Technicolor

Im neuen Heft der Schweizer Zeitschrift Filmbulletin (6/2012) ist ein wunderbarer Aufsatz von Johannes Binotto zu lesen: „Übernatürliche Farbe“. Er handelt von der Ästhetik von Technicolor. Dieses legendäre Farbsystem hatte – nach mehreren Vorläufern – seine große Zeit von Mitte der 1930er bis Mitte der 1950er Jahre, beginnend mit BECKY SHARP (1935) von Rouben Mamoulian. Zu den ganz großen Technicolor-Werken gehören THE WIZARD OF OZ (1939) von Victor Fleming, ZIEGFIELD FOLLIES (1945) von Vincente Minnelli, BLACK NARCISSUS (1947) von Michael Powell und Emeric Pressburger, AN AMERICAN IN PARIS (1951) von Vincente Minnelli , SINGIN’ IN THE RAIN (1952) von Stanley Donen und Gene Kelly, MAGNIFICENT OBSESSION (1953) von Douglas Sirk. Meist fungierte Natalie Kalmus als Farbberaterin. Binotto reflektiert am Beispiel dieser Filme über Realität und Übernatürlichkeit der Farben und zitiert mehrfach die farbkompetente Frieda Grafe. Bei der verwendeten Literatur fehlt ein Verweis auf das Buch von Gert Koshofer „Color. Die Farben des Films“ (1988), das die technische Basis vermittelt. Der Aufsatz enthält 62 kleine, aber farbintensive Abbildungen. Und er macht auf die Website von Barbara Flückinger aufmerksam: http://zauberklang.ch/colorsys.php.

Buster Keaton

Heute hat Buster Keaton Geburtstag. Es ist sein 117., es gibt also keinen Grund, ihn besonders zu feiern. Aber da kürzlich bei Zsolnay ein neues Buch über Keaton erschienen ist, kann man die Gelegenheit nutzen, darauf empfehlend hinzuweisen. Klaus Nüchtern (*1961), Kulturredakteur beim Wiener Falter, hat sich – in genauer Kenntnis der umfangreichen vorliegenden Literatur – auf das Stummfilmwerk des amerikanischen Komikers eingelassen, der seit den 1960er Jahren auch in Europa sehr geschätzt wird. THE GENERAL (1925) gilt noch immer als sein Meisterwerk. „Komik in Zeiten der Sachlichkeit“ heißt der Untertitel von Nüchterns Buch. In einem Eingangsessay wird zunächst die Spezifik der Keaton-Kunst und der Buster-Figur entfaltet. Die ersten beiden Kapitel handeln von der Zusammenarbeit mit Roscoe „Fatty“ Arbuckle und von den 19 Kurzstummfilmen. Dann folgen elf äußerst kluge Analysen der Langfilme von OUR HOSPITALITY (1923) bis SPITE MARRIAGE (1929). Und ein letztes, trauriges Kapitel erzählt das Ende von Buster. Die Verfügbarkeit der Filme auf DVD wirkt sich natürlich positiv auf die Genauigkeit der Texte aus. Und Nüchtern hat eine große Fähigkeit, Stilmittel aufzuspüren und ihre Besonderheiten zu vermitteln. Das geschieht nie oberlehrerhaft, sondern mit eigener spürbarer Erkenntnisfreude. So erzielt er eine spezielle Leselust. Am Ende will man die Filme unbedingt wieder sehen.

Die neuen Kriege im Film

Eine Dissertation aus Marburg, betreut von Karl Prümm. Rasmus Greiner (*1983) beschreibt das Phänomen der neuen Kriege, die Medienberichterstattung und die Darstellung im Film an vier Beispielen: Jugoslawien, Zentralafrika, Irak und Afghanistan. Jedes Kapitel ist analog strukturiert: zunächst werden die Bilder der Region in der internationalen Filmgeschichte beschrieben, dann gibt es Chronologie und politische Hintergründe, gefolgt von der Rolle der Medienberichterstattung, und schließlich geht es konkret um die filmische Darstellung. An jeweils zwei oder drei Filmen wird diese dann genauer analysiert. Im Falle Jugoslawien sind es die Filme WELCOME TO SARAJEVO (1997) von Michael Winterbottom, BEHIND ENEMY LINES (2001) von John Moore und NO MAN’S LAND (2001) von Danis Tanovic. Für den Krieg in Zentralafrika stehen BLACK HAWK DOWN (2001) von Ridley Scott, HOTEL RWANDA (2005) von Terry George und BLOOD DIAMOND (2006) von Edward Zwick. Der Irakkrieg ist dargestellt in THE HURT LOCKER (2008) von Kathryn Bigelow, REDACTED (2007) von Brian De Palma und GREEN ZONE (2010) von Paul Greengrass. Der Afghanistankrieg findet in CHARLIE WILSON’S WAR (2007) von Mike Nichols und LIONS FOR LAMBS (2007) von Robert Redford statt. Es handelt sich also weitgehend um bekannte amerikanische Filme. Die Analysen sind, auch mit Blick auf Details, sachkundig und sehr einleuchtend. Mit fast 500 Seiten ein grundlegendes und erkenntnisreiches Buch. Mehr darüber: die-neuen-kriege-im-film-jugoslawien-zentralafrika-irak-afghanistan.html

Kollektive Erinnerung und nationale Identität

Eine Dissertation. Zunächst vertieft sich Gerhard Lüdecker (*1975) in den wissenschaftlichen Diskurs über kollektive Erinnerung und nationale Identität. Das tut er so gründlich, dass erst auf Seite 149, also in der Mitte des Buches, die konkreten Analysen ausgewählter Erinnerungs-filme beginnen. Zunächst wird der Nationalsozialismus behandelt, hier stehen vier Filme im Mittelpunkt: STALINGRAD (1992) von Joseph Vilsmaier, AIMÉE & JAGUAR (1998) von Max Färberböck, SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE (2004) von Marc Rothemund und DER UNTERGANG (2004) von Oliver Hirschbiegel. Hinzu kommen verschiedene TV-Eventfilme. Dann geht es um die DDR und die Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989, beginnend mit DIE ARCHITEKTEN (1990) von Peter Kahane, gefolgt von GO, TRABI, GO (1990) von Peter Timm, WIR KÖNNEN AUCH ANDERS (1993) von Detlev Buck, NIKOLAIKIRCHE (1995) von Frank Beyer, DAS VERSPRECHEN (1994) von Margarethe von Trotta, SONNENALLEE (1999) von Leander Hausmann, DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (1999) von Volker Schlöndorff, GOOD BYE, LENIN! (2003) von Wolfgang Becker und DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Lüdecker lässt sich intensiv auf die Filme ein, konfrontiert sie mit anderen Titeln, untersucht ihren Bezug zu kollektiver Erinnerung und nationaler Identität. Die Filmliste enthält 200 Titel (leider ist sie nicht als Register genutzt). Die Literaturliste ist umfangreich.

Spanische Filme

Zwanzig Filme, beginnend mit L’AGE D’OR (1930) von Luis Buñuel, werden in diesem Band exemplarisch analysiert, in der Mehrzahl stammen sie aus der Nach-Franco-Zeit, die 1975 begann. Aus den 1960er Jahren sind immerhin VIRIDIANA von Buñuel, EL VERDUGO von Luis García Berlanga und LA CAZA von Carlos Saura dabei. Einer meiner Lieblingsregisseure, Almodóvar, ist mit PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN (1980) und TODO SOBRE MI MADRE (1999) vertreten. Und der jüngste Film, MI VIDA SIN MÍ von Isabel Coixet stammt aus dem Jahr 2003. Spanische und deutsche Autoren, meist Professoren/innen der Romanistik, haben bei diesem Buch eng zusammengearbeitet, koordiniert von dem Regensburger Kulturwissenschaftler Ralf Junkerjürgen (*1969), der vor drei Jahren ein ähnliches Buch über spanische Romane publiziert hat. Wir wissen (ich weiß) zu wenig über das spanische Kino. Da macht so ein Filmführer einen Sinn, weil er die einzelnen Titel in einen größeren – auch politischen – Zusammenhang stellt. Insofern auch ein Beitrag zur europäischen Stabilisierung. Mehr über das Buch: www.esv.info/978-3-503-12201-1.

Was wäre, wenn …

Vier Jahre hat Verena Schmöller in Regensburg an dieser Dissertation gearbeitet, es geht um Spielfilme mit alternativen Handlungsverläufen. Ein Klassiker des Forking Path-Films ist IT’S A WONDERFUL LIFE (1946) von Frank Capra, in dem ein Engel einen verzweifelten Mann (James Stewart) vor dem Selbstmord bewahrt und „filmische Gabelungen“ öffnet. Er dient der Autorin als Modell. Dies sind die zwölf anderen analysierten Filme: PRZYPADEK (1987) von Krzysztof Kieslowski, BACK TO THE FUTURE, 3 Teile (1985-1990) von Robert Zemecki, GROUNDHOG DAY (1993) von Harold Ramis, SMOKING/NO SMOKING (1993) von Alain Resnais, LOLA RENNT (1998) von Tom Tykwer, THE MAN WITH RAINS IN HIS SHOES (1998) von Maria Ripoll, SLIDING DOORS (1998) von Peter Howitt, THE FAMILY MAN (2000) von Brett Ratner, MOROR (O NO) (2000) von Ventura Pons und MELINDA AND MELINDA (2004) von Woody Allen. Die Analyse der Typologie ist sehr konkret. In einer Schlussbetrachtung werden Formen und Funktionen, Auslöser und Tendenzen filmischer Gabelungen noch einmal auf den Punkt gebracht. Mit Grafiken und Abbildungen. Mehr über das Buch: was-waere-wenn-im-film.html

Erzählen in einer anderen Dimension

Vor sechs Jahren hat sich Andreas Becker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main, mit der zeitlichen Modulation im Dokumentar-film beschäftigt. Jetzt geht es um Zeitdehnung und Zeitraffung im Erzählkino. Seine Leitlinien stammen aus der Phänomenologie Edmund Hussels. Auf 80 Seiten werden die theoretischen Voraussetzungen geklärt, dann folgen Beispielanalysen, beginnend mit Scorseses RAGING BULL. Drei Filme stehen für situatives Erzählen: BONNIE AND CLYDE, THE WILD BUNCH und THE UNTOUCHABLES. Ein Exkurs widmet sich den Martial Arts, den Kampfdarstellungen im Western und in Asien. Ein eigenes Kapitel ist den Olympia-Filmen gewidmet. Um Absencen geht es in Filmbeispielen von Werner Herzog, Wong Kar-wai, Gus Van Sant und Michelangelo Antonioni. Das Schlusskapitel handelt von Stanley Kubrick, Lars von Trier und Andrej Tarkowskij. Die Darstellung ist konzentriert und konkret. Mehr über das Buch: www.buechner-verlag.de/index.php/programm/becker

Global Bodies

Zwanzig Aufsätze zu medialen Repräsenta-tionen des Körpers: im Film, im Computer-spiel, im dreidimensionalen Bild, in Musikvideos, im Videoclip, im Aktionsbild. Einige Texte nehmen sich Regisseurinnen oder Regisseure vor: Philippe Grandrieux, Claire Denis, David Cronenberg, Olivier Assayas, zwei konzentrieren sich auf einen Film: BLACK SWAN (2010, Titelfoto) von Darren Aronofsky, VALHALLA RISING (2009) von Nicolas Winding Refns; andere untersuchen das neue französische Genrekino, den spanischen Horrorfilm, den russischen Kriegsfilm der Gegenwart oder, genereller, „pornografische Geschlechterkämpfe im narrativen Spielfilm“. Viel Blut, Sexualität und Genderfragen. Es empfiehlt sich, zuerst die Textbeschreibungen der einleitenden Bemerkungen lesen, da trennen sich – je nach eigenem Interesse – schon Spreu vom Weizen. Die beiden Herausgeber, Ritzer (Mainz) und Stiglegger (Siegen), wissen natürlich, was auf der akademischen Agenda steht. Es geht ihnen um den Körper als „kulturelles Konstrukt“. Mit vielen Abbildungen.

Liebe – Das Buch

Hanekes Film, der gerade in den deutschen Arthouse-Kinos läuft, muss man sehen, auch wenn er sehr schmerzhaft ist. Und es lohnt sich, das Buch zu konsultieren, das den Eindruck noch einmal vertieft. Im Mittel-punkt steht das Drehbuch, das den Purismus des Films, sein elliptisches Erzählen und seine Sensibilität für viele Details erinnernd vor Augen führt. In seinen Ablauf sind zwei zusätzliche Informationsebenen eingefügt: zahlreiche Seiten aus dem deutschen Regiedrehbuch mit Einfügungen und Zeichnungen und aus dem französischen mit Storyboards und Notizen. Blicke in den Produktionsprozess. Dazu kommen viele große Stills aus dem Film. Von Georg Seeßlen stammt ein kluges Nachwort, das den Film in einen Werkzusammenhang von Haneke stellt. Mehr zum Buch: html?isbn=978-3-446-24027-8

Poetik der Schärfenverlagerung

Tereza Smid ist inzwischen Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Das Buch ist ihre Dissertation, die von Christine Noll Brinckmann betreut wurde. Als Brillenträgerin ist die Autorin für ihr Thema sensibilisiert. Sie strukturiert es in drei Kapitel: Gegenstand und Geschichte / Bild und Raum / Emotion und Narration. Ihr Blick ist auf das westliche Kino konzentriert, sie unternimmt aber auch einen Ausflug nach Japan und China (und vergisst dabei Yasujiro Ozu nicht). Es ist erstaunlich, wie die technischen und ästhetischen Phänomene von Bildschärfe und ihrer Verlagerung sich in der Filmgeschichte entwickelt haben und immer wieder vor allem auf zwei Konstante zurückführen: die Aufmerksamkeitslenkung und die Charakterisierung von Figurenbeziehungen. Smid zieht sehr viele Beispiele heran und nutzt intensiv DVD-Screenshots, um ihre Thesen zu visualisieren, was gerade bei diesem Thema unabdingbar ist. Fast 300 Fotos begleiten das Buch an der oberen Kante der Seiten. Auch wenn sie nur klein sind, geben sie eine Vorstellung von der Bedeutung der Szenen. Die Erforschung des Themas geschieht sehr komplex und auf beeindruckende Weise. Band 29 der „Zürcher Filmstudien“ und – wie gewohnt bei dieser Reihe – hervorragend gedruckt. Mehr über das Buch: poetik-der-schaerfenverlagerung.html