Atom Egoyan

Eine Dissertation, die an der Universität Mainz entstanden ist. Julia von Lucadou untersucht darin die ästhetisch-dramaturgische Entwicklung im Kino von Atom Egoyan (*1960). Egoyan ist ein armenisch-kanadischer Regisseur, geboren in Kairo, der seit 1984 17 Spielfilme realisiert hat, in denen Erinnerung und Gedächtnis ein beherrschendes Thema sind. Die Autorin unterscheidet zwischen Frühwerk und Spätwerk von Egoyan, den Bruch sieht sie im Jahr 1994, in dem der Film EXOTICA entstand. In den Analysen werden sehr präzise Erzählstruktur, Handlungsaufbau und Figurenführung in den Blick genommen. Unkonventionelle Rückblenden spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Spezielle Kapitel sind der Darstellung von Kanada und Armenien gewidmet. Julia von Lucadou ist in der Beschreibung der Filme sehr konkret und kann mit ihrer Sichtweise ohne Einschränkung überzeugen. Eine beeindruckende Dissertation! Keine Abbildungen. Band 75 der Reihe „Filmstudien“, die von Thomas Koebner begründet wurde und derzeit von Oksana Bulgakowa und Norbert Grob im Nomos Verlag herausgegeben wird. Mehr zum Buch: product=29979

Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film

Der Band dokumentiert einen Germanisten-Kongress, der 2014 in Curitiba (Brasilien) stattgefunden hat. 21 Beiträge beschäftigen sich mit Literatur und Film aus dem deutschen Sprachbereich. Dies sind die Texte zum Thema Film: Ute Hermanns (Berlin) richtet den Blick auf die Filme von Fatih Akin und Yasemin Samdereli, die sie als Interpretationen von Grenzgängen sieht. Claudia Dornbusch (Sao Paolo) ver-gleicht den brasilianischen Film O SOM AO REDOR von Kleber Mendonca mit Filmen der Berliner Schule. Guillaume Robin (Paris) untersucht die Filme AUF DER ANDEREN SEITE von Fatih Akin, DIE FREMDE von Feo Aladag und AM ENDE KOMMEN TOURISTEN von Robert Thalheim in ihrer Darstellung von Heimat, Transkulturalität und wandernder Identität. Swen Schulte Eickholt (Paderborn) analysiert das Verhältnis von Fremde und Heimat in Feridun Zaimoglus Roman „Liebesmale, scharlachrot“ und Yasemin Samderelis Film ALMANYA. WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND. Christiane Weller (Melbourne) beschäftigt sich mit den ödipalen Vatergesprächen bei Thomas Harlan, Tilman Jens und Arno Geiger. Die Texte sind theoretisch fundiert und leisten gute Vermittlungsarbeit. Hier noch drei Beiträge zur Literatur, die mir besonders gut gefallen haben: bei Marisa Siguan (Barcelona) geht es um Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung in den Texten von Herta Müller, bei Alison Lewis (Melbourne) um Paar- und Geschlechtermetaphorik in der deutschen Literatur seit 1989, bei Olivia C. Diaz Pérez (Guadalajara) um die autobiografische Konstruktion von Identität in Eugen Ruges Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Auch die anderen Beiträge haben einen weit gespannten Horizont. Mit wenigen Abbildungen. Mehr zum Buch: asp?id=1391

Die Herzlichkeit der Vernunft

Alexander Kluge (*1932) und Ferdinand von Schirach (*1964) sind Juristen, Schriftsteller und informierte, gebildete Menschen. Sie haben fünf Gespräche geführt, in denen es um das Leben, Denken und das Glück der Bescheidenheit von Sokrates, um die Freiheit durch Toleranz von Voltaire, um das Wissen um den Menschen von Heinrich von Kleist, um die Klugheit des Rechts und das Lob der Langsamkeit ging. Diese Gespräche sind unter dem Titel „Die Herzlichkeit der Vernunft“ im Luchterhand Verlag publiziert worden. Ihr Dialog nimmt uns als Leser mit auf eine Reise durch die Jahrhunderte. Ein Gespräch konzentriert sich auf das Theaterstück „Terror“ und dessen Verfilmung durch Lars Kraume, gesendet von der ARD 2016. Als Filmregisseur ist Michael Haneke mehrfach präsent. Kluge: „Ich liebe diesen Meister, aber er gehört, meine ich, zu den größten Pessimisten des Jahrhunderts.“ Schirach: „Um FUNNY GAMES zu sehen, brauchte ich vier Anläufe. Ich ertrage diesen Film kaum. Aber danach verstand ich, was Gewalt eigentlich bedeutet. Oder denken Sie an CACHÉ. Ich war schon zehn Jahre Strafverteidiger, als ich diesen Film sah. Im Kino begriff ich zum ersten Mal, was individuelle Schuld wirklich ist. In LIEBE tötet ein Mann seine demenzkranke Frau. Der Zuschauer verlässt das Kino und denkt anders über die Welt nach. Haneke zwingt uns dazu.“ Ein sehr lesenswertes Buch mit vielen Informationen aus dem Leben von Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach. Eine interessante Rezension des Buches von Fritz Göttler erschien in der Süddeutschen Zeitung: 1.3816968 . Mehr zum Buch: e538179.rhd

Erinnerungskultur in palästinensischen Gebieten

Eine Dissertation, die an der Universität Bremen entstanden ist. Anne Rohrbach untersucht Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum in den besetzten palästinensischen Gebieten. Nach ihrer Einführung mit den postkolonialen Verortungen von Israel, Palästina und der Stadt Jenin im Westjordanland infor-miert sie zunächst über die euro-päische Kolonialpolitik und den Zionismus im Wechselspiel mit palästinensischem Nationalis-mus. Im Mittelpunkt des Textes stehen Theater-Räume und Film-Räume, konkret: das 2006 gegründete „Freedom Theatre“ und das 2010 eröffnete „Cinema Jenin“. Die Idee zu diesem Kino entstand während der Realisierung des Dokumentarfilms DAS HERZ VON JENIN (2008) von Marcus Vetter, der zusammen mit seinem Protagonisten Ismail Khatib ein ehemaliges Kino mit großer Medienresonanz renovieren und ausbauen ließ. Zwei weitere Filme von Vetter (NACH DER STILLE und CINEMA JENIN. DIE GESCHICHTE EINES TRAUMS, beide 2011) dokumentieren diese Aktion für „Ein Kino für den Frieden“. Die Autorin beschreibt das Entstehen der beispielhaften Institutionen mit Empathie und Genauigkeit und erkennt darin auch den symbolischen Wert der Widerstandsräume. 2016 – nach Fertigstellung der Dissertation – wurde das „Cinema Jenin“ geschlossen und zerstört. Eine auch thematisch eher ungewöhnliche Dissertation. Mit wenigen Abbildungen. Mehr zum Buch: c=738

DREAMS REWIRED (2015)

Ein Montagefilm über die „Mo-bilisierung der Träume“, also ein Rückblick auf die Entstehung der technischen Kommunikation, realisiert von Manu Luksch, Martin Reinhart und Thomas Tode. Mit Archivmaterial aus mehr als 200 Filmen vor allem aus der Zeit von 1895 bis 1940 wird die Erfindung des Telefons, des Films, des Radios und des Fernsehens dokumentiert. Die sieben Kapitel heißen „Telefo-nie“, „Bewegtbilder“, „Der Konsument“, „Übertragung“, „Revolution“, „Television“, „Verbunden“. Es geht im Subtext auch um Kontrollieren, Simulieren, Täuschen, Beschleunigen, um Fortschritt und Globalisierung. Den Kommentar in der deutschen Fassung spricht Dörte Lyssewski, in der englischen Fassung Tilda Swinton. Gesendet von arte im November 2017, als DVD jetzt bei Absolut Medien erschienen. Der Film ist beeindruckend montiert, es gibt komische und berührende Momente, das Material stammt aus internationalen Quellen, der Nachspann nennt u.a. die Namen Edison, Porter, Griffith, Chaplin, Kuleshow, Vertow und Eisenstein (auf seinen PANZERKREUZER wird im Kapitel „Revolution“ sehr ausführlich eingegangen), Méliès, Lumière, Clair, Richter, Ruttmann, Seeber und viele andere. Eine kleine Hommage gilt Alice Guy, Frauen spielen in dem Film eine besonders wichtige Rolle. Sehr zu empfehlen! Mehr zur DVD: +MOBILISIERUNG+DER+TRAeUME

Perspektiven des Kinos auf den Raum

Was verbindet und was trennt Film und Architektur? Das wird in diesem Buch in elf Texten untersucht. Der Herausgeber Johannes Binotto legt dafür in seiner Einführung das Funda-ment. Bei Marcel Bächtiger geht es um das bewegte Bild in Film und Architektur. Ulrike Kuch beschäftigt sich mit dem Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films. Martino Stierli äußert sich zu Eisensteins Theorie der architektonischen Montage. Christoph Eggersglüß richtet den Blick auf Häuser und Straßen im Film. Vinzenz Hediger reflektiert über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film. Binotto sieht den Film als das Unheimliche der Architektur. Im zweiten Teil („On Location“) werden die Schauplätze einer Architektur des Films stärker konkretisiert. Rembert Hüser nimmt einen Schwenk aus dem Film BERLIN EXPRESS von Jacques Tourneur als Ausgangs-punkt für eine Erinnerung an die I.G.-Farben-Gebäude in Frankfurt. Andri Gerber befasst sich mit Architektur und Film bei Pasolini und Godard. Bernd Herzogenrath schreibt über die Topo/Logiken in LOST HIGHWAY von David Lynch. Bei Matthias Wittmann geht es um die Raumformen des 3-D-Kinos von Eisenstein bis Godard. Fred Truniger denkt über den öffentlichen Raum als Kino der Attraktionen nach. So wird das Thema Film und Architektur nicht systematisch aufgearbeitet, sondern in durchaus subjektiven Wahrnehmungen dargestellt. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer. Mehr zum Buch: perspektiven-des-kinos-auf-den-raum/

Experimente zwischen Dokumentar- und Spielfilm

Eine Dissertation, die an der Universität Marburg entstanden ist. Philipp Blum untersucht darin beispielhafte Experimente zwischen Dokumentar- und Spielfilm und zieht Schlussfol-gerungen „Zu Theorie und Praxis eines ästhetisch ’queeren’ Filmensembles“. Seine Zugänge zu Genrevariationen zwischen Fakt und Fiktion beginnen mit verschiedenen Definitionen und nutzen den Film VÉRITÉS ET MENSONGES (1973) von Orson Welles, besser bekannt als F FOR FAKE, als Einstieg zum Hauptteil, der jeweils zwei Analysen zu einem Thema verbindet. Um „filmische Erinnerung zwischen Geschichtlichkeit und Phantastik“ geht es in THE FORBIDDEN QUEST (1993) von Peter Delpeut und FORGOTTEN SILVER (1995) von Costa Botes und Peter Jackson. Um „spektakulär spekulierende Reportagen“ handelt es sich bei DIE DELEGATION (1970) von Rainer Erler und OPÉRATION LUNE (2002) von William Karel. „Sich selbst filmende Filme im Film“ sind THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) von Daniel Myrick und Eduardo Sánchez und C’EST ARRIVÉ PRÈS DE CHEZ VOUS (1993) von Rémy Belvaux u.a. Die Analysen sind theoretisch gut fundiert In einem letzten Kapitel werden noch die Filme HOTEL VERY WELCOME (2007) von Sonja Heiss und KAMPF DER KÖNIGINNEN (2011) von Nicolas Steiner auf ihren „queeren“ Charakter untersucht. Ein interessanter Beitrag zum Spiel mit der Realität im Film. Mit kleinen Schwarz-weiß-Abbildungen im Text und Farbtafeln im Anhang. Beides in guter Qualität. Band 19 der Reihe „Aufblende“.Mehr zum Buch: dokumentar-und-spielfilm.html

„Wiener Straße“ von Sven Regener

Zeit: November 1980. Ort: Berlin-Kreuzberg. Personal: die vielen Männer und wenigen Frauen, die uns seit dem Roman „Herr Lehmann“ (2001) ans Herz gewachsen sind, also Frank Lehmann, für die Reini-gung des Café Einfall zuständig, Erwin Kächele, Besitzer des Cafés, dessen rebellische Nichte Chrissie, die dringend einen Job braucht, die Künstler H. R. Ledigt und Karl Schmidt, die mit der Vorbereitung einer Ausstel-lung beschäftigt sind, der Chef der ArschArt-Galerie P. Immel, sein engster Mitarbeiter Karsten 1, genannt Kacki, dazu kommen die Gruppen-Mitglieder Jürgen 1, 2, und 3, Michael 1, 2 und 3, Karsten 2, Holger, Gunnar, Heiner und Enno, der Taxifahrer Marco, ein Fernsehteam unter Leitung von André Prohaska, Chrissies Mutter Kerstin, Erwins schwangere Frau Helga und der Kontaktbereichs-beamte (KOB) als Vertreter der Ordnung. Es geht um die Renovierung des ersten Stockwerks, den Einkauf einer Grabgabel und einer Ketten-säge im Baumarkt, die Öffnung des Cafés ab 10 Uhr, wo künftig Kuchen, Kaffee und Kakao angeboten werden sollen, die Kunstobjekte in der „Neuen Neuen Nationalgalerie“, eine Reportage fürs ZDF, die Weineinkäufe für die Vernissage der Ausstellung „Haut der Stadt“ und die dramatische Eröffnung mit Polizeieinsatz. Es wird viel geredet (und dabei auch wirklich berlinert), die Streitigkeiten finden auf allen Ebenen statt, die Handlungsstränge sind dramaturgisch geschickt verbunden. Ein unterhaltsamer Berlinroman. Mehr zum Buch: 978-3-462-31749-7/

Die Suche nach dem Stillen Ort

Ralf Zwiebel ist Psychoanaly-tiker in Kassel, Gerald Wei-schede arbeitet als Zen-Meister in Göttingen. Gemeinsam haben sie in diesem Buch filmpsycho-analytische Betrachtungen zum Buddhismus formuliert. In einer kurzen Einführung äußern sie sich zur Filmpsychoanalyse und zum Verhältnis zwischen Buddhismus und Psychoana-lyse. Drei Filme stellen sie in den Mittelpunkt ihrer Unter-suchung: WARUM BODHID-HARMA IN DEN OSTEN AUFBRACH (1989) von Yong-Kyun Bae, FRÜHLING, SOMMER, HERBST, WINTER…UND FRÜHLING (2003) von Kim Ki-Duk und SAMSARA (2001) von Pan Nalin. Es geht jeweils um den buddhistischen Hintergrund, um die Visualisierung menschlicher Problemlagen, die Darstellung von Wandlungsprozessen und die Filme als Spiegel der eigenen Subjektivität. Die Analysen sind sehr konkret und gut verständlich. Die Filme werden anschließend mit psychoanalytischen Wirkungsmodellen konfrontiert. Ganz am Ende beschreiben die beiden Autoren individuell ihren Zugang zum Buddhismus und ihre persönlichen Erfahrungen. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Coverfoto aus dem Film von Kim Ki-Duk. Mehr zum Buch: t-0/1091581/

Eine neue Heimat im Kino

Eine Dissertation, die an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist. Verena Feistauer untersucht darin „Die Integra-tion von Flüchtlingen und Vertriebenen im Heimatfilm der Nachkriegszeit“. Sie definiert zunächst die Begriffe „Heimat“ und „Identität“ sowie das Genre „Heimatfilm“. Dem Hauptteil ist ein Exkurs über Flüchtlinge und Vertriebene in sieben „Trüm-merfilmen“ vorangestellt, darunter IRGENDWO IN BERLIN, IN JENEN TAGEN, ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN, FILM OHNE TITEL und LIEBE 47. Fünf detaillierte Filmanalysen bilden den Mittelpunkt der Untersuchung, es handelt sich um GRÜN IST DIE HEIDE (1951) von Hans Deppe, WENN AM SONTAGABEND DIE DORFMUSIK SPIELT (1953) von Rudolf Schündler, ÄNNCHEN VON THARAU (1954) von Wolfgang Schleif, WALDWINTER (1955/56) von Wolfgang Liebeiner und HEISSE ERNTE (1956) Hans H. König. Zwölf weitere Filme, darunter DER FÖRSTER VOM SILBERWALD, DIE MÄDELS VOM IMMENHOF, JOHANNISNACHT, WENN DIE HEIDE BLÜHT und WILDE WASSER, werden im letzten Kapitel behandelt. Die Autorin verirrt sich in ihrem Text nie im Labyrinth von Definitionen, ihre Analysen sind sehr genau, vermitteln konkrete Erkenntnisse, die man mit Gewinn liest. Aus meiner Sicht: eine vorbildliche Publikation, bei der man es auch nicht bedauert, dass auf Abbildungen verzichtet wurde. Mehr zum Buch: 48259445/