Pier Paolo Pasolini

In diesem Monat ist der 100. Geburtstag des Filmemachers und Schriftstellers Pier Paolo Pasolini zu feiern. Das Kino Arsenal widmet ihm eine Filmreihe. Im Verlag Klaus Wagenbach ist ein sehr lesens-wertes Buch mit Gesprächen und Selbstzeugnissen erschienen, herausgegeben von Gaetano Biccari. Zwanzig Texte aus den Jahren 1958 bis 1975 erinnern an den streitlustigen Intellektuellen jener Jahre. Er erzählt von seiner Kindheit, von Fernsehkonformismus, der Bürgerlichkeit des Neorealis-mus, der Emanzipation der Frau, dem Publikum, der Nützlichkeit der Kunst, der Sprache des Fußballs und seinem Hass auf die Bourgeoisie. „Wir alle sind in Gefahr“ ist die Überschrift des letzten Interviews, das am 1. November 1975 stattfand, wenige Stunden vor der Ermordung Pasolinis. Ein „Nachruf auf mich selbst“ stammt aus dem Jahr 1968. Mit Abbildungen. Mehr zum Buch: pier-paolo-pasolini-in-persona.html

Hardy Krüger

Am 19. Januar 2022 ist Hardy Krüger im Alter von 93 Jahren gestorben. Er war als Schau-spieler und Schriftsteller erfolgreich. Das Hamburger Abendblatt hat ihm jetzt in seiner Reihe „Collector’s Edition“ eine 100-Seiten-Publikation gewidmet. Stefan Reckziegel erzählt in einem langen Text das Leben von Eberhard August Franz Ewald Krüger, geboren in Berlin-Wedding, der seine erste Rolle als 15jähriger in dem NS-Propagandafilm JUNGE ADLER unter der Regie von Alfred Weidenmann spielte, in den 1950er Jahren zu einem beliebten Star im westdeutschen Film wurde und in den 60er Jahren in Filmen wie TAXI NACH TOBRUK von Denys de La Pattelière, HATARI! von Howard Hawks, DER FLUG DES PHÖNIX von Robert Aldrich, DIE BRÜCKE VON ARNHEIM von Richard Attenborough und FLAMMERN AM HORIZONT von Richard Brooks international Karriere machte. Er wohnte meist in Hamburg, hatte eine große Liebe zu Afrika und lebte zuletzt in Palm Springs. Es gab viele Porträts von und Interviews mit ihm im Hamburger Abendblatt, zehn längere Auszüge aus den Jahren 1970 bis 2016 sind in dem Buch dokumentiert. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten politisch sehr engagiert. Das Buch ist ein beeindruckendes Erinnerungsdokument. Mehr zum Buch: Hamburger-Abendblatt/products/3294?locale=de

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE (2021)

Schauplatz des Dokumentar-films ist Stadtallendorf in Mittelhessen, ein Industrieort mit 20.000 Einwohnern. Viele sind ausländischer Herkunft. An der Georg-Büchner-Schule unterrichtet Dieter Bachmann die Klasse 6b. Die Schülerinnen und Schüler kommen aus zwölf Ländern, sie sind im Schnitt 13 Jahre alt. Wir verbringen mit ihnen ein ganzes Schuljahr. Der Film dauert dreieinhalb Stunden, und am Ende findet man es traurig, dass er zu Ende ist. Der Lehrer Bachmann hat seine eigenen Unterrichtsmethoden. Er stellt persönliche Fragen, nutzt die Musik zur Verständigung und nimmt jeden ernst, der ihm anvertraut ist. Das Klassenzimmer hat eine ungewöhnliche Ausstattung, man kann sich dort zuhause fühlen. Der Film von Maria Speth hat herausragende Qualitäten, weil wir eine große Nähe zu allen Schülerinnen und Schülern und zu ihrem tollen Lehrer bekommen. Die Kamera von Reinhold Vorschneider ist geduldig und unsichtbar. Im vergangenen Jahr erhielt der Film die „Lola“ als bester Dokumentarfilm. Jetzt ist die DVD des Films erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: herr-bachmann-und-seine-klasse/hnum/10816123

Europa und die „Anderen“

Der europäische Migrationsfilm ist in den 2010er Jahren zu einem eigenen Genre geworden. Lucca Kohn beschreibt Chancen und Gefahren filmischer Stereotypen. Sechs Fallstudien stehen im Mittelpunkt: Ankunftsdramen, Ankunfts-komödie und – speziell – Migration auf Finnisch. Die Dramen sind WELCOME (2009) von Philippe Lioret und JUPITER HOLDJA (2017) von Kornél Mundruczó, die beiden Komödie sind WILLKOMMEN BEI DEN HARTMANNS (2016) von Simon Verhoeven und USGRÄCHNET GÄHWILERS (2017) von Martin Guggisberg. Sie werden präzise analysiert. Originell ist der Blick nach Finnland, die beiden Filme sind LE HAVRE (2011) und TOIVON TUOLLA PUOLEN 8(2017) von Aki Kaurismäki. Der Autor dringt tief in die Welt des Regisseurs ein und vermittelt differenzierte Erkenntnisse. Kleine Abbildungen machen den Text anschaulich. Das Coverfoto stammt aus dem Film TOIVON TUOLLA PUOLEN. Ein schmales, sehr lesenswertes Buch. Mehr zum Buch: europa-und-die-anderen-9783838216119.html

Boulevard der Eitelkeiten

Roger Fritz (1936-2021) hat seit den 1950er Jahren für Zeit-schriften als Fotograf gearbeitet, war Schauspieler und Regisseur seit 1960, wohnte vorzugsweise in München und war in der Welt der Prominenz zuhause. Das Buch mit 235 Porträtfotografien und achtzig persönlichen Erinnerungen von den 50er Jahren bis heute ist ein wunderbarer Blick zurück in ein kreatives Leben. In zwölf Kapiteln werden wir Augenzeugen der ersten professionellen fotografischen Erfahrungen (Hjalmar Schacht, Willy Fleckhaus, Gian Carlo Menotti, Luchino Visconti, Romy Schneider), sehen Schauspielerfreunde (Hardy Krüger, Dieter Hallervorden, Götz George, Helmut Berger, Mario Adorf, Jeanne Moreau, Ulli Lommel), Künstler (Joseph Beuys, Gerhard Richter, Andy Warhol), Klaus Lemke und seine Schauspieler, Fassbinder und seinen Kreis (Hanny Schygulla, Barbara Sukowa, Barbara Valentin), Politiker (Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Markus Söder), Musiker (Placido Domingo, Hans Werner Henze, Herbert von Karajan, Marius Müller-Westernhagen, Udo Jürgens, Peter Kraus, Udo Lindenberg), Unternehmer (Gianni Versace, Karl Lagerfeld, Gunter Sachs, Charles Schumann), internationale Schauspielerinnen und Schauspieler (Burt Lancaster, Ursula Andress, Shelley Winters, Rod Steiger, Anthony Quinn, Charles Aznavour, Lauren Hutton), schöne Münchnerinnen (Christine Kaufmann, Uschi Glas, Ingrid van Bergen, Iris Berben, Helga Anders – mit der Fritz sieben Jahre verheiratet war – , Barbara Rudnik, Elke Sommer und Margit Friedrich, mit der er bis zu seinem Tod liiert war). Die Texte sind pointiert, beschreiben Situationen, in denen Fritz fotografiert hat, und haben einen eigenen Stil. Das Buch sollte zum 85. Geburtstag von Roger Fritz erscheinen. Jetzt ist es zu einem Nachruf geworden. Mit einem Geleitwort von Hubert Burda. Coverabbildung: Barbara Sukowa. Mehr zum Buch: info.php?cPath=39&products_id=984

APOCALYPSE NOW

Chas Gerretsen hat 1976 als Setfotograf sechs Monate lang die Dreharbeiten zu dem Film APOCALYPSE NOW auf den Philippinen begleitet. Jetzt ist im Prestel Verlag sein Bildband mit 140 Fotos erschienen, „The Lost Photo Archive“. Der Blick hinter die Kulissen einer New Hollywood-Produktion, die völlig aus den Fugen geriet, ist auch 46 Jahre später sehr interessant. Gerretsen, als Kriegsreporter in Vietnam erfahren im Umgang mit Tod und Leid, hat beeindruckende Aufnahmen gemacht. Ergänzt werden die Fotos von Kommentaren zu den Dreharbeiten, die – wie man aus dem Film HEARTS OF DARKNESS von Eleanor Coppola weiß – ziemlich verrückt verlaufen sind. Gerretsen beschreibt aus seiner Sicht Erfahrungen mit dem Regisseur Francis Ford Coppola, den Hauptdarstellern Martin Sheen, Marlon Brando, Robert Duvall und Dennis Hopper, mit dem Kameramann Vittorio Storaro. Sie sind eine Mischung aus Anekdoten, Legenden und persönlichen Porträts. Höchst lesenswert. Eine Timeline ordnet am Ende des Bandes die Fotos präzise ein. Ein großartiges Buch. Mehr zum Buch: Chas-Gerretsen/Prestel/e594507.rhd

Marlene Dietrich

Eine zweibändige Marlene Dietrich-Biografie als Graphic Novel haben Flavia Scuderi (Zeichnungen) und Alessandro Ferrari (Text) konzipiert. Band 1 erzählt die Lebensgeschichte bis zum 31. März 1930, dem Tag der Abreise in die USA nach der Premiere des Films DER BLAUE ENGEL. Zu Beginn befinden wir uns im Mai 1944 in einem Kloster in Italien, wo Marlene Unterschlupf gefunden hat. Dann fahren Marlene und ihre Mutter mit dem Zug von Weimar nach Berlin, wo die Tochter ihre Ausbildung als Geigerin fortsetzen soll. Sie bekommt 1921 eine Anstellung im Filmorchester von Giuseppe Becce, gibt aber das Geigenspiel auf, um Schauspielerin zu werden. Sie lernt den Regieassistenten Rudolph Siebert kennen und heiratet ihn. Ihre Tochter Maria kommt zur Welt. Parallel gibt es intime Verbindungen zu Claire Waldoff und Anita Berber. Die Rolle der Lulu in DIE BÜCHSE DER PANDORA bekommt sie nicht, aber Josef von Sternberg besetzt sie als Lola im BLAUEN ENGEL. Zwischendurch springen wir ins Jahr 1956, zu Billy Wilder und dem Film ZEUGIN DER ANKLAGE. Das Buch ist unterhaltsam und spart auch intime Details nicht aus. Ein Interview von Steffen Volkmer mit der Zeichnerin Flavia Scuderi schließt den Band ab. Band 2 soll im Herbst erscheinen. Mehr zum Buch: stars-comics/marlene-dietrich-ydmarl001

SODOM AND GOMORRHA (1962)

Ein Monumentalfilm mit biblischem Hintergrund. Die Zwillingsstädte Sodom und Gomorrha, regiert von der Königin Bera und ihrem Bruder Astaroth, sind Orte des Lasters und der Gottlosigkeit. Als ein Zug Hebräer, angeführt von Abrahams Neffen Lot, nach langer Wanderschaft durch die Wüste dort eintrifft, dürfen sie gegen hohe Steuern vor den Toren kampieren. Die Sklavin Ildith wird als Kundschafterin zu den Hebräern geschickt. Lot und Ildith verlieben sich. Und Gott beschließt, die beiden Orte zu zerstören. Robert Aldrich hat den Film vor sechzig Jahren inszeniert, Sergio Leone war für die italienische Fassung zuständig. Die Hauptrollen sind mit Stewart Granger (Lot), Pier Angeli (Ildith), Anouk Aimée (Königin Bera) und Stanley Baker (Astaroth) prominent besetzt. Einen Gastauftritt haben Alice und Ellen Kessler. Die Musik stammt von Miklós Rósza. Bei Koch Media ist jetzt eine Blu-ray des Films in hervorragender Qualität erschienen. Sie enthält die Originalfassung (154 Minuten) und die gekürzte Fassung von 1973. Mit einem sehr informativen 40-Seiten-Booklet. Mehr zur Blu-ray: sodom_und_gomorrha_mediabook_a_2_blu_rays/

Mnemotopie im mexikanischen Film

Eine Dissertation, die an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstanden ist. Sergej Gordon beschreibt darin Orte nationaler Umbrüche in der Filmkultur der mexikanischen Época de Oro (1936-1956). Mnemotope sind Plätze, an denen sich retrospektiv ein Gemein-schaftssinn feststellen lässt. Drei Bereiche stehen in diesem Zusammenhang mit Mittelpunkt der Untersuchung: die Ruine als Mahnmal und Zerrspiegel der télé-historie, die Hacienda als Schattenort der Revolution und die Nordgrenze als Kontaktzone der Zeitregime. 1936 hatte Fernando de Fuentes den ersten international erfolgreichen mexikanischen Film realisiert: ALLÁ EN EL RANCHO GRANDE. Während des Zweiten Weltkriegs dominierte der mexikanische Film den lateinamerikanischen Subkontinent. Auch die Jahre 1945 bis 1950 gelten als Blütezeit. Der Niedergang fand in den 50er Jahren statt. Der Autor analysiert für den Bereich Ruine die Filme QUE VIVA MÉXICO! (1931/1979) von Sergej Eisenstein und Gregori Aleksandrow, LA NOCHE DE LOS MAYAS (1939) von Chano Urueta, RAICES (1953) von Benito Alazraki und CHILAM BALAM (1955) von Inigo de Martino, für den Bereich Hacienda die Filme QUE VIVA MÉXICO!, EL COMPADRE MENDOZA (1934) und ALLÁ EN EL RANCHO GRANDE von Fernando de Funtes und FLOR SILVESTRE (1943) von Emilio Fernández, für den Bereich Nordgrenze die Filme PITO PÉREZ SE VA DE BRACERO (1948) von Alfonso Patino Gómez und ESPALDAS MOJADAS (1955) von Alejandro Galindo. Die Beschreibungen sind sehr präzise, die Abbildungen hilfreich. Eine wichtige Publikation zur mexikanischen Filmgeschichte. Mehr zum Buch: number=978-3-8376-5658-9

Douglas Sirk und das ironisierte Melodram

Vor 48 Jahren hat Thomas Brandlmeier seinen ersten langen Text über Douglas Sirk in der Film-Korrespondenz publiziert. In der Zwischenzeit erschienen von ihm einige kleinere Beiträge über den Regisseur, jetzt gibt es ein 222-Seiten-Buch, das man als klassisches Basiswerk bezeichnen kann. Detlef Sierck/Douglas Sirk (1897-1987) war ein außergewöhnlicher Regisseur, der, vom Theater kommend, in den 1930er Jahren zunächst den deutschen Film bereichert hat und 1937, also relativ spät, das Land verließ und in den USA eine zweite Karriere machte. Das Melodram wurde von ihm stilbildend erweitert. Brandlmeier beschreibt auf 120 Seiten analysierend alle 44 Filme des Regisseurs, beginnend mit dem Kurzfilm ZWEI WINDHUNDE (1934), endend mit der HFF-Produktion BOURBON STREET BLUES (1978), in der Rainer Werner Fassbinder als Darsteller mitwirkte. Natürlich werden Filme wie MAGNIFICENT OBSESSION (1954), ALL THAT HEAVEN ALLOWS (1955), WRITTEN ON THE WIND (1956) und IMITATION OF LIFE (1959) besonders ausführlich gewürdigt. Ein eigenes Kapitel ist speziellen Bildmotiven gewidmet, die in Sirks Filmen immer wieder zu sehen sind: Blicke, Fenster, Masken, Spiegel, Treppen. Der Autor dringt tief in das Werk des Regisseurs ein. Ein vorbildliches Buch. Mit Abbildungen in sehr guter Qualität. Coverabbildung: WRITTEN ON THE WIND. Mehr zum Buch: Details.aspx?ISBN=9783967076103#.YhZJRi9XZHc