KÖRPER UND SEELE (2017)

2017 hat dieser ungarische Film den „Goldenen Bären“ der Berli-nale gewonnen. Ich finde ihn hervorragend und freue mich, dass er inzwischen bei Alamode als DVD erschienen ist. Die Autorin und Regisseurin Ildikó Enyedi erzählt die Geschichte der sehr verschlossenen neuen Qualitätsprüferin Mária und des introvertierten Finanzdirektors Endre auf einem Schlachthof. Ein Diebstahl im Betrieb, die Ermittlungen der Polizei und der Einsatz einer Psychologin führen zu der überraschenden Ent-deckung, dass Mariá und Endre nachts die gleichen Träume haben, bei denen im winterlichen Wald eine Hirschkuh und ein Hirsch auf der Nahrungssuche eine große Nähe zueinander entwickeln. Die psycho-logischen Erkenntnisse führen zu einem Interesse der autistischen Mariá und des menschenscheuen Endre füreinander, das nach einigen Komplikationen in einer Liebesbeziehung mündet. Am Morgen der gemeinsam verbrachten Nacht stellen sie fest, dass sie beide nicht geträumt haben. Alexandra Borbély als Maria und Géza Morcsányi als Endres spielen ihre Rollen wunderbar, die Kameraführung von Máté Herbai mischt Realismus auf dem Schlachthof und Poesie im ver-schneiten Wald in einer sehr eigenen Weise. Der Film ist unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: koerper-und-seele.html Thomas Koebner hat in seinem Buch „Vom Träumen im Film“ den Film klug interpretiert.

Bert Haanstra

Er war einer der Großen des hol-ländischen Films. Bert Haan-stra (1916-1997) hat Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme gedreht, 1959 für FANFARE die „Goldene Palme“ in Cannes und 1960 einen Oscar für GLAS als besten dokumentarischen Kurz-film gewonnen. 2001 gab es im Babylon, 2007 im Arsenal Haanstra-Retrospektiven. Jetzt haben Rainhard May, Annette K. Schulz und Anke Steinborn im Pro Universitate Verlag ein sehr lesenswertes Buch über Haanstra publiziert: „Panta Rhei – wie’s fließt, bestimme ich“. Es enthält kurze Beiträge seiner Söhne Rimko und Jurre, Aufsätze, die ihn in einen Kontext setzen, darunter ein beeindruckender Essay von Rainhard May über sein Gesamtwerk, Texte von Arnold Hubbers über Haanstras Anfänge bei Forum Filmproducties und von Piet Dirkx über Haanstra und die Filmmusik. 16 Beiträge sind „Annäherungen“ an einzelne Filme. Besonders gut gefallen haben mir die Texte von Anke Steinborn über PANTA RHEI, von Evke Rulffes über REMBRANDT, von Wolfgang Thiel über GLAS, von Rainhard May über FANFARE, von Clea Hildebrandt über ZOO, von Annette K. Schulz über ALLEMAN, von Ute Gunnesch über DR. PULDER ZAAIT PAPAVERS. Alle Beiträge haben ein hohes Niveau und begründen ihre Bewunderung für Haanstra. Mit vorwiegend kleinen Abbildungen in guter Qualität. Es gibt auch einige Haanstra-Filme auf DVD. Mehr zum Buch: bert+haanstra

Die Filme von Aleksandr Sokurov

Eine Dissertation, die an der Ludwig-Maximilian-Universität in München entstanden ist. Mara Rusch untersucht darin die Filme von Aleksandr Sokurov im Blick auf die russisch-europä-ische Geschichte. Sokurov (*1951) gehört zu den wichtig-sten Regisseuren der Gegenwart, er hat Dokumentar- und Spielfilme gedreht, sein FAUST-Film wurde 2011 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausge-zeichnet. Seinen Spielfilm RUSSIAN ARK hat er 2002 in einer einzigen Einstellung in der Eremitage in St. Petersburg gedreht. Neun Filme tragen das Wort Elegie im Titel. Strukturiert in drei Kapitel (Ausstellungsstücke – Tetralogie der Tyrannen – Archiv-material) analysiert die Autorin Sokurovs Umgang mit Bildern, findet Analogien in der Kunstgeschichte, stellt Verbindungen im europäischen Zusammenhang her. Besonders beeindruckt hat mich das Kapitel über die Tyrannen-Tetralogie: den Hitler-Film MOLOCH (1999), den Lenin-Film DER STIER (2000), den Hirohito-Film DIE SONNE (2004) und den FAUST-Film. Mit 601 Quellenverweisen ist der Text wissenschaftlich abgesichert, aber dennoch gut zu lesen, auch wenn man nicht alle Filme des Regisseurs gesehen hat. Ein Interview von Mara Rusch mit Sokurov steht am Ende des Bandes, gefolgt von einer detaillierten Filmografie. Abbildungen in akzeptabler Qualität. Coverabbildung: FRANCOFONIA (2015). Mehr zum Buch: W46Zhen-BW8

Dialog

Robert McKee (*1941) lehrt weltweit, wie man kreativ Dreh-bücher verfasst. Sein berühmtes-tes Buch, „Story“, wurde in über zwanzig Sprachen publiziert. Jetzt ist ein neues Werk von ihm erschienen: „Dialog – Wie man seinen Figuren eine Stimme gibt“. Es richtet den Fokus auf die sprachliche Kommunikation der Figuren. In vier Teilen geht es um „Die Kunst des Dialogs“, „Fehler und ihre Behebung“, „Dialogentwicklung“ und „Dialog-Design“. Zunächst formuliert der Autor Defini-tionen, Funktionen und Aufgaben des Dialogs. Dann macht er durch konkrete Beispiele deutlich, wo es aus seiner Sicht Glaubwürdigkeits-fehler, Sprachfehler, inhaltliche Fehler und Design-Fehler gibt. Fallbeispiele sind für ihn Theaterstücke, Romane, Erzählungen, Filme, Fernsehserien, zum Beispiel die Tragödie „Julius Caesar“ von William Shakespeare, der von Steven Soderberg verfilmte Roman „Out of Sight“ von Elmore Leonard, die Comedy-Serie 30 ROCK, der Film SIDEWAYS von Alexander Payne nach dem Roman von Rex Pickett, die HBO-Serie DIE SOPRANOS, das Theaterstück „A Raisin in the Sun“ von Lorraine Hansberry, die NBC-Sitcom FRASIER, der Roman „The Great Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, der Film LOST IN TRANSLATION von Sofia Coppola. McKees detaillierte Szenen-Analysen sind beeindruckend in ihrer Präzision und überzeugend in der Bewertung. Wie schön, dass dieses Buch so hervorragend von Tanja Handels ins Deutsche übersetzt wurde und jetzt im Alexander Verlag erschienen ist. Nicht nur als „Handbuch für Autoren“ lesenswert. Mehr zum Buch: wie-man-seinen-figuren-eine-stimme-gibt.html

Filmerbe

Der Band dokumentiert die Bei-träge zu einem Symposium, das im Mai 2017 vom neu gegrün-deten Filminstitut Hannover veranstaltet worden ist. Das Thema hieß: „Bewegte Spuren – Historische Filmdokumente in Wissenschaft und Medienpra-xis“. Die Herausgeber Peter Stettner und Wilfried Köpke haben eine Einleitung formu-liert. Abdurrahman Kaynar definiert zunächst den Begriff „Filmerbe“. Dirk Alt äußert sich zu Quellenwert und Manipu-lierbarkeit historischer Film-aufnahmen. Peter Stettner bewertet regionalgeschichtliche Filmdokumente am Beispiel von Hannover. Bei Sabine Schlegelmilch geht es um Blickkonzepte in Filmdokumenten des klinischen Alltags. Michael Sutor erinnert an die historischen Naturfilme von Heinz Sielmann (GALAPAGOS). Dem Schaffen des Dokumentarfilmers Rudolf Walter Klipp ist ein Gemeinschaftsbeitrag gewidmet. Thomas Schaubauer äußert sich zu historischen Filmaufnahmen in investigativen Formaten. Ulrike Brenning reflektiert über „Die Ästhetik des Vergangenen“. Wilfried Köpke problematisiert das Reenactment im Fernsehdokumentarismus. Fabian Sickenberger stellt in seinem für mich besonders lesenswerten Beitrag fest, was man „Von den Großen lernen“ kann: von Peter von Zahn, der Stuttgarter Schule, Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner, Horst Königstein und Heinrich Breloer, Hans-Dieter Grabe und Georg Stefan Troller. Fabian Schmieder informiert über den historischen Film im Urheberrecht. Detlef Endewand setzt sich mit der historisch-kritischen Filmanalyse im schulischen Geschichtsunterricht auseinander. Viele interessante Informationen zu einem wichtigen Thema. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Erschienen im Herbert von Halem Verlag. Mehr zum Buch: filmerbe/

FÄHRMANN MARIA (1936)

Das Heide-Drama von Frank Wysbar mit Sybille Schmitz erzählt die Geschichte einer jungen Frau in vergangener Zeit an unbestimmtem Ort, die sich als Fährmann betätigt, einen verwundeten jungen Mann rettet, sich in ihn verliebt und ihn in einer waghalsigen Aktion vor dem Tod rettet, der als Person in Erscheinung tritt. Der von Franz Weihmayr wunderbar fotogra-fierte Film weckt Assoziationen an Fritz Langs DER MÜDE TOD und Murnaus NOSFERATU. Aribert Mog spielt den jungen Mann und Peter Voss den Tod. Herausragend ist Sybille Schmitz in der Titelrolle. In der Reihe „Kulleraugen“ ist jetzt ein Heft erschienen, das detailliert über die Produktionshintergründe des Films informiert und mit einer Fotoserie von Brigitte Tast die Stimmung des Films und die Landschaften, die dabei eine große Rolle spielen, in Erinnerung ruft. Die Premiere von FÄHRMANN MARIA fand am 7. Januar 1936 in den Hildesheimer „Bernward-Lichtspielen“ statt. Sybille Schmitz konnte daran nicht teilnehmen, weil sie erkrankt war. – In der Galerie für klassische und zeitgenössische Fotografie FOTHOYA in Hoya findet zurzeit die Ausstellung „Memories are made for this“ als Hommage an die Schauspielerinnen Sybille Schmitz und Rosel Zech statt. Mehr zum Heft: Kulleraugen+Fährmann+Maria

Babelsberger Freiheiten

Das Archiv der Babelsberger Filmhochschule (heute: Film-universität) ist eine Schatz-kammer mit rund 1.700 Aus-bildungsarbeiten der früheren Studentinnen und Studenten. Welche Perlen sich darunter befinden, kann man feststellen, wenn man sich die von Ilka Brombach ausgewählten 19 zumeist kurzen Dokumentar- und Spielfilme anschaut, die jetzt auf zwei DVDs von Absolut Medien publiziert wurden. Sie stammen aus den Jahren 1957 bis 1990. Ich nenne hier zwölf, die mir besonders gut gefallen haben: WIR SPIELEN HOCHZEIT (1964) von Klausdieter Roth, SOMMER-GÄSTE BEI MAJAKOWSKI (1967) von Volker Koepp und Alexander Ziebell, ERINNERUNGEN IM HERZEN (1965) von Stefan Jerzy Zweig, FLAMMEN (1967) von Konrad Weiß, MEMENTO 1966) von Karlheinz Mund, SUSIS SCHICHT (1978/79) von Petra Tschörtner, TROMPETE, GLOCKE, LETZTE BRIEFE (1978) von Peter Kahane, EIN LEBEN (1980) von Helke Misselwitz, WOLTERS TRUDE (1978) von Gabriele Denecke, DIE KAMINSKI (1980) von Hannes Schönemann (Cover-foto), STILL-LEBEN (1981) von Maxim Dessau und SO SCHNELL ES GEHT NACH ISTANBUL (1990) von Andreas Dresen, mit 43 Minuten der längste Film. Insgesamt dauern die 19 Filme 392 Minuten. Der dokumenta-rische Anteil überwiegt. Hervorragend ist das Booklet von Ilka Brombach mit einer kurzen HFF-Geschichte und Informationen zu allen Filmen auf 36 Seiten. Mehr zu den beiden DVDs: «++1957+–+1990

Stan

In Deutschland wurden sie unter den Namen „Dick & Doof“ vermarktet, international waren sie als „Laurel & Hardy“ das berühmteste Komiker-Paar der Welt. Sie haben zwischen 1920 und 1957 zusammen über 100 Filme gedreht. Stan Laurel (1890-1965) hat dabei oft Co-Regie geführt und wichtige Gags ausgedacht, aber ohne seinen Partner Oliver Hardy (1892-1957) trat er nicht vor die Kamera. Sie waren beide mehrfach verheiratet, hatten oft Streit mit ihren Produzenten (speziell mit Hal Roach) und kannten auch die Schattenseiten von Hollywood. Es gibt zahlreiche Biografien über das Duo (zuletzt: „Laurel und Hardy und die Frauen“ von Rainer Dick; laurel-hardy/). Jetzt hat der irische Schriftsteller John Connolly einen Roman geschrieben, der im Original „He“ und in der deutschen Übersetzung „Stan“ heißt, erschienen im Rowohlt Verlag. Einerseits – das liegt an dem spannenden Stoff – ist er lesenswert. Andererseits – das hat mit dem Umfang (500 Seiten) und dem Stil zu tun – nervt die Lektüre. Der Autor liebt sprachliche Pirouetten. Ein Beispiel: „Hal Roach gibt Mae Busch einen Vertrag. Hal Roach gibt Mae Busch einen Vertrag, weil Mae Busch komisch ist und hübsch. Hal Roach gibt Mae Busch einen Vertrag, weil das Mack Sennett höllisch ärgern wird.“ Zwischendurch legt man das Buch immer wieder zur Seite, um sich von den Wiederholungen zu erholen. Am Ende hat man aber doch viel über Laurel & Hardy erfahren. Mehr zum Buch: john-connolly-stan.html

Medienwahl

Warum nutzen Menschen be-stimmte Medien und Medien-inhalte? Welche kognitiven Prozesse laufen dabei ab? Zehn Beiträge geben Antworten auf diese Fragen. Nicole Podschu-weit & Claudia Wilhelm äußern sich zu Standortbestimmung und Perspektiven der Medienwahl. Tilman Betsch macht Anmer-kungen aus der Sicht der Ent-scheidungsforschung. Teresa K. Naab & Anna Schnauber-Stock-mann beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen wiederholter Nutzung, automa-tischer Selektion und Aufmerk-samkeit gegenüber Inhalten während der Rezeption und fragen, ob uns Gewohnheiten (un)aufmerksam gegebenüber Medieninhalten machen. Anna Schnauber-Stockmann & Frank Mangold denken nach über Medien als soziale Zeitgeber. Elena Pelzer richtet ihren Blick auf Conjoint-Analysen in der Medienwahl. Nora Denner & Ann-Kathrin Wetter befassen sich mit dem Einfluss von Empfehlungen auf Selektionsentscheidungen bei der Nachrichtenauswahl im Internet. Sarah Geber & Dorothée Hefner formulieren eine Theorie sozial-normativer Mediennutzung. Katharina Emde-Lachmund, Helmut Scherer & Fenja Mergel entwickeln ein Erklärungsmodell zu den Determinanten der Nachrichtennutzung. Leyla Degruel verweist auf die Bedeutung individueller und kulturbezogener Einflussfaktoren auf die Informationsnutzung bei der Filmauswahl. Bei Perina Siegenthaler, Alexander Ort & Andreas Fahr geht es am Ende um die Effekte positiver Emotionalisierung auf die Selektion von Gesundheitsinformation. Alle Beiträge sind durch Umfragen abgesichert. Interessante Lektüre, keine Abbildungen. Mehr zum Buch: 3848742535

Zwischen den Filmen

Heute Abend wird im Museum für Film und Fernsehen in Berlin die Ausstellung „Zwischen den Filmen – Eine Fotogeschichte der Berlinale“ eröffnet. Sie erin-nert an Stars, Schauplätze und spezielle Momente des Festivals, das 1951 zum ersten Mal statt-fand. Wenn man, wie ich, seit 1960 regelmäßig dabei war, gibt es viele Bilder, die mit persön-lichen Erlebnissen verbunden sind. Fünf ausgewählte Fotos kommentiere ich an einer Hörstation. Die Ausstellung ist bis 5. Mai 2019 zu sehen. – Sehr gelungen finde ich die Begleitpublikation, die von der Ausstellungs-kuratorin Daniela Sannwald und dem SDK-Mitarbeiter Georg Simbeni herausgegeben wurde, erschienen im Kettler Verlag. 50 Fotos zeigen Fans, Kinos, Partys, Mode, Presse, Politik, Porträts, Paare, Stadt, Stars, Bären. Sie stammen von 14 Fotografinnen und Fotografen quer durch die Festivalgeschichte, die Kommentare zu den Fotos haben Rolf Aurich, Franziska Latell, Peter Mänz, Rainer Rother, Daniela Sannwald, Georg Simbeni und Vera Thomas verfasst. Julia Riedel, Leiterin des SDK-Fotoarchivs, erinnert in einem eigenen Text an die wechselhafte Geschichte der Berlinale-Fotografie. Alle Texte in Deutsch und Englisch. Coverabbildung: James Stewart (1962) fotografiert von Heinz Köster. Mehr zur Ausstellung: fotogeschichte-der-berlinale  Mehr zum Buch. zwischen-den-filmen