Klassiker des Fernsehfilms

2013.FernsehfilmEinerseits weckt die Lektüre des Buches Erinnerungen an wichtige Fernseherlebnisse. Zum Beispiel an Egon Monks KZ-Film EIN TAG (1965), an Martin Eckermanns DDR-Fünfteiler WEGE ÜBERS LAND (1968), an Tom Toelles/ Wolfgang Menges Vision EIN MILLIONENSPIEL (1970), an Axel Cortis österreichischen Zweiteiler EINE BLASSBLAUE FRAUEN-SCHRIFT (1984). Rund 300 Filme aus 60 Jahren Fernsehgeschichte hat Thomas Bräutigam (*1958) für sein Buch ausgewählt, sie sind von A bis Z gelistet. Zu jedem Titel gibt es Credits und Cast, eine kurze Inhaltsangabe, eine vorsichtige Bewertung und ein Zitat aus einer zeitgenössischen Kritik. Oft sind den Texten Verweise auf themengleiche Filme angefügt. Alles gut zu lesen. Bräutigams Lieblingsregisseure sind Dominik Graf und Peter Beauvais (je 11 Titel), Egon Monk (10), Jo Baier, Eberhard Fechner, Dieter Meichsner und Dieter Wedel (je 8). Gegen sie ist überhaupt nichts einzuwenden – aber (jetzt kommt das Andererseits) es fehlen zu viele wichtige Namen und Produktionen. Kein Film von Percy Adlon, Peter F. Bringmann, Imo Moszkowicz, Christian Rischert oder Werner Schroeter. Das „Kleine Fernsehspiel“ des ZDF hat offenbar nicht stattgefunden. Mit 20 Titeln ist der DDR-Fernsehfilm deutlich unterrepräsentiert. Und das Feld des Dokumentarfilms, ein genuines Fernsehgenre, ist nicht bestellt: fünf Filme von Eberhard Fechner sind benannt (das ist ihm zu gönnen), aber kein einziger von Hans-Dieter Grabe, Thomas Schadt oder Klaus Wildenhahn, nichts von Winfried Junge oder Volker Koepp. An FUSSBALL WIE NOCH NIE (1970) von Hellmuth Costard, ZÜNDSCHNÜRE (1974) von Reinhard Hauff  oder WAS SOLL’N WIR DENN MACHEN OHNE DEN TOD? (1980) von Elfi Mikesch wagt man gar nicht zu erinnern. Dagegen werden mehrere Filme aus den Jahren 2011 und 2012 bereits zu Klassikern erklärt. Das leuchtet mir nicht ein, auch wenn der Autor damit offenbar eine Brücke in die Gegenwart bauen will. So hinterlässt die Lektüre gemischte Gefühle. Mehr zum Buch: fernsehgeschichte.html

Von Marburg nach Konstanz

2013.AugenblickDie medienwissenschaftliche Zeitschrift Augenblick gibt es seit Dezember 1985. Sie wurde von Günter Giesenfeld, Thomas Koebner, Wilhelm Solms und Guntram Vogt in Marburg gegründet. Die Nr. 1/2 handelte vom neuesten deutschen Film. Nach 28 Jahren ist die Zeitschrift jetzt nach Konstanz umgezogen. Das neue Herausgeberteam sind Ursula von Keitz, Beate Ochsner, Isabell Otto, Bernd Stiegler und Alexander Zons. Die erste Ausgabe der Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft ist eine Doppelnummer und thematisiert den „Erlebnisraum Kino“. In den drei Kapiteln „Kino als Ort und Öffentlichkeit“, „Kino als Ort ästhetischer Erfahrung und Wissensvermittlung“ und „Veränderungen des Erfahrungsraums ‚Kino’ durch neue Technologien und andere Medien“ sind zwölf Texte zu lesen. Besonders gut gefallen haben mir Johanne Hoppes historischer Exkurs „Schauplatz Metropol“ (über ein Bonner Lichtspielhaus als Spiegel von Kinogeschichte und Filmkultur einer Stadt), Julian Hanichs Überlegungen zur „Wut im Kino“ (wie sich die Verärgerung über einen Film ausdrücken kann), Marcus Stigleggers Reflexionen über „Blicke von der Leinwand“ (Nahaufnahmen des Auges als Affektbilder im Film), Thomas Webers Text „Kollektive Traumata“ (die filmische Inkorporation von traumatischen Erfahrungen im Frühwerk von Alain Resnais) und Ursula von Keitz’ Essay „Das Kino als Reflexionsort von Sinnes- und Geisteserziehung“ (über François Truffauts L’ENFANT SAUVAGE). Die Zeitschrift erscheint weiterhin im Schüren-Verlag in Marburg.

„Berliner Schule“

2013.HochhäuslerDie DVD des Films von Christoph Hoch-häusler ist schon länger auf dem Markt; ich benutze sie heute als eine Brücke. UNTER DIR DIE STADT (2010) ist ein beein-druckender Film, sein Regisseur wird der „Berliner Schule“ zugerechnet. Er hat nicht – wie etwa Thomas Arslan, Christian Petzold oder Angela Schanelec – die dffb absolviert, sondern die Münchner HFF. Er gilt mit seinen Filmen als stilbewusst – wie Ulrich Köhler, Maren Ade oder Henner Winckler. Auch ihre Namen werden genannt, wenn es um die „Berliner Schule“ geht. Die ist in diesen Tagen stark im Gespräch, weil ihr ab Ende November eine große Retrospektive im New Yorker MoMA gewidmet wird. Jetzt kommt meine Brücke in der Form eines Links: zu einem Essay von Georg Seeßlen, der auf seiner Website „GETIDAN“ zu lesen ist. Seeßlen hat im September/Oktober eine Retrospektive zur Berliner Schule in Rio de Janeiro kuratiert. In diesem Zusammenhang entstand sein Text. Er gehört zum Besten, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe. Hier ist der Link: berliner-schule . In den USA erscheinen in diesen Wochen mehrere neue Bücher zur Berliner Schule. Ich komme demnächst auf sie zu sprechen.

Béla Tarr / Jacques Lacan

2013.Innen im ASußenBernhard Hetzenauer (*1981) ist Filmemacher. Er hat an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg studiert. Das Buch basiert auf einer Master-Thesis des Autors und wurde von Hanne Loreck und Pepe Danquart betreut. Es fokussiert sein Thema auf den Blick bei Lacan und den Blick bei Béla Tarr. Die jeweils drei Kapitel heißen bei Lacan „Das Subjekt des Unbewussten“, „Der skopische Trieb“ und „Der Schirm“, bei Tarr „Und immer wieder Regen“, „Von Räumen, Rahmen und Fenstern“ und „Die Nahtstelle“. Im Mittelpunkt steht der Film SATANSTANGO (1994). Hetzenauers Beschreibungen sind genau und konkret. Natürlich wird Béla Tarr-Anhängern vieles vertraut sein, aber jede Publikation über diesen Regisseur ist ja auch als Erfolg zu werten. Das Nachwort stammt von dem österreichischen Autor und Regisseur Michael Pilz. Mehr zum Buch: Das_Innen_im_Aussen.html

Leander Haußmanns Autobiografie

2013.Haußmann 2Der Kinofilm – Leander Hauß-mann (*1959) hat davon immerhin acht realisiert – kommt in dieser Autobiografie eher am Rande vor. Im Zusammenhang mit dem Tod des Vaters Ezard wird von den DINOSAURIERN gespro-chen. Und die Kapitel 37 bis 39 handeln vom HOTEL LUX, von Günter Rohrbach, Martin Moszkowicz, Herman Weigel und vom Floppen des Films. Die anderen Titel – von SON-NENALLEE bis ROBERT ZIMMERMANN WUNDERT SICH ÜBER DIE LIEBE – sucht man vergebens. Aber dieses Buch mit dem Titel „BUH“ – er bezieht sich auf die traumatische Erfahrung einer „Fleder-maus“-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper – ist in seinem Erzählduktus, seiner Assoziationsdramaturgie und seinem Personen-reichtum ein deutsches Panorama vor allem der 1980er und 90er Jahre. Haußmann kann erzählen. Die schönsten Geschichten spielen in der DDR-Zeit, sie handeln von seiner Druckerlehre, von der Ausbildung an der Schauspielschule Ernst Busch, vom Vorsprechen bei Frank Castorf, von Engagements in Gera und Parchim, von Volkspolizei und Stasi, von seinem Freund Uwe Dag Berlin und seiner Freundin Steffi Kühnert, von seiner ersten Frau Christiane und seiner jetzigen Ehefrau Annika Kuhl (mit respektvoller Diskretion), von den Kollegen Norbert Stöß und Henri Wiese, aber auch von der Intendanz in Bochum, dem Gastspiel in Salzburg und dem Aufenthalt in einer Psychoklinik. Es gibt eine „Liebeserklärung“ an Claus Peymann, eine Begegnung mit Edward Bond, eine Reminiszenz an Heiner Müller, einen Besuch von Botho Strauß in der Haußmann-Wohnung in Friedrichshagen und den bereits formulierten Text für einen Nachruf. Viel Lesestoff, ein Bild (Treppen-haus in Friedrichshagen). Das letzte Wort heißt „Ausweiskontrolle!“. Mehr zum Buch: buh/978-3-462-30696-5/

Filmrecht 1919 bis 1939

2013.FilmrechtDie Frankfurter Rechtsanwältin Astrid Ackermann kommentiert in diesem schmalen Buch kurz und verständlich die Entwicklung des Filmrechts in Detschland vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ihre Zäsur ist das Jahr 1929, in dem der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm stattfand. Der Blick ist vor allem auf die soziologische und rechtliche Entwicklung gerichtet. Es geht um die Filmzensur und um das Urheber- und Vertragsrecht. Entscheidende Veränderungen waren natürlich mit der Machtüber-nahme der Nationalsozialisten 1933 verbunden. Das Lichtspielgesetz vom 12. Mai 1920 und das Reichslichtspielgesetz vom 16. Februar 1934 werden präzise erläutert und sind im Anhang abgedruckt. Für eine erste Einführung ins Thema ist die Publikation gut geeignet. Mehr zum Buch: productview.aspx?product=21074

Atomkrieg im Kino

UMS1995.inddDie Herausgeber Tobias Nanz (Siegen) und Johannes Pause (Trier) konzentrieren sich in ihrem Buch „Das Undenkbare filmen“ auf die Analyse von sechs einzelnen Filmen: LA JETÉE (1962) von Chris Marker (Text: Lars Nowak), FAIL-SAFE (1964) von Sidney Lumet (Tobias Nanz), THE WAR GAME (1965) von Peter Watkins (Johannes Pause), CROSSROADS (1976) von Bruce Conners (Eva Kernbauer), THE ATOMIC CAFÉ (1982) von Jayne Loaders und Kevin + Pierce Raffertys (Sascha Simon) und BRIEFE EINES TOTEN (1986) von Konstantin Lopusanskij (Barbara Wurm). Die ursprünglich als Vorträge konzipierten Texte erfüllen wissenschaftliche Ansprüche und rufen die Filme sehr konkret in Erinnerung. Jedem Text ist eine weiterführende Literaturliste angefügt. In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber die Einzelbeiträge in einen größeren medientheoretischen Zusammenhang. 25 Abbbildungen. Das Umschlagfoto zeigt eine Momentaufnahme der Operation Crossroads am 25. Juli 1946 auf dem Bikini Atoll. Mehr zum Buch: ts1995.php

GLÜCKSKINDER (1936)

2013.Glückskinder grösserDies ist ein für die NS-Zeit ungewöhnlicher Film. Ich zitiere den unvergessenen Karsten Witte: „Paul Martins wunderbare Nonsens-Komödie GLÜCKSKINDER (1936) kombiniert männliche Tagträumer und Spinner mit einer entlaufenen Erbin. Beide Seiten machen sich die schönsten Illusionen, ihrer Herkunft zu entrinnen. Lilian Harvey flirtet mit Mickey Mouse, Willy Fritsch liebäugelt mit Clark Gable. Beide tun es ohne Anstrengung. Das schafft Sympathie und Wohlgefallen für die verrückte Harmlosigkeit, die den Ton angibt. Es nimmt der Komödie wenig, führt man sie auf ihr offenes Geheimnis zurück: Sie ist eine Eindeutschung von Frank Capras IT HAPPENED ONE NIGHT (1934) mit Clark Gable und Carole Lombart.“ (aus Karstens Kapitel zum Film im Nationalsozialismus in der „Geschichte des deutschen Films“, 2. Auflage, Stuttgart 2004). Angesiedelt ist die Screwball-Comedy in einer Szenerie zwischen Presse und Öl. Harvey und Fritsch, Oskar Sima und Paul Kemp singen das Lied „Ich wollt’, ich wär ein Huhn…“. Concorde hat jetzt eine DVD der restaurierten Fassung des Films herausgegeben. Mehr zur DVD: 1393,type__dvd.htm

Irritation of Life

2013.IrritationDie Internationalität ist beeindruckend: Loren Scott und Jörg Metelman lehren in der Schweiz (Universität St. Gallen), schreiben auf Englisch und publizieren in Deutschland (Schüren, Marburg) ein Buch über den Österreicher Michael Haneke, den Engländer David Lynch und den Dänen Lars von Trier. Thematisch geht es um das Melodram, um die Elemente des Subversiven und der Irritation, also der Verunsicherung, Verstörung, Verwirrung. Der Titel spielt mit der assoziativen Erinnerung an Sirks Melo IMITATION OF LIFE. 50 Seiten werden für Begriffsklärungen und theoretische Ableitungen aufgewendet, dann geht es (110 Seiten) auf hohem Niveau um die drei genannten Regisseure: Haneke („Irritaded judgment as the ethical condition sine qua non“), Lynch („From attractions to disattractions, and back home again“), von Trier („Misogyny or feminism?“). Mit Querverweisen werden auch andere Filme ins Spiel gebracht. In den analytischen Methoden orientieren sich Scott und Metelmann stark an Elsaessers und Hageners „Film Theory“. Viele Abbildungen, in der Mitte ein 16seitiger Farbteil. Band 43 der „Marburger Schriften zur Medienforschung“. Mehr zum Buch: titel/353–irritation-of-life.html

Ton im Dokumentarfilm

dfi.cover.hohenbergerWie ein kunstvolles Mosaik zur Akustik im Dokumentarfilm wirken die 23 Texte dieses Buches, das der Hamburger Filmemacher Volko Kamensky und der Düsseldorfer Professor für Musikinformatik und Medientheorie Julian Rohrhuber herausgegeben haben. Sie verbinden 15 bedeutsame historische Dokumente – u.a. von John Grierson (2), Jean-Louis Comolli (2), Dziga Vertov und Basil Wright – mit Essays zum breiten Spektrum des Themas aus jüngerer Zeit. Zwei Symposien der Dokumentarfilminitiative im Filmbüro Nordrhein-Westfalen waren offenbar die Initialzündung. Besonders informativ finde ich die Texte von Carolyn Birdsall über die Orchestrierung urbaner Akustik, Vrääth Öhner über die britische Schule und den Realismus des Geräuschs, Gunnar Iversen über die Rolle des Tons in der Theorie des Dokumentarfilms, Randolph Jordan über die audiovisuelle (A)Synchronität in den Medien des 21. Jahrhunderts am Beispiel des Films 9/11 der Brüder Naudet und den Essay der beiden Herausgeber über das Problem des Geräuschs im dokumentarischen Filmton. Schön ist die Exkursion von Michael Girke durch die tönende Welt von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Zum Thema Ton und Getäusch wurden in den letzten Jahren mehrere Bücher publiziert. Dieses hat eine besondere Qualität. Auf Abbildungen wurden logischerweise verzichtet. Mehr über das Buch: titel-ansicht.php?id=162