19. Januar 2022
Liebe in Zeiten des Hasses
Die „Chronik eines Gefühls 1929-1939“ erzählt Beziehungs-geschichten aus einem Jahr-zehnt großer Veränderungen, beginnend mit der Weltwirt-schaftskrise, endend mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Italien, die USA sind die zentralen Schauplätze. Es gibt weit über zweihundert Personen, die in den Blick genommen werden, vor allem aus dem Bereich der Kunst und Kultur. Ich nenne vierzig, die besonders präsent sind: Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Josephine Baker, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Bert Brecht und Helene Weigel, Salvador Dali und Gala Éluard Dali, Marlene Dietrich, Josef von Sternberg und Erich Maria Remarque, Otto Dix, Lion und Marta Feuchtwanger, F. Scott und Zelda Fitzgerald, Therese Giehse, Hermann und Ninon Hesse, Ernst und Gretha Jünger, Erich Kästner, Victor und Eva Klemperer, Lotte Lenya und Kurt Weill, Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel, Heinrich und Thomas, Erika und Klaus Mann, Henry Miller, Anais Nin, Pablo Picasso, Leni Riefenstahl, Kurt Tucholsky. Auch Stalin, Goebbels und Hitler sind dabei. Drei Kapitel strukturieren das Buch: Davor – 1933 – Danach. Ein Sternchen trennt die einzelnen Geschichten, die höchstens zwei Seiten, oft auch sehr viel kürzer sind. Zitiert wird aus Tagebüchern, Briefen, Biografien. Florian Illies erzählt lakonisch, pointiert, aber auch mit gelegentlicher Fassungslosigkeit. Bettgeschichten auf höchstem Niveau. 400 Seiten, keine Abbildungen. Mehr zum Buch: liebe-in-zeiten-des-hasses-9783103970739
18. Januar 2022
Ich schreibe Filme
Ingmar Bergman (1918-2007) war über Jahrzehnte einer der Großen des europäischen Kinos. Unvergessen sind Filme wie WILDE ERDBEEREN, WIE IN EINEM SPIEGEL, DAS SCHWEIGEN oder SZENEN EINER EHE. Von 1955 bis 2001 hat Bergman in kleinen Spiralheften Arbeitstagebücher geschrieben, die 2018 in Schweden publiziert wurden. Eine Auswahl, übersetzt und kommentiert von Renate Bleibtreu, ist jetzt im Berenberg Verlag erschienen. Zu lesen sind erste Entwürfe für Filmprojekte, Notizen zu den Dreharbeiten, aber auch Beschreibungen der persönlichen Situation und philosophierende Gedanken. Die Erläuterungen der Herausgeberin sind für die Lektüre hilfreich wie auch ihr Nachwort, das den Entwicklungsprozess der Tagebücher schildert. Ich werde mir demnächst einige Bergman-Filme noch einmal anschauen und seine parallelen Eintragungen lesen. Mehr zum Buch: programm/ich-schreibe-filme/
16. Januar 2022
THE GREEN KNIGHT (2021)
Eine Ritterromanze aus dem späten 14. Jahrhundert. Haupt-figur ist der junge, selbst-bewusste Sir Gawain, ein Neffe von König Artus, der ein lasterhaftes Leben führt. Seine Mutter, die Hexe Morgan Le Fay, denkt sich eine große Herausforderung für ihn aus. Am Weihnachtsabend erscheint im Thronsaal von Schloss Camelot ein riesiger Grüner Ritter, der die Gäste zu einer Mutprobe einlädt, einem Zweikampf mit ihm, der, wenn beide überleben, ein Jahr später wiederholt werden soll. Gawain meldet sich als einziger. Er besiegt den Grünen Ritter. Ein Jahr später macht er sich auf die Reise in eine andere Welt, in der er sich erneut behaupten will. Der Film, inszeniert von David Lowery, erfüllt alle Ansprüche des Fantasy-Genres, Dev Patel als Gawain ist beeindruckend, die Bilder sind gewaltig, aber es gibt auch poetische Momente. Man kann den Film auch als historisches Coming-of-Age Drama sehen. Bei EuroVideo sind jetzt DVD und Blu-ray des Films erschienen. Sehr sehenswert. Mehr zur DVD: 9,207830,the-green-knight,tv-kino-film.html
14. Januar 2022
Helke Sander
Heute Abend wird in der Akademie der Künste am Hanseatenweg das Buch „I like chaos, but I don’t know, whether chaos likes me“ von Helke Sander präsentiert. Es ist eine Reminiszenz an die Zeitschrift Frauen und Film, die von Helke 1974 gegründet wurde. In veränderter Form und Herausgeberschaft existiert sie bis heute. Acht Texte sind in dem Buch dokumentiert: der paradigmatische Eröffnungs-beitrag „nimmt man dir das schwert, dann greife zum knüppel“ (Nr.1), Gespräche von Helke mit Valie Export und Elfriede Irrall (Nr. 7), „der seele ist das gemeinsame eigen, das sich mehrt“, heraklit (Nr. 8), Feminismus und Film: „ilike chaos, but i don’t know whether chaos likes me“ (Nr. 15), „die herren machen das selber, daß ihnen die arme frau feind wird“. ablehnungs-geschichten von helke sander und ula stöckl, „krankheit als sprache. eindrücke von den berliner filmfestspielen 1980“ (Nr. 23). In einem „Erlebnisbericht“ erzählt Helke, wie Frauen und Film entstand (Nr. 23, 1980). Die Filmwissenschaftlerin Elena Meilicke hat mit Helke im Januar 2021 ein längeres Gespräch geführt: „Ich habe das erst einmal nur für mich aufgeschrieben“. Dokumentiert sind auch Auszüge aus der Drehbuchvorlage für Helkes Film DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT (1978). Das Buch, sorgfältig herausgegeben von Achim Lengerer und Janine Sack, ist bei Scriptings, EECLECTIC und Archive Books erschienen. Unbedingt lesenswert. Mehr zur Veranstaltung: programm/?we_objectID=63421 Mehr zum Buch: i-like-chaos-but-i-dont-know-whether-chaos-likes-me-texte-aus-frauen-und-film/
13. Januar 2022
Fantastische Welten
Zwei Genres werden in diesem Buch mit Bildern und Texten von der Zeitschrift Cinema präsentiert: Fantasy und Science-Fiction. Es gibt jeweils einen Essay zur Geschichte des Genres und eine Auswahl der fünfzig besten Filme. Der Chefredakteur Philipp Schulze leitet den Band ein. Autorinnen oder Autoren werden nicht genannt. Die Texte haben ein hohes Niveau. Es geht um Vergangenheit und Zukunft. In beiden Genres spielen gesell-schaftspolitische Aspekte eine große Rolle. Und wo sehen wir uns, die Menschen? Amerikanische Filme dominieren, die deutschen sind überschaubar: DIE NIBELUNGEN (1923), MÜNCHHAUSEN (1943), DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (1984), RONJA RÄUBER-TOCHTER (1984) und JIM KNOPF UND LUKAS DER LOKOMOTIV-FÜHRER (2018) als Fantasy-Filme, METROPOLIS (1927) als Science-Fiction-Film. Kleine Porträts sind wichtigen Personen gewidmet: Willis O’Brien, Jim Henson, Ray Harryhausen, Peter Jackson, Joanne K. Rowling, Tim Burton, Hayo Miyazaki, Isaac Asimov, Georges Méliès, Mary Shelley, Gene Roddenberry, Douglas Trumbull, Steven Spielberg, George Lucas, James Cameron, Christopher Nolan, Denis Villeneuve. Ein Titelregister wäre nützlich gewesen. Die Abbildungen haben eine hervorragende Qualität. Mehr zum Buch: cinema-praesentiert-fantastische-welten-ydcine004
12. Januar 2022
Ingrid Caven
Ingrid Caven (*1938) ist Schauspielerin und Sängerin, war zwei Jahre mit Rainer Werner Fassbinder verheiratet, lebt seit 43 Jahren in Paris und hat viel zu erzählen. Die Journalistin Ute Cohen stellt ihr Fragen nicht zu biografischen Phasen, sondern zu Themen, beispielsweise: Stimme, Sprache, Bilder, Kunst und Politik, Liebe, Prostitution, Angst, Publikum, Geld, Zeit. Die Antworten sind assoziativ, konkretisieren die Themen mit persönlichen Erinnerungen, die durch Nachfragen vertieft werden. Die 1970er Jahre spielen natürlich eine große Rolle. Aber der Bogen spannt sich bis in die Gegenwart. 2018 hat Ingrid Caven an der Berliner Volksbühne unter der Regie von Albert Serra gespielt, 2019 neben Tilda Swinton in dem Film SUSPIRIA mitgewirkt. Ihr Lebensgefährte, der Schriftsteller Jean-Jacques Schuhl, ist sehr präsent. Die Erinnerungen an Fassbinder sind nicht mystifizierend. Der Komponist Peer Raben, der Autor Hans Magnus Enzensberger, der Regisseur Werner Schroeter, der Modeschöpfer Yves Saint Laurent haben für ihre Arbeit und ihr Leben eine große Bedeutung. Sie selbst sieht sich nicht als Star oder Diva. Die 160 Seiten lassen sich gut lesen, man erfährt viel über eine beeindruckende Schauspielerin und Sängerin. Keine Abbildungen. Mehr zum Buch: ingrid-caven-chaos-hinhoeren-singen/
11. Januar 2022
Keine Bilder ohne Worte
Viele Fotografinnen und Filmemacherinnen reflektieren in Texten über ihre Arbeit. Susanne Gramatzki und Renate Kroll haben für ihr Buch 14 ausgewählt, die eine besondere Bedeutung haben. Dies sind die französische Filmpionierin Alice Guy, die österreichische Fotografin Madame D’Ora (bürgerlich: Philippine Kallmus), die französische Filmemacherin Germaine Dulac, die deutsche Regisseurin und Schauspielerin Leontine Sagan, die sowjetische Filmemacherin Esther Schub, die französische Fotografin Claude Cahun, die italienische Fotografin Tina Modotti, die deutsch-niederländische Fotografin Germaine Krull, die deutsche Filmemacherin Leni Riefenstahl, die deutschen Fotografinnen Ilse Bing und Ellen Auerbach, die deutsch-französische Fotografin Gisèle Freund, die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin und die russische Videokünstlerin Olga Chernysheva. Dokumentiert sind längere Zitate aus Briefen, Tagebüchern oder autobiografischen Aufzeichnungen. Zu jeder Person gibt es ein Porträt, das die künstlerische Bedeutung beschreibt. Die entsprechenden Texte stammen von Michael Fleig, Julia Lutz, Susanne Gramatzki, Johanne Mohs, Christiane Post, Kat Lawinia Gorska, Martina Ortrud M. Hartrampf, Renate Kroll, Jadwiga Kamola, Anna-Lena Krämer, Verena Lemke, Christoph Benjamin Schulz und Viola Hildebrandt-Schat. Es ist erstaunlich, wie differenziert und individuell sich die Arbeit mit Bildern in Worte fassen lässt. Eine beeindruckende Publikation. Mehr zum Buch: programm/keine-bilder-ohne-worte/
09. Januar 2022
QUO VADIS, AIDA? (2020)
Juli 1995 in Srebrenica. Aida Selmanagic ist Übersetzerin in einem Friedenscamp der Vereinten Nationen. Sie erlebt die Machtübernahme durch die serbische Armee aus unter-schiedlichen Perspektiven. Im Camp haben tausende bosnische Bürger Schutz gesucht, auch Aidas Mann und ihre beiden Söhne. Der Tatenlosigkeit der UN gegen die serbische Gewalt folgt ein Drama unvorstellbaren Ausmaßes. Die Regisseurin Jasmila Žbanić, bekannt geworden mit dem Film ESMAS GEHEIMNIS (Berlinale-Sieger 2006), lässt uns mit großer Empathie an den Ereignissen teilhaben, sie ist ganz nahe an den Betroffenen und Aida steht im Mittelpunkt. Sie wird von Jasna Ðuriči herausragend gespielt. Acht europäische Länder waren an der Produktion des Films beteiligt, der mit Recht den Europäischen Filmpreis als bester Film 2021 erhalten hat. Bei Farbfilm ist jetzt die DVD des Films erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: filme/quo-vadis-aida/?context=he
07. Januar 2022
Die kleinen Leute gehen ins Kino
Viktoria ist Mitte 40, freie Lektorin, seit 15 Jahren mit dem Medizin-Professor Henrik verheiratet und lebt in einer kleinen Universitätsstadt. Inspiriert durch Hinweise des Studenten Veit, Mitarbeiter im Institut ihres Mannes, entdeckt sie das Kino als Erlebnisort. Sie wird Mitglied im „Club der Cineasten“, übernimmt Film-einführungen und versucht, eine größere Nähe zu Veit herzustellen. Doch der erweist sich als Einzelgänger und verweigert engere Kontakte. Bei anderen Männern ist sie erfolgreicher. Von Henrik wird das Verhalten seiner Frau mit Misstrauen beobachtet. Kino ist für ihn kein kultureller Ort. Der Roman von Morticia Zschiesche beschreibt die Stationen einer Midlife-Crisis und verbindet sie mit Passagen durch die Kinogeschichte. Die Autorin ist Filmwissenschaftlerin und promovierte Soziologin. Siegfried Kracauer gehört zu ihren Leitfiguren. E-Mails sind dramaturgische Wegmarken im Text, und immer wieder sind wir im Uni-Kino zu Gast. Die Lektüre ist durchaus unterhaltsam. Mehr zum Buch: 1861/die-kleinen-leute-gehen-ins-kino
06. Januar 2022
Falladas letzte Liebe
Hans Fallada (eigentlich: Rudolf Ditzen) war ein erfolgreicher Schriftsteller, dessen erste Romane „Bauern, Bonzen, Bomben“ und „Kleiner Mann – was nun?“ 1931 und 32 erschie-nen. Er konnte auch in der NS-Zeit publizieren. Über sein Leben von 1945 bis zu seinem Tod im Februar 1947 hat Michael Töteberg einen Roman geschrieben, der jetzt im Aufbau Verlag erschienen ist. In dokumentarischer Form werden die materiellen und gesundheitlichen Krisen, die persönlichen und schriftstellerischen Hoffnungen erzählt. In zweiter Ehe mit der sehr viel jüngeren Ursula Losch, genannt Ulla, verheiratet, begleitet das Paar eine Morphiumsucht, die zu schweren Auseinandersetzungen, Entzugskuren und Rückfällen führt. Im September 1945 aus der Provinz nach Berlin zurückgekehrt, wohnen sie zunächst in der Meraner Straße in Schöneberg, dann in Pankow, Eisenmengerweg 19. Krankenhaus- und Kuraufenthalte unterbrechen immer wieder die Kontinuität. Vermittelt durch Johannes R. Becher wird Fallada Mitglied des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, kann Texte in der Täglichen Rundschau veröffentlichen und hat Verbindungen zum neu gegründeten Aufbau Verlag. Es entstehen Buchprojekte, die häufig verändert werden. Seine Romane „Alpdruck“ und „Jeder stirbt für sich allein“ schreibt Fallada trotz gesundheitlicher Probleme. Sie werden posthum publiziert. Der Briefwechsel mit seiner Mutter, seiner Exfrau Anna, genannt Suse, seinem früheren Verleger Ernst Rowohlt, auch mit Ulla, wenn sie örtlich getrennt sind, ist rege. Falladas Sohn Ulrich und Ullas Tochter Jutta wohnen bei ihnen und sind Zeugen heftiger Konflikte. Weil Honorare ausbleiben und Ulla zu viel Geld ausgibt, müssen immer wieder Schulden gemacht werden. Die Freundschaft mit Becher ist hilfreich. Töteberg macht uns zu Augenzeugen individueller Schicksale und vermittelt gleichzeitig eine Momentaufnahme der kulturellen Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das ist spannend, bewegend und informativ. Unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: falladas-letzte-liebe/978-3-351-03894-6

