. In ihrem Memoir „Mean Baby“ erzählt sie Geschichten aus ihrem Leben, die sie geprägt haben oder für Entscheidungen wichtig waren. Sie stammt aus einer jüdischen Familie, war schon in ihrer Jugend oft betrunken, wollte eigentlich Fotografin werden, nahm dann aber Schauspiel-unterricht und machte Karriere. 1999 gehörte sie zu den Opfern sexueller Belästigung des Regisseurs James Toback. 2018 erkrankte sie an Multipler Sklerose und machte dies öffentlich bekannt. Sie war mehrfach liiert und hat einen elfjährigen Sohn Arthur. Über die Höhen und Tiefen ihres Lebens schreibt Selma Blair mit großer Empathie, schildert viele Details und weckt unser Mitgefühl. Zahlreiche Abbildungen konkretisieren ihren Text. Lesenswert. Mehr zum Buch: mvg/shop/article/23848-mean-baby/

Resignation ist kein Gesichtspunkt

„Politische Reden und Feuille-tons“ von Erich Kästner. Elf Texte stammen aus der Zeit zwischen 1924 und 1930, 32 aus den Jahren 1945 bis 1970. Viele sind hier zum ersten Mal ver-öffentlicht. Gleich der zweite Text, „Der Staat als Gouver-nante“, setzt ein Zeichen. Es geht um das Verbot des sow-jetischen Films PANZER-KREUZER POTEMKIN. „Warum hat der Staat Angst vorm politischen Kunstwerk? Er sieht in ihm ein staatsgefährliches Agitationsmittel. Und ist im Irrtum.“ Sehr lesenswert: „Was Berlin an neuen Filmen sieht“ (1927). Zunächst werden drei Filme aus dem Rheingau und MEIN HEIDELBERG, ICH KANN DICH NICHT VERGESSEN, ironisch abgefertigt. „Der einzige deutsche Filme, der auch in Amerika Anklang finden könnte, ist DER HIMMEL AUF ERDEN mit Reinhold Schünzel als Regisseur und Hauptdarsteller. Ein erfolgreicher Vorstoß in das Gebiet der Gesellschaftssatire.“ Größtes Lob bekommt der amerikanische Kriegsfilm RIVALEN von Raoul Walsh: „Dieser Film ist Kunstwerk und Bekenntnis zugleich“. In den Texten aus der Zeit zwischen 1945 und 1970 geht es u.a. um den Nürnberger Prozess (1945/46), das drohende „Schmutz- und Schundgesetz“ (1950), die Ziele des PEN-Clubs (1952), das Verbrennen von Büchern (1958), den Ostermarsch 1961, und die Eröffnung der Buchausstellung B’nai B’rith (1970). Die Lektüre aller Texte ist beeindruckend. Mit einem Nachwort des Herausgebers Sven Hanuschek. Mehr zum Buch: resignation-ist-kein-gesichtspunkt-955505?verlag=atrium

Die Anime Bibliothek

Der japanische Zeichentrick-film, genannt Anime, hat in den vergangenen Jahrzehnten eine herausragende Qualität erreicht. Zurzeit ist bei uns im Kino der Film SUZUME von Makoto Shinkai zu sehen, sehr zu empfehlen Mein Anime-Lieblingsfilm ist CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND von Hayao Miyazaki, der 2002 den „Goldenen Bären“ der Berlinale gewann. Das Buch „Die Anime Bibliothek“ von Michael Leader und Jake Cunningham führt uns durch 65 Jahre Anime und öffnet den Blick auf dreißig ausgewählte Filme, beginnend mit ERZÄHLUNGEN EINER WEISSEN SCHLANGE (1958) von Taiji Yabushita, endend mit BELLE (2021) von Mamoru Hosoda. Auch ein früher Film von Hayao Miyazaki ist dabei: DAS SCHLOSS DES CAGLIOSTRO (1979). Die Texte sind mit großer Kompetenz formuliert, die Abbildungen haben eine sehr gute Qualität. Eine schöne Erweiterung meiner Filmbibliothek. Mehr zum Buch: die-anime-bibliothek-ydghib002

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN (2022)

Der Film von Hans-Christian Schmid schildert die Entfüh-rung von Jan Philipp Reemtsma 1996 aus der Perspektive seines Sohnes Johann, der damals 13 Jahre alt war. Die Öffentlichkeit wird über den Vorgang nicht informiert, Johann und seine Mutter Ann Katrin werden zuhause von der Polizei und einem Anwalt betreut. Es gibt Verbindungen zu den Entfüh-rern, aber die von denen ver-langte Geldübergabe zögert sich wochenlang hinaus. Für Johann ist dies eine schwierige Zeit, in der er sich in der Schule abkapselt und zuhause möglichst nur mit seiner Mutter spricht. Es gibt ein glückliches Ende. Der Film ist als psychologisches Drama hervorragend inszeniert, die beiden Hauptrollen sind mit Claude Heinrich (Johannes) und Adina Vetter (Ann Katrin) sehr gut besetzt. Auch wenn man weiß, wie die Geschichte damals ausgegangen ist, sieht man den Film mit großer Spannung. Bei Pandora gibt es jetzt DVD und Blu-Ray des Films. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: wir-sind-dann-wohl-die-angehoerigen.html