Berlins vergessene Traumfabrik

Babelsberg ist der legendäre Standort eines Filmstudios am Rande Berlins und noch heute in Betrieb. Johannisthal war ab 1920 eine ernsthafte Konkur-renz. In den Johannisthaler Filmanstalten (Jofa) konnten unabhängige Produktions-firmen in großen Studios, wo zuvor Flugzeuge gebaut worden waren, ihre Filme realisieren. Gedreht wurden hier die Innenaufnahmen u.a. zu HAMLET mit Asta Nielsen, DR. MABUSE, DER SPIELER von Fritz Lang, NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS von F. W. Murnau, MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK von Phil Jutzi. In den 1930er Jahren wurden die Ateliers von der Tobis-Filmkunst übernommen, 1946 kamen sie zur DEFA und waren Drehort u.a. von Gerhard Lamprechts Films IRGENDWO IN BERLIN. Ab 1952 war hier die Zentrale des DEFA-Studios für Synchronisation. Und die „Gruppe Johannisthal“ der DEFA realisierte hier Filme wie HEISSER SOMMER, DER MANN, DER NACH DER OMA KAM und JAKOB DER LÜGNER. Die Ateliers waren auch Drehort für das DDR-Fernsehen. In den 1990er Jahren begann die Abwicklung. Die Geschichte von „Berlins vergessener Traumfabrik“ erzählt Wolfgang May (*1940), Fotograf und ehemaliger Produktionsleiter, in seinem Buch, das bisher nur in einer kleinen Auflage beim Kulturring Berlin erschienen ist. Gesucht wird ein Verlag, der ihm zu größerer Verbreitung verhilft. Der Text ist sehr informativ, gelegentlich ertrinkt man in der Flut von Namen und Titeln, Daten und Zitaten. Beeindruckend sind die Abbildungen: Plakate, Porträts, Fotos, Programmhefte, Faksimiles von Zeitungstexten. Ein Lektorat würde nützlich sein. Dann könnte das Buch die ihm angemessene Bedeutung bekommen. Mehr zum Buch: b5a09b2960b7c7d47d41b086f35

Senkblei der Geschichten

Alexander Kluge und der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl reden seit vielen Jahren gern miteinander. Die Gespräche wurden früher in Kluges Fernsehsendungen News & Stories (SAT 1) und 10 vor 11 (RTL) medial ausgewertet. Ein erster Sammelband, „Soll und Haben“, erschien 2009. Jetzt gibt es einen neuen Band mit neun Gesprächen. Die meisten stammen aus den Jahren 2010 bis 2012. Es geht um die Themen „Zweikampf zwischen Mensch und Natur“ (konkretisiert an dem Roman Moby Dick), „Die Menschmaschine“ (Zolas La bête humaine), „Das kalte Herz und das Geld“ (nicht nur im Märchen von Wilhelm Hauff), „Geister in den Maschinen“ (ein Interview von Andrej Heinke mit Kluge und Vogl), „Europa: das unbeschriebene Blatt“ und „Machttechnologien im 21. Jahrhundert“. Das jüngste Gespräch wurde per Skype am 11. April 2020 geführt und hat den Titel „Begriffskatastrophen“. Zu lesen sind interessante Reflexionen in der Corona-Zeit. Beide Gesprächspartner lieben das Assoziative, die Sprünge durch die Jahrhunderte, die Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart. Das macht die Lektüre spannend, auch wenn man sich manchmal etwas ungebildet vorkommt. Als Einführung dient ein Gespräch mit Kluge und Vogl, das Julia Encke und Claudius Seidl 2009 für die FAS geführt haben. Mehr zum Buch: senkblei-der-geschichten-6339

Jean Harlow

Sie war ein Hollywood-Star der 1930er Jahre, Idol von Marilyn Monroe und starb im Juni 1937 im Alter von nur 26 Jahren an Nierenversagen. Zu ihren be-kanntesten Filmen zählen HELL’S ANGELS von Howard Hughes, THE PUBLIC ENEMY von William A. Wellman, PLATINUM BLONDE von Frank Capra, RED DUST von Victor Fleming, DINNER AT EIGHT von George Cukor, CHINA SEAS von Tay Garnett, WIFE VS. SECRETARY von Clarence Brown, SUZY von George Fitzmaurice, RED-HEAD WOMAN, THE GIRL FROM MISSOURI, LIBELED LADY und SARATOGA, alle von Jack Conway. Bettina Uhlich hat 2011 eine sehr gut recherchierte Biografie über Jean Harlow publiziert, die seit langem vergriffen ist. Jetzt ist bei „worttransport“ eine Neuauflage des Buches erschienen, die sehr zu empfehlen ist, wenn man die alte Ausgabe nicht im Regal stehen hat. Mehr zum Buch: 23/jean-harlow-neu/

Helmut Ringelmann

Er war einer der kreativsten deutschen Fernsehproduzenten von 1963 bis zu seinem Tod 2011. Seine Serien hießen DIE FÜNFTE KOLONNE (23 Fol-gen), DAS KRIMINALMUSEUM (40 Folgen), DER KOMMISSAR mit Erik Ode (97 Folgen), DERRICK mit Host Tappert (281 Folgen), DER ALTE (100 Folgen mit Siegfried Lowitz, 222 Folgen mit Rolf Schimpf, 34 Folgen mit Walter Kreye), POLIZEI-INSPEKTION 1 mit Walter Sedlmayr (130 Folgen), DER MANN OHNE SCHATTEN (14 Folgen mit seiner Ehefrau Evelyn Opela), SISKA (91 Folgen mit Peter Kremer und Wolfgang Maria Bauer). Wolfgang Jacobsen erzählt die Lebensgeschichte von Helmut Ringelmann mit vielen Details, die mir bisher unbekannt waren: Kindheit und Jugend in München, Frankfurt und Wiesbaden, Arbeit als Schauspieler, Assistenzen oder Aufnahmeleitungen bei Harald Braun, Helmut Käutner, Wolfgang Staudte, Max Ophüls, Stanley Kubrick, Gründung der Firmen „Intertel Television“, „Neue Münchner Fernseh-produktion“, „Telenova Film- und Fernsehproduktion“. Als Sohn eines Hoteldirektoren-Ehepaars war Helmut Ringelmann (*1926) ein weltoffener Mensch, literarisch gebildet, interessiert an den Medien. Der Krimi wurde zu seinem Hauptbetätigungsfeld. Fotos und Faksimiles von Dokumenten geben der Biografie eine zusätzliche Anschaulichkeit. Eine Lebenschronik, eine Filmografie und ein Namensregister schließen den Band ab, den Evelyn Opela-Ringelmann im Hirmer Verlag herausgegeben hat. Beeindruckend. Mehr zum Buch: helmut_ringelmann-2115/

DIE ERBIN / THE HEIRESS (1949) mit Olivia de Havilland

Am vergangenen Sonntag ist in Paris die Schauspielerin Olivia de Havilland gestorben. Sie wurde 104 Jahre alt. Zu ihren schönsten Filmen gehören TO EACH HIS OWN (1946) von Mitchell Leisen und THE HEIRESS (1949) von William Wyler. Für beide erhielt sie den Oscar als beste Hauptdarstel-lerin. DIE ERBIN erzählt die Geschichte der jungen, eher unscheinbaren Arzttochter Catherine, deren Mutter ver-storben ist, deren Vater sie verachtet und deren Tante Erziehungsfunktionen übernimmt. Zum Streitpunkt wird die Zuneigung Catherine zu dem jungen Müßiggänger Morris Townsend, der von ihrem Vater kategorisch abgelehnt wird. Die Konflikte eskalieren. Am Ende hat Catherine eine Lebenserfahrung gemacht. Olivia de Havilland ist herausragend, Montgomery Clift spielt den Erbschleicher, Ralph Richardson den Vater, Miriam Hopkins die Tante Lavinia. Die DVD des Films ist kürzlich bei Koch Media erschienen. Und morgen Abend gibt es den Film auf Arte. Mehr zur DVD: die_erbin_the_heiress_dvd/ /Mehr zur Ausstrahlung auf Arte: 092911-000-A/die-erbin/

1917 (2019)

In zehn Kategorien war der Kriegsfilm von Sam Mendes in diesem Jahr für den Oscar nominiert, drei hat er am Ende gewonnen: für die beste Kamera, den besten Ton und die besten visuellen Effekte. Auch für den Schnitt hätte er einen verdient. Erzählt werden die Erlebnisse der britischen Soldaten William Schofield und Tom Blake an der Westfront in Frankreich an zwei Tagen im Frühjahr 1917. Sie sollen die dringende Nachricht an den Colonel Mackenzie überbringen, dass er nicht von einem ungeordneten Rückzug der deutschen Truppen ausgehen soll, sondern mit einem bestens aufgestellten Hinterhalt rechnen muss. Der Weg zum Bataillon ist mit Gefahren verbunden. Schofield wird nach einer Explosion verschüttet, kann aber von Blake gerettet werden. Auf einem Bauernhof stürzt ein deutsches Flugzeug ab, der Pilot überlebt und tötet Blake mit einem Messer. Schofield erschießt den Piloten und setzt den Weg allein fort. Zweimal gerät er in äußerste Not und erreicht das Bataillon im letzten Moment, um Schlimmes zu verhindern. Der Film wurde gedreht und geschnitten, als ob sich die Handlung in Echtzeit abspielt. Die beiden Hauptdarsteller George MacKay (Schofield) und Dean-Charles Chapman (Blake) sind relativ unbekannt, Colonel Mackenzie wird von Benedict Cumberbatch gespielt. 120 spannende Minuten. Bei Universal ist jetzt eine DVD des Films erschienen. Mehr zur DVD: universalpictures.de/m/1917

Vom imaginären Leben in der Spätmoderne

Woher kommt die Sucht vor allem junger Menschen, Selfies zu machen und auf der Foto-plattform Instagram ins Netz zu stellen? Das 100-Seiten-Buch von Elaine Goldberg gibt viele Antworten auf diese Frage bis hin zu der medienphilosophi-schen These, dass Realität und Bild ihre Rollen vertauscht haben. Als „real“ gilt nur noch das Bild, weil es ein Beweis-mittel ist. Die Autorin führt angesehene Theoretiker ins Feld – Andreas Reckwitz, Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Bernhard Waldenfels – um ihre Gedanken zum imaginären Leben in der Spätmoderne zu fundieren. Vor allem das Kapitel über „Das technische Bild und seine gesellschaftlichen Zuschreibungen“ ist aufschlussreich. Auch über die Definitionsmöglichkeiten von Wahrnehmung und Realität gibt es interessante Thesen. Das Schlusskapitel heißt „Eine melancholische Generation der telematischen Gesellschaft“. Der Text entstand als Masterarbeit an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Mit einem Vorwort von Dr. Johanna Zorn. Mehr zum Buch: vom-imaginaeren-leben-in-der-spaetmoderne

Lieblingskinos

Im August-Heft von epd Film wird eine schöne Idee realisiert. Elf Autorinnen und Autoren schreiben über ihre Lieblings-kinos. Das sind die „Caligari-Filmbühne“ in Wiesbaden (Rudolf Worschech), das „Werkstattkino“ in München (Alexandra Seitz), die „Licht-burg“ in Essen (Sascha West-phal), das „Apollo“ in Hannover (Dietmar Kanthak), das „Pro-vinzkino“ in Enkenbach-Alsenborn (Birgit Roschy), das „Klick“ in Berlin-Charlottenburg (Gerhard Midding), das „Arsenal“ in Tübingen (Barbara Schweizerhof), das „Broadway“ in Trier (Jakob Lobes), die „Harmonie“ in Frankfurt (Manfred Riepe), das „Abaton“ in Hamburg (Britta Schmeis) und das „Filmtheater am Sendlinger Tor“ in München (Katrin Hoffmann). In den kurzen Texten werden Erinnerungen wachgerufen und Erlebnisse erzählt. Eine fragmentarische Kinogeschichte. Titelfoto: der Eingang zum „Abaton“. Mir wäre die persönliche Wahl schwer gefallen, aber ich hätte mich wohl für das Delphi in Berlin-Charlottenburg entschieden. Zwei umfangreiche Texte des neuen Heftes sind Zeitreisen und Zeitschleifen im Film (Georg Seeßlen) und den neuen Techniken in der Filmproduktion (Alexander Matzkeit) gewidmet. Wilhelm Roth rezensiert mein Filmbuch des Monats Juli: die Marlon Brando-Biografie von Jörg Fauser. Endlich gibt es wieder viele aktuelle Filmkritiken zu lesen. Mehr zur Zeitschrift: www.epd-film.de

Lexikon der Filmschurken

Ein originelles Buch: „Killer, Monster und Gegenspieler aus hundert Jahren Film- und Fern-sehgeschichte“ von Albrecht Behmel und Elisabeth Brauch. 729 Figuren aus 700 Filmen werden hier porträtiert, be-ginnend mit der Königin CLEO-PATRA (1912), endend mit dem Drachen Smaug in THE HOB-BIT (2012). Es gibt jeweils eine kurze Inhaltsangabe, Verweise auf Verwandtschaften und 19 Konkretisierungen: Archetyp, Dargestellt von, Genre, Gegen-part, Aussehen, Verhalten, Know-how, Waffen, Gewaltbereitschaft, Motivation, Konfrontation, Verbündete, Täuschung, Stärke, Schwäche, Schuld, Fehler, Ende, Markenzeichen. Die Filmauswahl ist stark auf Hollywood-Produktionen fokussiert. Immerhin sind 20 „Antagonisten“ aus deutschen Filmen dabei, darunter Dr. Caligari, der Golem, Hagen von Tronje, Mephisto, Hans Beckert, Lola-Lola, Herr Grundeis, Dr. Mabuse, der Räuber Hotzenplotz und Dr. Dennis Orloff in DER DIRNENMÖRDER VON LONDON (1976), dargestellt von Klaus Kinski. Archetyp: Wilder Menschenfresser, gnadenloser Verfolger. Markenzeichen: Irrer Blick. Namentlich genannt werden nur die Darstellerinnen und Darsteller der Schurkinnen und Schurken, nicht der Gegenparts. Auch Drehbuch und Regie werden verheimlicht. Es gibt einen Personen-, Figuren- und Sachindex und eine alphabetische Filmliste. Leider keine Abbildungen. Mit 850 Seiten ein gewichtiges Buch. Mehr zum Buch: lexikon-der-filmschurken.html

Die un-sichtbare Stadt

14 sehr reflektierte Texte über „Urbane Perspektiven, alterna-tive Räume und Randfiguren in Literatur und Film“ versammelt dieser Band, den Katja Har-brecht, Karen Struve, Elena Tüting und Gisela Nebel her-ausgegeben haben. Es geht um Lebensräume der Marginali-sierten in illegalen Zeitcamps, besetzten Häusern, verlassenen Ruinen und banlieius. Drei Textgruppierungen geben thematische Ordnung: Orien-tierung im Raum, Zeitgeschich-te und Bewegungsräume, Energien und Atmosphären. Die Spurensuche in der Literatur führt u.a. zu Michel Butor und Franz Kafka, Corinne Dufosset und Jorge Luis Borges, Ermanno Rea und Cécile Wajsbrot, Ricardo Piglia und Umberto Eco. Katia Harbrecht unternimmt eine meteorologische Spurensuche in Paris, André Otto erforscht das energetische Feld des Londoner Ostens in Iain Sinclairs „Lud Heat“. Annelie Augustyns entdeckt bei der Lektüre der Tagebücher von Willy Cohn Breslau während des Holocaust. Ein Text ist dezidiert dem Film gewidmet: Verena Richter analysiert L’HOMME BLESSÉ von Patrice Chéreau und Hervé Guibert (1983) mit dem Blick auf Schwellenorte für jugendliche Sexualität und homosexuelle Grenzerfahrungen. Mehr zum Buch: die-un-sichtbare-stadt/