28. Juli 2021
Das Elend der Medien
Der Titel des Buches hat eine Analogie zum „Elend der Welt“ von Pierre Bourdieu und nähert sich seinem Thema ähnlich wie der französische Soziologie-Klassiker: durch Gespräche. Alexis von Mirbach und Michael Meyen haben zunächst 19 Me-dienmacher und Experten in eine Vorlesungsreihe der Ludwig-Maximilians-Univer-sität München eingeladen, um über die „Zukunft der Medien“ zu sprechen. Dann wurde der Kreis der Befragten um „normale Bürger“ aus Oberbayern, Sachsen und Thüringen erweitert. Die Monologe, Interviews und Gruppengespräche wurden protokolliert und sind nun in geordneter Form nachzulesen. Es geht u.a. um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Regionalpresse, den Kampf um die Definitionsmacht, linken Aktivismus, Medienkritik von unten, Corona-Gespräche, Stimmen aus dem Osten. Zu den 40 Befragten gehören das MDR-Rundfunkratsmitglied Heiko Hilker, die WDR-Moderatorin Carmen Thomas, der Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung Michael Seidel, der Publizist Paul Schreyer, der Journalist Marcus Klöckner, der Autor Volker Bräutigam, der Liedermacher Hans Söllner, die Vorsitzende des Vereins „Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien“ Maren Müller. Aus dem Spektrum individueller Erfahrungen mit den Medien in unserem Land entsteht ein relativ präzises Bild, es mangelt nicht an Verbesserungsvorschlägen. Ob sie das momentane Elend der Medien verändern, bleibt fraglich. Mehr zum Buch: das-elend-der-medien/
27. Juli 2021
Skandalfilme
Vor zehn Jahren publizierte Stefan Volk erstmals sein Buch über „cineastische Aufreger“ der internationalen Filmgeschichte. Jetzt ist eine erweiterte und überarbeitete Neuauflage er-schienen. 41 Titel aus der Zeit zwischen 1919 und 2020 wer-den ausführlich dargestellt: Inhaltsangabe, Gründe für den Skandal, publizistische Reak-tionen. Für die Phase bis 1949 sind es elf Filme, darunter ANDERS ALS DU UND ICH (1919) von Richard Oswald, PANZERKREUZER POTEMKIN (1925) von Sergej Eisenstein, EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) von Luis Buñuel, IM WESTEN NICHTS NEUES (1930) von Lewis Milestone, EKSTASE (1933) von Gustav Machatý. Für die 50er Jahre sind DIE SÜNDERIN von Willi Forst, BABY DOLL von Elia Kazan und DAS MÄDCHEN ROSEMARIE von Rolf Thiele beispielhaft, für die 60er DAS SCHWEIGEN von Ingmar Bergman und SPUR DER STEINE von Frank Beyer, für die 70er O.K. von Michael Verhoeven und NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT von Rosa von Praunheim, für die 80er DAS GESPENST von Herbert Achternbusch und DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI von Martin Scorsese, für die 90er BASIC INSTINCT von Paul Verhoeven und FUNNY GAMES von Michael Haneke, für die 2000er Jahre DIE PASSION CHRISTI von Mel Gibson und TAL DER WÖLFE von Serdar Akar. Drei Filme sind neu hinzugekommen: DIE UNSCHULD DER MUSLIME (2012) von Alan Roberts, THE INTERVIEW (2014) von Evan Goldberg und Seth Rogen, THE HUNT (2020) von Craig Zobel. Die Darstellung von Sexualität, Religion oder Politik waren die vorherrschenden Gründe für den jeweiligen Skandal. Stefan Volks Texte sind sachkundig, Kurzbiografien der Regisseure ergänzen die Filmbeschreibungen, zahlreiche Fotos in guter Qualität tragen zur Anschaulichkeit bei. Ein Basiswerk zum Thema. Mehr zum Buch: cineastische-aufreger-gestern-und-heute.html
25. Juli 2021
FRÄULEIN SCHMETTERLING (1966/2005/2020)
Unter den DEFA-Verbotsfilmen der Jahre 1965/66 ist dies ein besonderer Fall. Es gab Anfang 1966 nur einen Rohschnitt, der nicht vollendet wurde. Auf der Basis des Drehbuchs wurden die erhaltenen Szenen und Tonfragmente neu montiert. Die erste Fassung von 2005 dauerte noch 118 Minuten. Zwei Schwestern, die 17jährige Helene und die sechsjährige Asta, erhoffen nach dem Tod ihrer Eltern ein gemeinsames Leben. Eine strikte Fürsorgerin und eine egoistische Tante kümmern sich um sie. Helene träumt von einem Leben als Stewardess oder Mannequin, wird aber aus mehreren Jobs entlassen, bis sie als Straßenbahnschaffnerin beschäftigt ist. Asta verlässt am Ende ihre Tante, um mit Helene zusammenzuleben. Melanie Jakubisková und Christa Heiser sind als Helene und Asta beeindruckend. Carola Braunbock (Tante), Lissy Tempelhof (Jugendfürsorgerin), Herwart Grosse (Busfahrer), Rolf Hoppe (Stadtbezirksmitarbeiter), Peter Rabenalt (Saxophonspieler) und Hans-Hardt Hardtloff (Betrunkener im Bus) spielen wichtige Rollen. Kurt Barthel hat den Film inszeniert, das Drehbuch stammt von Christa und Gerhard Wolf. Die letzte Fassung von 2020 dauert 68 Minuten. Sie ist jetzt auf einer DVD bei Icestorm erschienen. Sehr sehenswert. Mehr zur DVD: www.icestorm.de/neuheiten/
23. Juli 2021
Klassen sehen
Der Band dokumentiert sechs Beiträge zu einer Tagung, die im November 2019 in Wien statt-gefunden hat. Thema waren „Soziale Konflikte und ihre Szenarien“. Ruth Sonderegger befasst sich mit der „Multiplen Klassifizierung in der (kunst-)universitären Ausbildung“. Markus Tumeltshammer beschreibt „Das Curriculum Vitae als Medium von Subjek-tivierung“. Jens Kastner äußert sich „Zur Klassenausblendung in der bildenden Kunst“. Gabu Heindl untersucht „Aspekte einer massengeschneiderten Wohnbauplanung“. Bei Drehli Robnik geht es um die Filmwahrnehmung von Klasse und Kampf am Beispiel von GET OUT (2017) und US (2019). In den beiden Horror-filmen werden Mittelklassengewalt und Unterklassenaufstand konfrontiert. Renée Winter erinnert an ein Video-Projekt in Graz in den 70er und 80er Jahren, das unter dem Begriff „Arbeiterfernsehen“ firmierte. Proletariat und Bourgeoisie treffen mehrfach im medialen Zusammenhang aufeinander. Lesenswert. Erschienen im Unrast-Verlag. Mehr zum Buch: klassen-sehen-detail
22. Juli 2021
Thomas Koebner 80
Er hat in München studiert, über Hermann Broch promoviert und dort zehn Jahre lang Musik-kritiken geschrieben. An den Universitäten in Köln, Wuppertal und Marburg war er zunächst als Dozent und dann als Professor tätig, leitete von 1990 bis 1993 die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin und gründete in Mainz den Studiengang Filmwissen-schaft, dem er bis zu seiner Emeritierung 2007 höchstes Ansehen verschaffte. Seit fünf Jahren lebt er wieder in seiner Geburtsstadt Berlin. Als Autor und Herausgeber hat er bisher über 70 Bücher publiziert, darunter Monografien über Ingmar Bergman, Federico Fellini, Roman Polanski, Steven Spielberg und Edgar Reitz, Basiswerke über „Idole des deutschen Films“, „Die Schönen im Kino“, Filmklassiker, Filmregisseure, „Sachlexikon des Films“, „Standardsituationen im Film“. Er hat die Verlage Edition text + kritik, Reclam und Schüren durch seine Texte bereichert und verschiedene Buchreihen und Zeitschriften initiiert: „Filmgenres“, „Projektionen“, „medienwissenschaft: rezensionen“, „Film-Konzepte“. Zuletzt erschien vor zwei Monaten sein Buch „Inseln“. Seine Texten verirren sich nie in der Theorie, sie sind präzise in den Beschreibungen und beeindruckend in den Erkenntnissen. Heute wird Thomas Koebner achtzig Jahre alt. Ich gratuliere ihm von Herzen und freue mich schon auf sein nächstes Buch.
21. Juli 2021
Kommunikations- und Mediengeschichte
Wie hat sich in der Mensch-heitsgeschichte die gesellschaft-liche Kommunikation ent-wickelt, also der Austausch von Informationen und Meinungen? Philomen Schönhagen und Mike Meißner schlagen den großen Bogen von der Frühzeit bis in die Gegenwart. Begonnen hat es mit der Versammlungs-kommunikation, also der Präsenz der Beteiligten. Für die Kommunikation über Distanz waren technische Erfindungen notwendig, zum Beispiel der Druck auf Papier, der seit dem 15. Jahrhundert das Medium Zeitung ermöglichte. Im 17. und 18. Jahrhundert differenzierte sich die Presselandschaft, im 19. Jahrhundert entstanden im Zuge der Industrialisierung die Massenpresse, Nachrichtenagenturen, illustrierte Zeitschriften und Generalanzeiger. Elektronische Medien – Rundfunk, Fernsehen, Internet – entwickelten sich im 20. Jahrhundert. Der Text des Buches (150 Seiten) konzentriert sich auf Westeuropa, die Schweiz spielt eine bevorzugte Rolle. Exkurse und Abbildungen konkretisieren die vermittelten Erkenntnisse. Der Anhang enthält eine umfangreiche Bibliografie. Lesenswert. Mehr zum Buch: kommunikations-und-mediengeschichte/
20. Juli 2021
Kontinuität im Wandel
13 Beiträge zu einer Tagung, die am 7. und 8. August 2020 in Bamberg in digitaler Form stattgefunden hat. Allein drei Texte stammen vom Heraus-geber Jörn Glasenapp: sie thematisieren die Roadmovie-Miniatur 3 AMERIKANISCHE LP’S, das slow cinema von Wenders und seine langjährige Beziehung zu dem Ort Butte in Montana. Julian Weinert vergleicht Chris Petits RADIO ON mit der Road-Movie-Trilogie von Wenders. Golnaz Sarkar Farshi nähert sich der Trilogie mit dem theoretischen Blick von Niklas Luhrmann. Mirjam Schmitt bewegt sich durch die Wenders-Welt aus der Sicht der Kritischen Theorie („On the Road mit Adorno“). Sven Weidner beschreibt Hotels und Motels in den Wenders-Filmen ALICE IN DEN STÄDTEN, PARIS, TEXAS und THE MILLION DOLLAR HOTEL. Katharina Stahl befasst sich mit der Musikdokumentation BUENA VISTA SOCIAL CLUB. Bei Katharina Rajahi geht es um Wenders, Antonioni und die Fotografie. Petra Anders äußert sich zur Disability bei Wenders. Matthias Hurst erinnert an DON’T COME KNOCKING und den langen Abschied vom Amerikanischen Traum („How the West Was Lost“). Felix Lenz stellt Wenders und Terrence Malick gegenüber („Alterswerk, Zeitfiguren, geteilte Vorbilder“). Matthias Braun reflektiert über Wenders’ expanded scenography in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ und SUBMERGENCE. Alle Texte haben ein hohes theoretisches Niveau. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: www.etk-muenchen.de
18. Juli 2021
DIE FRAU MIT DEN FÜNF ELEFANTEN (2009)
Swetlana Geier (*1923) war eine herausragende Übersetzerin aus dem Russischen, ihrer Mutter-sprache, ins Deutsche. Sie wurde in Kiew geboren, verließ die Ukraine 1943, wählte Deutschland zur Wahlheimat und lebte in Freiburg. Zwischen 1994 und 2006 hat sie die fünf großen Romane „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karama-sow“ und „Ein grüner Junge“ von Fjodor Dostojevski neu übersetzt. Der Dokumentarfilm von Vadim Jendreyko ist ein Porträt der charismatischen Frau. Der Regisseur begleitete sie auf einer Reise an die Orte ihrer Jugend, die sie seither nie besucht hatte. Ihr Vater wurde 1939 Opfer stalinistischer Säuberungen. Neben ihrer Tätigkeit als Übersetzerin hat sie in Deutschland an den Universitäten in Freiburg und Karlsruhe gelehrt. Sie starb im November 2010 im Alter von 87 Jahren. Der Film über sie ist beeindruckend, weil er eine Lebensgeschichte erzählt, die von schrecklichen Erlebnissen und großen Erfolgen geprägt war. Sie bleibt immer in Erinnerung. Bei Absolut Medien ist jetzt die Sonderausgabe der DVD erschienen, die jedem zu empfehlen ist, der den Film noch nicht gesehen hat. Und wer ihn schon kennt, sollte ihn sich noch einmal ansehen. Mehr zur DVD: 5+ELEFANTEN+%28Sonderausgabe%29
16. Juli 2021
„Schöner denn je“
Der neue Roman von Hans-Ulrich Treichel konfrontiert in einem Psychodrama die Unter-schiedlichkeit von zwei Schul-kameraden, die sich in den 80er Jahren in Westberlin wieder-begegnen. Der Ich-Erzähler Andreas wollte immer so sein wie Erik, der bei allen beliebt war, bessere Schulnoten und größere sportliche Erfolge hatte. Erik studiert dann Architektur und macht Karriere als Film-architekt, die ihn bis nach Hollywood führt. Andreas studiert Romanistik, findet eine Stelle in der Lehrerfortbildung und ist Cineast. Er verehrt vor allem die Schauspielerin Hélène Grossman. Als sich Andreas und Erik in Berlin wiedersehen, ist die Ehe von Andreas gerade in die Brüche gegangen. Er sucht für eine Übergangsphase eine Wohnung. Erik muss für drei Monate in die USA und bietet Andreas seine Achtzimmer-wohnung in der Schlüterstraße an. Ein guter Deal. Nach zwei Wochen meldet sich am Telefon Hélène Grossman, die zu Synchronarbeiten in Berlin ist und im Hotel Kempinski wohnt. Es kommt zu Begegnungen zwischen Andreas und Hélène, die Anrufe von Erik aus den USA werden falsch beantwortet. Kurzfristig gewinnt Andreas sein Duell mit Erik. Der 170-Seiten-Roman hat starke Momente, aber auch einige Redundanzen. Westberlin ist sehr präsent. Mehr zum Buch: schoener-denn-je-t-9783518429730
15. Juli 2021
„Trio“
Schauplatz des neuen Romans von William Boyd ist das engli-sche Seebad Brighton. Zeit: Sommer 1968. Der Strand und die nähere Umgebung sind die Location für ein verrücktes Filmprojekt mit dem Titel „Emily Bracegirdles außer-ordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“. Die Dreharbeiten sind konfliktreich. Es verschwindet Filmmaterial, die beiden Produzenten liegen im Streit, eine junge Drehbuchautorin verändert das Script, der Regisseur verliert die Übersicht. Wir begleiten drei Personen durch chaotische Wochen: Den Produzenten Talbot Kydd, der zwar am Set die Übersicht behält, aber mit einem persönlichen Problem zu kämpfen hat, seiner unausgelebten Homosexualität. Die Hauptdarstellerin Anny Viklund, die von Beruhigungs- und Aufputschmitteln abhängig ist, eine Liaison mit ihrem Filmpartner beginnt, mit einem amerikanischen Linksradikalen verheiratet war, der in Brighton auftaucht, wo er vom FBI gesucht wird. Und die einstmals erfolgreiche Schriftstellerin Elfrieda Wing, die einen Roman über den letzten Tag im Leben von Virginia Woolf schreiben möchte, aber seit zehn Jahren nichts mehr veröffentlicht hat, mit ihrem Agenten über Kreuz liegt und vom Alkohol abhängig ist. Ihr Mann Reggie ist der Regisseur des Films. Er hat eine Affäre mit der Drehbuchautorin. Das Offene und das Verborgene vermittelt uns der Autor auf differenzierte Weise, wir kommen den drei Personen sehr nahe, leiden mit ihnen, freuen uns über schöne Augenblicke. Hauptfigur und Ruhepol ist Talbot Kydd, der ein glückliches Ende erlebt. Elfrieda Wing findet in einem Kloster Erlösung. Anny Viklund – deren Vorbild Jean Seberg ist – hat den schwierigsten Part, dessen Ende hier nicht verraten wird. Der Film wird zur Berlinale 1969 eingeladen. 420 spannende Seiten, unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: william-boyd-trio/

