Ermächtigung durch Sichtbarkeit?

Eine Dissertation, die an der Universität Eichstätt-Ingolstadt entstanden ist. Gerhard Schönhofer untersucht darin Filmprojekte mit flucht-erfahrenen Jugendlichen in Deutschland. Ausgangspunkt ist das Jahr 2015 mit den Polaren „Willkommenskultur“ und „Der lange Sommer der Migration“. Im Mittelpunkt der Studie stehen Workshops, an denen der Autor teilnehmen konnte. Hier entstanden zahlreiche Kurzfilme, die das Thema Einwanderung anschaulich machten. Projektleitung und teilnehmende Jugendliche befanden sich oft in einem Spannungsfeld. Wir werden mit unterschiedlichen Personen vertraut, die in Gesprächen ihre Erfahrungen schildern. Der Filmprozess und die Frage der individuellen „Sichtbarkeit“ spielen dabei eine zentrale Rolle, aber auch die ethnografische Diversität ist natürlich groß. Der Text erfüllt wissenschaftliche Ansprüche und kann als Basiswerk für die Bereiche Medienpädagogik und Kulturanthropologie gesehen werden. Mehr zum Buch: ermaechtigung-durch-sichtbarkeit/?number=978-3-8376-6061-6

Alice in Illness

Kranke Frauen im Film liegen in der Regel allein im Bett, ihre Augen sind geschlossen oder offen, sie lächeln selten und leiden viel, sie hoffen auf Genesung, manchmal aber vergebens, und wir Zuschauer sind nahe bei ihnen. 86 Schwarzweißabbildungen in dem Buch „Alice in Illness“ zeigen Gesichter kranker Frauen auf Kopfkissen. Viele sind uns in guter Erinnerung wie Bette Davis in DARK VICTORY, Kristina Söderbaum in OPFERGANG, Ingrid Bergman in NOTORIOUS, Olivia de Havilland in THE SNAKE PIT, Marilyn Monroe in NIAGARA, Kim Novak in VERTIGO, Tippi Hedren in MARNIE, andere eher fremd wie Pina Menichelli in STORIA DI UNA DONNA, Anne Shirley in THREE ON A MATCH, Takamine Hideko in ONNA GA KAIDAN O NOBORU TOKI oder Jeanine Berlin in THE HEARTBREAK KID. Aber das Spektrum des Leidens ist groß und die Filmgeschichte kranker Frauen lang. Mit 37 Seiten ist der Essay „Betrachtungen zur weiblichen Schauspielkunst“ von Claudia Siefen-Leitich relativ kurz. Zitiert werden u.a. Alice James, Béla Balázs, Johann Wolfgang von Goethe, Georges Canguilhem, Jules Michelet, Oscar Wilde, Owen Meredith, Coventry Patmore, Mary Shelley und Robert Burton. Die Gedanken der Autorin sind sprunghaft, gelegentlich redundant und manchmal originell. Es sind vor allem die Fotos, mit denen man sich bei der Lektüre beschäftigt. Coverfoto: Susan Hayward in SMASH-UP – THE STORY OF A WOMAN (1947) von Stuart Heisler. Mehr zum Buch: titel/710-alice-in-illness.html

FLUCH DER VERLORENEN (1952)

Dies ist ein früher Western von Budd Boetticher, den er selbst für keinen sehr guten Film hielt. Aber er hat aus heutiger Sicht viele Qualitäten. Erzählt wird die Geschichte der Halbbrüder Dan und Neil Hammond, die aus dem Bürgerkrieg auf die Farm ihrer Eltern in Texas zurückkehren. Während Neil den gewohnten Pflichten nachgeht, versucht Dan in einer Pokerrunde zu Geld zu kommen. Die wird von dem Rinderbaron Cord Hardin disponiert, in dessen Frau Lorna sich Dan verliebt. Er verzockt sich beim Spiel und beginnt illegale Geschäfte in der mexikanischen Zona libre. Es kommt zum Konflikt mit Hardin, der von Dan erschossen wird. Vor Gericht wird dies durch Lornas Aussage als Notwehr eingestuft. Dans Macht wächst, es gibt einen Aufstand der Bürger, Dan flieht nach Mexiko, aber am Ende steht er im Showdown seinem Halbbruder Neil und seinem Vater Ira Hammond gegenüber. Der 80-Minuten-Film har seine größten Stärken durch die Darsteller. Robert Ryan als Dan, Rock Hudson als Neil, Julie Adams als Lorna und John McIntire als Ira sind grandios. Kameraführung und Montage sorgen für effektvolle Actionszenen. Boetticher unterschätzte sein Frühwerk. Bei Koch Media ist jetzt die Blu-ray des Films erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur Blu-ray: film/fluch_der_verlorenen_blu_ray/

Paul Abraham

Der Komponist Paul Abraham (1892-1960), ungarischer Herkunft, hat in Budapest Komposition studiert, wurde Kapellmeister am Haupt-städtischen Operettentheater, war dort erfolgreich mit der Operette „Viktoria“ und beteiligte sich mit einem Lied am ersten deutschen Tonfilm MELODIE DES HERZENS (1930). Er zog nach Berlin und wurde kurzfristig zum gefragtesten Komponisten der Operette und des Films. Zu seinem Stil gehörten Elemente des Jazz. Mit VIKTORIA UND IHR HUSAR (1931) und DIE BLUME VON HAWAII (1933), beide inszeniert von Richard Oswald, DIE PRIVATSEKRETÄRIN (1931, Regie: Wilhelm Thiele) und DAS BLAUE VOM HIMMEL (1932, Regie: Victor Janson) nahm seine Karriere weiter Fahrt auf. Aber nach der Machtergreifung der Nazis kehrte er nach Budapest zurück, hatte in Österreich und Ungarn noch einige Erfolge und ging 1940 über Paris ins Exil nach New York. Er hatte dort wenig berufliche Möglichkeiten und erkrankte an Schizophrenie. 1956 kehrte er nach Deutschland zurück und starb vier Jahre später in Hamburg. Klaus Waller hat eine hervorragend recherchierte Biografie über Paul Abraham verfasst, die zunächst als Book on Demand erschienen ist und jetzt vom Verlag für moderne Kunst in Wien vertrieben wird. Mit Beiträgen von Henning Hagedorn, Anna Mária Kemény und einem Gespräch von Barry Kosky und Adam Benzwi. Viele Abbildungen in guter Qualität. Unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: paul-abraham-der-tragische-koenig-der-jazz-operette

Liebe und andere Neurosen

Vor zwei Jahren hat Katja Eichinger das Buch „Mode und andere Neurosen“ publiziert. Jetzt geht es um die Liebe. Genauer: um Begehren, Leidenschaft, Lust, Verlieben, Ehe, Zweisamkeit, Familie, Selbstliebe, Freundschaft, Tod und Trennung. In zehn Essays lässt sie uns teilhaben an persönlichen Erinnerungen, macht Ausflüge in die Philosophie und schildert Erlebnisse während der Pandemie. Aufgewachsen in Hessen, ging Katja Hofmann nach dem Abitur nach London, studierte am British Film Institute, arbeitete als Filmjournalistin, heiratete 2006 den Produzenten Bernd Eichinger, der 2011 an einem Herzinfarkt starb. Sie schrieb eine Biografie über ihn („BE“, 2012), machte die Musik zu einem zweiten Lebensinhalt und pendelt heute zwischen München und Berlin. Natürlich spielt Eichinger eine wichtige Rolle im neuen Buch. Auch ihre Eltern und Großeltern werden präsent. Das Persönliche wird immer wieder durch Exkurse in die antike Mythologie oder zu den modernen Denkern unterbrochen. Und es gibt eine schöne Passage über Tristan und Isolde. Die Lektüre ist spannend und amüsant. Mit Fotografien von Christian Werner. Mehr zum Buch: liebe-und-andere-neurosen/978-3-351-05096-2

Écriture féminine im internationalen Film

Der Filmwissenschaftler Andreas Jacke analysiert in seinem beeindruckenden Buch das Werk von vier Filme-macherinnen: Margarethe von Trotta (*1942), Claire Denis (*1946), Chantal Ackerman (*1950) und Sofia Coppola (*1971). Er folgt dabei dem Konzept der Écriture féminine, wie es von der französischen Schriftstellerin Hélène Cixous entwickelt worden ist. Im Hintergrund spielt die Denkweise von Jacques Derrida eine wichtige Rolle. „Die politische Ethik der Schwestern“ ist das Kapitel über Margarethe von Trotta überschrieben, „Die Negativität des Eindringlings“ heißt das Kapitel über Claire Denis, „Die depressive Mutterbindung“ das Kapitel über Chantal Ackermann, Sofia Coppola ist „Die Vater-Tochter“. Detailliert wird in den jeweiligen Filmen die weibliche Handschrift entziffert. Der Autor verfügt über beachtliche Kenntnisse der Filmwissenschaft, der Psychoanalyse und des Feminismus, die er konkret und gut verständlich vermitteln kann. Es gibt keine Abschweifungen ins theoretische Nirgendwo. Deshalb ist die Lektüre spannend. Mit einem Nachwort von Lutz Ellrich. Mehr zum Buch: product_info.php/products_id/3149

Filmjahr 2021/2022

Die Basis für dieses Jahrbuch ist weiterhin der Filmdienst, der als Portal sehr gut funktioniert. Der Rückblick auf das Filmjahr 2021 hat die Überschrift „Auf. Zu. Stopp. Go – Und wie weiter?“ Die Pandemie hatte die Kinos im Würgegriff. Unter den zwanzig besten Kinofilmen des Jahres findet man FIRST COW von Kelly Reichardt, FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE von Dominik Graf, TITANE von Julia Ducournau, NOMADLAND von Chloe Zhao, HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE von Maria Speth, THE POWER OF THE DOG von Jane Campion, DER RAUSCH von Thomas Vinterberg, ANNETTE von Leos Carax, DUNE von Denis Villeneuve, DRIVE MY CAR von Ryusuke Hamaguchi und LIEBER THOMAS von Andreas Kleinert. Es folgt der Blick auf 15 bemerkenswerte Serien. Fünf Gespräche und Texte beschäftigen sich mit Filmbranche & Filmkultur, sechs Texte mit Themen und Motiven. Zehn Filmschaffende werden porträtiert, darunter die Schauspielerinnen Vicky Krieps (von Esther Buss), Maren Eggert und Lubna Azabai (von Cosima Lutz), der Schauspieler Matt Damon (von Patrick Holzapfel), die Regisseure Abbas Kiarostami (von Lukas Foerster), Denis Villeneuve (von Stefan Stiletto) und Satyajit Ray (von Michel Ranze). Eine Hommage von Patrick Holzapfel gilt Bob Dylan und er feiert auch den 100. Geburtstag von Simone Signoret. Fünf Interviews mit Franz Rogowski, Maria Speth, Dominik Graf, Alexander Kluge und Janna Ji Wonders beschäftigen sich mit dem deutschen Kino, in fünf Gesprächen mit Ildiko Enyedi, Anders Thomas Jensen, Jasmila Zbanic, Thomas Vinterberg und Iclair Bollain geht es um das internationale Kino. Acht längere Nachrufe nehmen Abschied von Tamara Trampe, Jean-Paul Belmondo, Tatjana Turanskyj, Richard Donner, Libuse Safrankova, Monte Hellman, Hanns Eckelkamp und Cicely Tyson. Es folgen 71 kurze Nachrufe. Auf Seite 227 beginnt das „Lexikon des internationalen Films“ mit Kurzkritiken und filmografischen Daten. Im Anhang findet man die Auflistung der wichtigsten Preise. Redaktion: Jörg Gerle, Felicitas Kleiner, Josef Lederle und Marius Nobach. Als Filmbuch für mich weiterhin unverzichtbar. Coverfoto: DER RAUSCH von Thomas Vinterberg. Mehr zum Buch: filmjahr-2021-2022-lexikon-des-internationalen-films.html

WALCHENSEE FOREVER (2021)

Der Walchensee in Bayern ist Heimatort einer Familie seit fünf Generationen. 1920 gründete dort Apa Bucherer mit ihrem Mann ein Ausflugscafé, das bis heute existiert. Die Filmemacherin Janna Ji Wonders ist ihre Urenkelin und hat sich auf eine Spurensuche begeben, bei der reiches Material zu finden war: frühe 8mm-Aufnahmen, Fotos, Briefe, Dokumente. Apas älteste Tochter Norma Werner übernahm das Café und führte es bis zu ihrem 88. Geburtstag. Ihre Töchter Anna und Frauke fuhren in den 1960er Jahren durch die Welt auf der Suche nach Glück und Erleuchtung. Sie lebten lange in den USA und Mexiko, Anna zog es auch nach Ashram in Indien, während ihre Schwester in einer Silvesternacht bei einem Verkehrsunfall starb, man vermutet Suizid. In einer Hippie-Kommune in den USA wurde Anna 1978 schwanger und brachte ihre Tochter Janna Ji zur Welt. Sie kehrte nach Deutschland zurück und übernahm von ihrer Mutter das Café. Dort wurde sie oft von Rainer Langhans und Jutta Winkelmann besucht, mit denen sie seit 1972 befreundet war. Der Film von Janna Ji Wonders macht speziell die 60er und 70er Jahre präsent, Rainer Langhans erinnert sich an viele Situationen, auch Anna, gelernte Fotografin, kann wunderbar erzählen. Es sind vor allem die starken Frauen, die in fünf Generationen Dominanz haben. Bei farbfilm*verleih ist gerade die DVD des Films erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: filme/walchensee-forever/?context=cinema

Die Welt von AVATAR

Das großformatige Bilderbuch, zusammengestellt von Joshua Izzo, entführt uns in das Universum von James Camerons AVATAR. Die Texte der acht Kapitel informieren über die Welt Pandora mit Hallelujah-Bergen und Regenwald, Flora, Fauna mit Thanator, Natterwolf, Schreckenspferd, fliegenden Tieren und Wassertieren, die Na’vi mit Zeremonien und Riten, Clans der Na’vi, die heilige Stätten mit dem Baum der Seelen und dem Baum der Stimmen, das Interstellare Vehikel Venture Star, das die Transporte zwischen der Erde und dem Sternensystem Alpha Centauri bewältigt, und Neuanfänge jenseits des Regenwalds. Auch das Forscherteam der RDA-Wissenschaftsabteilung wird porträtiert: Dr. Grace Augustine, Dr. Norm Spellman, Dr. Max Patel . Zum Sicherheitsdienst gehören Parker Selfridge, Corporal Lyle Wainfleet und die Pilotin Trudy Chacón. AVATAR ist der bis heute erfolgreichste Kinofilm weltweit. Die Einblicke in die Pandorawelt im Buch sind aufschlussreich, die Hintergrundinformationen spannend. Jüngst erschienen bei Dorling Kindersley. Mehr zum Buch: joshua-izzodie-welt-von-avatar-9783831038695

Filmblatt Nr. 78

Seit 27 Jahren gibt es die Zeitschrift Filmblatt, heraus-gegeben von CineGraph Babelsberg. Auch das jüngst erschienene Heft enthält viele lesenswerte Beiträge. Wolfgang Jacobsen erinnert an den Film KÖNIG FÜR EINE NACHT (1950) von Paul May mit Adolf Wohlbrück, Willy Fritsch und Elisabeth Flickenschildt. Guido Altendorf beschreibt die Entstehungsgeschichte der DREIGROSCHENOPER (1962/63) von Wolfgang Staudte mit Curd Jürgens, Hildegard Knef, Gert Fröbe, Lino Ventura und Samy Davis jr. Von Jeanpaul Goergen stammt ein Beitrag über bundesdeutsche Dokumentarfilme zum Thema Jugend und den Interviewfilm MENSCHEN VON MORGEN (1965) von Kees Brusse. Frederik Lang beschäftigt sich mit den kurzfristigen Genreambitionen von Hartmut Bitomsky und Harun Farocki. Gary Vanisian äußert sich zu dem Großstadtwestern ALPHA CITY (1985) von Eckart Schmidt. Tarek Strauch entdeckt als Fundstück das Archiv der „Tödlichen Doris“ in der Deutschen Kinemathek. Bei Philipp Stiasny geht es um den Produzenten Karl Spiehs und die Lisa Film. Michael Grisko vermittelt seine Eindrücke von der Ausstellung „Methode Rainer Werner Fassbinder“ in der Bundeskunsthalle Bonn. Außerdem gibt es DVD-Rezensionen und Buchbesprechungen. Mehr zur Zeitschrift: filmblatt-27-jg-nr-78-fruehjahr-2022/