30. April 2013
Hitchcock und die Künste
Der Herausgeber Henry Keazor (*1965) ist Kunsthistoriker an der Universität Heidelberg. Im Winter 2011/12 hat er in Saarbrücken eine Ringvorlesung über Hitchcock und die Künste veranstaltet, deren Vorträge hier gesammelt sind. Eine lohnende Lektüre. In den Texten geht es um Hitchcock und seine Literaturadaptionen (Barbara Damm), um das Londoner Theater der 1920er und 30er Jahre (Beatrix Hesse), den MARNIEschen Blick auf Vermeer (Thierry Greub), die Gebäude in Hitchcock-Filmen (Steven Jacob), Hitchcocks Einfluss auf die Entwicklung der Filmmusik (Claudia Bullerjahn), um Choreografien von Traumata (Katja Erdmann-Rajski), Hitchcocks Filme im Spiegel zeitgenössischer Videoinstallationen (Ursula Frohne), um Korrelationen zwischen Essen, Sexualität und Tod in H.’s Filmen (Gregor Weber), um Fisch-Frauen (Anne Martinetti, unterstützt vom Herausgeber; mit Fisch-Rezepten) und um Angstlust als psychische Wirkung der Filme (Alf Gerlach). Keazor hat eine umfängliche Einleitung beigesteuert und ein Gespräch mit dem Künstler Benjamin Samuel über sein Werk Hitchcock30 geführt, das im Frankfurter Filmmuseum ausgestellt war. Die Abbildungen des Buches, oft sehr klein, sind hervorragend gedruckt. Wer noch mehr über Hitchcock und die Kunst erfahren will: 2001 erschien in Montreal ein Katalog zur Ausstellung „Hitchcock and Art“, herausgegeben von Dominique Paini und Guy Cogeval. Mehr zum Buch von Keazor: hitchcock-und-die-kuenste.html
27. April 2013
TAXI DRIVER (1975)
Wieder ein großes, schweres Buch aus dem Taschen Verlag. 25 x 37 cm, drei Kilo, 400 Seiten. Diesmal geht es nur um einen Film: TAXI DRIVER (1975) von Martin Scorsese. Aber im Werk von Scorsese, das noch bis 12. Mai in einer Ausstellung des Museums für Film und Fernsehen in Berlin gewürdigt wird, ist TAXI DRIVER ein besonderer Höhepunkt. Und wenn man das Buch mit den Fotos von Steve Schapiro durch-blättert, wird einem noch einmal klar, wie tief Scorsese in die psychischen Deformationen eines Einzelgängers im New York der siebziger Jahre eingedrungen ist und welche Kraft Robert De Niro in die Darstellung seines Travis Bickle investiert hat. Die Fotos, schwarzweiß und Farbe, oft zweiseitig, haben eine eigene Dimension und scheuen auch vor der Abbildung von Grausamkeit nicht zurück. Herausgegeben von Paul Duncan, mit einem kurzen Vorwort von Martin Scorsese und Texten/Interviews aus der Produktionszeit von Scorsese, Autor Paul Schrader und Robert De Niro. Die Ausgabe ist mehrsprachig (englisch/französisch/deutsch) und für Scorsese-Fans unverzichtbar. Mehr zum Buch: taxi_driver.htm.
23. April 2013
Carl Laemmle – zwei Biografien
Carl Laemmle (1867-1939) war eine Schlüsselfigur der Gründungs-geschichte des amerikanischen Kinos; er stammte aus dem schwäbischen Laupheim, wanderte 1884 in die USA aus, machte den bilderbuchhaften Aufstieg vom Laufburschen für einen Drugstore zum Geschäftsführer einer Textil-firma, wurde ein Kinopionier in Chicago und gründete 1912 die „Universal Motion Picture Manufacturing Company“, die Ende der 1910er Jahre als „Universal Pictures“ zu den „Big Five“ in Hollywood gehörte. Über Laemmles Lebensgeschichte hat Hans Beller vor dreißig Jahren einen schönen zweiteiligen Dokumentarfilm gedreht. Zeitgleich in diesem Frühjahr sind jetzt zwei Biografien über Laemmle erschienen, die beide ihre Qualitäten haben. Udo Bayer, Historiker mit Wohnsitz in Laupheim, fühlt sich als offizieller Laemmle-Biograf, ist mit den Nachkommen und der Familiengeschichte aufs engste vertraut und schöpft aus archivarischer Fülle. In zwölf Kapiteln breitet er das Laemmle-Leben und die beruflichen Entwicklungen vor uns aus. In den Zitaten wird viel Originalton vermittelt. Laemmles jüdische Herkunft, die politischen Erfahrungen im Amerika der Jahrhundertwende und während des Ersten Weltkriegs, in den Zwanziger Jahren und nach der Machtergreifung der Nazis werden ausführlich thematisiert. Ein eigenes Kapitel ist der amerikanischen Einwanderungspolitik und Laemmles „Affidavits“ (Bürgschaftserklärungen) gewidmet. Mit 891 Fußnoten und Anmerkungen ist der Quellenreichtum beeindruckend belegt. In der Darstellung gibt es Redundanzen. Die Biografie der Kulturwissenschaftlerin und Filmhistorikerin Cristina Stanca-Mustea basiert auf ihrer Dissertation. Die Autorin ist geschickt in der Komprimierung des Stoffes, schreibt flüssig und verlegt längere Zitate in den Anmerkungs-teil; sie kommt auch mit 159 Fuß-noten aus. In der bewundernden Verneigung vor ihrem Protago-nisten unterscheiden sich die beiden Bücher nicht. Die doppelte Würdigung von Carl Laemmle ist zwar überraschend, aber er hat sie verdient. Mehr zum Buch von Uo Bayer: op8eanmdp71. Mehr zum Buch von Stanca-Mustea: buch/carl-laemmle.
22. April 2013
Horst Buchholz
In den 1950er Jahren wurde er zu einem Star in der Bundesrepublik, in den Sechzigern machte er interna-tional Karriere, aber er stand sich bei der Auswahl der Rollen oft selbst im Wege, hatte Misserfolge und fand zwischen Kino, Theater und Fernsehen keinen festen Platz. Horst Buchholz (1933-2003) war ein sprachgewandter,hoch begabter und vielseitiger Schauspieler. Als seine wichtigsten Filme bleiben HIMMEL OHNE STERNE (1955), DIE HALBSTARKEN (1956), BEKENNT-NISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL (1957), DAS TOTENSCHIFF (1959), THE MAGNIFICENT SEVEN (1960), ONE, TWO, THREE (1961) und LA VITA È BELLA (1997) in Erinnerung. Er starb vor zehn Jahren in Berlin. Werner Sudendorf, Leiter der Sammlungen der Deutschen Kinemathek, hat jetzt eine sehr lesenswerte Biografie über den Schauspieler publiziert, die nicht nur – mit Hilfe des verfügbaren Nachlasses – hervorragend recherchiert ist, sondern auch eine Bewertung der Filme aus heutiger Sicht wagt. Der aktuelle Blick bringt lohnende Erkenntnisse. Der Text ist seinem Protagonisten sehr zugeneigt, thematisiert aber auch unverständliche Entscheidungen und die Wahl falscher Rollen. Auch das Privatleben ist nicht ausgespart. Vor allem die Darstellung der letzten Jahre in Berlin schmerzt, wenn man sie mit beobachtet hat. Hilfreich für den Autor war die Aufgeschlossenheit von Myriam Bru-Buchholz und Christopher Buchholz. Ein beeindruckender Band in der inzwischen langen Biografien-Reihe des Berliner Aufbau Verlages. Mehr zum Buch: verfuhrer-und-rebell-horst-buchholz.html
20. April 2013
Was Sie schon immer über Kino wissen wollten…
Es sind viele Fragen, die in diesem Buch von dem cinephilen Film- und Literaturkritiker Stefan Volk beantwortet werden. Fragen nach Superlativen (den besten, den teuersten, den erfolgreichsten Filmen und den größten Flops), nach den bekanntesten Filmzitaten, den berühmtesten Tieren auf der Leinwand, den lustigsten Filmtiteln und den schönsten Liebeserklärungen. Der Autor hat sein Material in Kapiteln strukturiert, ein eigenes ist Woody Allen gewidmet, ein anderes James Bond und zwei heißen schlicht „Dies und das“. Das längste handelt vom Oscar, und hier findet sich auch eine nützliche Tabelle mit allen Verleihungen von 1929 bis 2013 mit Datum, Veranstaltungsort, Moderation, Anzahl der Kategorien und bestem Film. Es geht ansonsten um Filmfehler und Filmklischees, um bekannte Schauspieler, die während einer Filmproduktion gestorben sind, um alternative Schlüsse (Happyend oder kein Happyend) und um die 27 Grafen von Monte Christo. Entbehrlich finde ich die Kapitel über Scientologen in Hollywood und die Goldenen Himbeeren. Dies ist im Übrigen kein Buch zum kontinuierlichen Lesen, sondern zum Blättern und Stöbern. Am Ende findet man eine Liste aller Listen, Tabellen und Texte im Überblick. Mehr zum Buch: was-sie-schon-immer-ueber-kino-wissen-wollten.html
18. April 2013
Leben und Sterben des Philip Werner Sauber
Philip Werner Sauber (*1947) war Schweizer Bürger, gehörte zum zweiten Jahrgang der Filmakademie in Berlin (dffb), schloss sich der „Bewegung 2. Juni“ an und starb am 9. Mai 1975 nach einem Schusswechsel mit der Polizei in Köln. Der Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ von Ulrike Edschmid (*1940) erzählt sein Leben so genau, authentisch und zugeneigt, wie es nur aus einer großen, erfahrenen Nähe möglich ist. Die beschriebene Zeit liegt inzwischen vierzig Jahre zurück. Sie ist in vielen Dokumenten und Fiktionali-sierungen rekonstruiert worden, aber wohl noch nie aus so unmittelbarer Innensicht, mit so viel emotionaler und reflexiver Identifikation. Auch wenn sich die Wege von Ulrike E. und Philip S. 1972 langsam trennten und ihn sein unabdingbarer Gerechtigkeitssinn in den Untergrund trieb, blieben Verbindungen bestehen. Ulrike hat ab 1969 selbst an der dffb studiert, die Produktionsmittel genutzt, sich aus den politischen Debatten der Akademie aber eher herausgehalten. Philip war immer wieder in seiner zurückhaltenden Art im Schneideraum oder im Trickstudio präsent. Ich kann mich an Begegnungen im Büro von Helene Schwarz erinnern, und auch sein Film DER EINSAME WANDERER (1968) ist mir im Gedächtnis. Philips Verschwinden haben wir in der DFFB wahrgenommen, sein Ende hat uns schockiert. Eine große Rolle spielt in Ulrike Edschmids Roman ihr damals kleiner Sohn Sebastian (*1965) aus der kurzen Ehe mit Enzio Edschmid. Um ihn hat sich Philip offenbar wie ein junger Vater gekümmert, aber das hat ihn nicht von seinem konsequenten Weg zurückhalten können. Es ist vielleicht mehr als eine biografisch-familiäre Pointe, dass Sebastian Edschmid ab 1992 an der dffb studiert hat. Eine lesenswerte Rezension des Buches von Ulrike Edschmid hat Verena Lueken in der FAZ publiziert: einer-nimmt-seinen-koffer-und-geht-12138537.html. Mehr zum Buch: ulrike_edschmid_42349.html
03. April 2013
Historien- und Kostümfilm
Ein neuer Band in Thomas Koebners Reihe „Filmgenres“ bei Reclam. Es ist inzwischen der 15., als Gastherausgeber fungieren Fabienne Liptay und Matthias Bauer, es ist ein besonders gelungener Band. 72 Filmtitel nennt das Inhalts-verzeichnis, und weil bei einigen historischen Personen verschiedene Versionen behandelt werden, sind es eigentlich mehr. Die Reihenfolge ist chronologisch, sie beginnt mit INTOLERANCE (1916) von D. W. Griffith und endet mit MARIE ANTOINETTE (2006) von Sofia Coppola. 33 Autorinnen und Autoren waren am Werk. Ursula von Keitz unternimmt eine sehr sachkundige Passage durch zwanzig Napoleon-Darstellungen von 1903 bis 2002, was ein bisschen auf Kosten des je einzelnen Films geht. Armin Jäger arbeitet sich entsprechend an zehn Jesus-Christus-Filmen der Jahre 1912 bis 2004 ab, Fabienne Liptay hat neun Filme über Elizabeth I. zu bewältigen und Michael Grisko acht über die Jungfrau von Orleans. Gut gefallen haben mir u.a. die Texte von Michelle Koch über Josef von Bakys MÜNCH-HAUSEN, von Qin Hu über Zang Yimous ROTE LATERNE, von Julia Gerdes über Jane Campions PIANO und Marina May über Mamoulians KÖNIGIN CHRISTINE. Aber ich müsste eigentlich noch mindestens zwanzig andere nennen, die bewundernswert konkret die Filme in Erinnerung rufen. Es sind viele Protagonisten der „Mainzer Schule“ dabei. Die Bildauswahl ist sparsam, wie immer in der Reihe, aber dafür haben die Bildtexte ihre eigene Qualität. Ein Defizit ist für mich nur das Fehlen eines deutschen Lubitsch-Films. MADAME DUBARRY, ANNA BOLEYN oder SUMURUN hätten sich angeboten. Mehr zum Buch: Filmgenres__Historien__und_Kostuemfilm
30. März 2013
Vier Texte von Alexander Sokurov
Seine Schriften haben einen eigenen, unverwechselbaren Stil, sie sind sehr subjektiv, hier und da auch philosophisch, gleichzeitig abstrakt und konkret. Vier Texte des russischen Regisseurs Alexander Sokurov (*1951) hat jetzt Hans-Joachim Schlegel in einem schmalen lesenswerten Buch bei Schirmer/Mosel publiziert und ihnen ein kluges Nachwort hinzugefügt. Sie spannen einen Bogen zwischen Japan und Sokurovs Heimat, sind elegische Mitteilungen, Momentaufnahmen, beschreiben Japan nicht als geografischen, sondern als „emotionalen Raum“. Besonders gut haben mir die Fragmente aus dem „Japanischen Tagebuch“ (1999) gefallen, die während der Vorbereitung und Drehzeit des Films DOLCE entstanden. Sie thematisieren zum Beispiel die Farbe, den Geruch und – sehr dramatisch – die Erlebnisse während eines Taifuns. Die Filmarbeit wird dabei immer wieder zum Ausgangspunkt genereller Überlegungen. Mehr zum Buch: Sokurov_Japan.pdf.
27. März 2013
Über das gegenwärtige deutsche Kino
Für das internationale Ansehen des deutschen Films ist es nützlich, wenn im Ausland mit Sachverstand und Zuneigung über ihn geschrieben wird. Auch wenn der Effekt solcher Publikationen begrenzt ist, sollten wir sie mit Sympathie zur Kenntnis nehmen. Paul Cooke (*1969) ist Professor für German Cultural Studies an der University of Leeds. Sein Buch „Contemporary German Cinema“ erschien im vergangenen Jahr und ist eine komprimierte und sehr informative Zustandsbeschrei-bung. Im Mittelpunkt steht dabei der Film der Nuller Jahre. Cooke strukturiert sein Thema in sieben Kapitel. Zunächst klärt er die ja nicht leicht zu vermittelnden Finanzierungsfragen mit den speziellen Förderungseffekten in der Bundesrepublik. Dann geht es um die unterschiedlichen Abbildungen von Realität (Andreas Dresen und, als eine Art Gegenpol, die „Berliner Schule“). Natürlich ist ein umfangreiches Kapitel der Darstellung von deutscher Geschichte gewidmet (DER UNTERGANG, DAS LEBEN DER ANDEREN), das sich anschließend erweitert in den Themen politische Nachbarschaft (LICHTER) und multikulturelle Erfahrung (GEGEN DIE WAND). Als spezieller Aspekt wird das Thema Filme von Frauen (FREMDE HAUT, KIRSCHBLÜTEN) und über Frauen (DIE UNBERÜHRBARE) behandelt. Dann geht es um die Brücke nach Amerika (SCHULTZE GETS THE BLUES) und am Ende um neue Formen des Heimatfilms (WER FRÜHER STIRBT IST LÄNGER TOD, DAS WEISSE BAND). Cooke ist nicht nur sachkundig, er kommt auch zu differenzierten Urteilen. Das Titelbild stammt aus dem Film BERLIN CALLING von Hannes Stöhr. Die Druckqualität der rund 50 Abbildungen im Buch ist leider grenzwertig. Mehr zum Buch: 9780719076190
26. März 2013
Hollywood in Deutschland
Immer wieder wird davon ausgegangen, dass es eine Dominanz des Hollywoodkinos in Deutschland schon in den 1920er Jahren gab, die sich in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik fortgesetzt hat und Dank der Blockbuster bis in die Gegenwart anhält. Joseph Garncarz (*1957) hat in seiner Kölner Habilitationsschrift systematisch die Publikums-interessen ab 1925 erforscht und dabei festgestellt, dass erst in den 1970er Jahren eine Präferenz des amerikanischen Films in der internationalen Kinokultur nachweisbar ist. In den 50er Jahren kamen die Kassenhits noch überwiegend aus der BRD, in den Sechzigern aus den europäischen Nachbarländern. Die Kino-Erfolgranglisten, die im Anhang abgedruckt sind, belegen die Thesen von Garncarz nachdrücklich. Natürlich hat das vor allem mit der Abwanderung großer Zuschauermengen zum Fernsehen und mit dem Generationswechsel beim Kinopublikum zu tun. Erst seit dem Inkrafttreten des Filmförderungsgesetzes 1968 gibt es im Übrigen verlässliche Daten über Besucherzahlen, die Recherchen von Garncarz für die Zeit davor waren mühsam und aufwendig. Sie sind in der Konsequenz aufschlussreich, führen aber nicht zu einer generellen Neubewertung der Filmgeschichte. Mehr zum Buch: buecher_H_658_1/