Imaginäre Dörfer

2014.DörferBand 1 der neuen transcript-Reihe „Rurale Topografien“. In 24 Texten werden dörfliche Lebenswelten unter den Aspekten der Forschung und Gestaltung, in den Perspektiven der deutschsprachigen Literatur, der internationalen Literaturen und des Films untersucht. Im deutschen Literaturkapitel hat mir der Text von Johanna Canaris über Moritz Rinkes Roman „Der Mann, der durch die Jahrhunderte fiel“ als raumzeitliche Verdichtung deutscher Geschichte im Dorf Worpswede besonders gut gefallen. Informativ sind die Essays von Magdalena Marszalek („Das Dorf als Anti-Idylle: polnische literarische und filmische Narrative des Verdrängten“), von Meike van Hoorn („Rentner, Roma, Resignierte: slowakische Dörfer im Film“) und von Peter Grüttner („Imagination des Hinterlands: filmische Inszenierungen ruraler Lebenswelten im zeitgenössischen brasilianischen Kino“). Sehr beeindruckend fand ich schließlich den letzten Text: „Die Wahrheit des Dorfes: zu Michael Hanekes DAS WEISSE BAND“ von Ansgar Mohnkern. Seine 16-Seiten-Analyse stellt den Film in einen Raum- und Zeit-Zusammenhang, der den drohenden Ersten Weltkrieg spürbar werden lässt. Mehr zum Buch: 978-3-8376-2684-1/imaginaere-doerfer?c=738

3D

2014.3DDies ist eine Magisterarbeit der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU München. Elisa Linseisen unternimmt einen wahrneh-mungstheoretischen Diskurs in die Kinowelt des 3D-Films. Sie definiert ihn so: „Der 3D-Film, oder auch stereoskopische Film, inszeniert eine bildliche Darstellung von Räumlichkeit, indem die Bildproduktion und Bildwiedergabe die menschliche, binokulare Wahrnehmung – das Sehen mit zwei Augen – mimt und zwei horizontale Halbbilder die Perspektiven des linken und des rechten Augen repräsentieren.“ Im ersten Teil der Arbeit entwickelt die Autorin eine Erkenntnistheorie der Dreidimensionalität und unterscheidet vier Faktoren: 1. Räumlichkeit der Wirklichkeit – Dreidimensionalität und Subjektivität. 2. Binokularität des Sichtbaren – Dreidimensionalität und Perzeption. 3. Unendlichkeit des Denkens – Dreidimensionalität und Wissen. 4. Planozentrismus Dreidimensionalität als Störfall. Im zweiten Teil formuliert sie eine Medientheorie der Dreidimensionalität und konfrontiert dabei Materialität mit Immaterialität, Omnivision mit Opazität und Realismus mit Hyperrealismus. Hier stehen zwei 3D-Filme im Mittelpunkt der Analyse: AVATAR von James Cameron und LIFE OF PI von Ang Lee. Dies sind die für mich interessantesten Passagen der Arbeit. Der 100-Seiten-Text ist mit rund 400 Quellenangaben abgesichert, das Literaturverzeichnis entsprechend umfangreich. Keine Abbildungen. Mehr zum Buch: 8f42mc6ujm1

Traum und Erzählen

2014.Traum und ErzählenEine Habilitationsschrift der Universität Hannover. Sie ist im Umfang (über 700 Seiten) und in der theoretischen Vertiefung sehr beein-druckend. Stefanie Kreuzer geht es um Zusammenhänge und Differenzen zwischen wissenschaftlichen Traumtheorien und künstlerischen Traum-darstellungen. Ihr Untersuchungsfeld sind die bildende Kunst, die Literatur und der Film. Sie unter-scheidet zwischen „markierten Traum-darstellungen“, „fiktiven Welten zwischen Träumen und Wachsein“ und „unmarkierten, ‚autonomen’ Traumdarstellungen“. Natürlich nutzt sie die nahe liegende Metapher der „Traumfabrik“ Hollywood als Einstieg in ihren Einführungstext „Traum und Film“, der sich dann aber schnell zu einer grundlegenden Analyse des Themas erweitert, die bereits vorhandene theoretische Literatur aufarbeitet und erste konkrete filmische Traumdarstellungen ins Spiel bringt. In ihren drei großen Kapiteln sind den folgenden Filmen höchst lesenswerte Analysen gewidmet: THE DREAM OF A RAREBIT FIEND (1906) von Edwin S. Porter, BRAZIL (1985) von Terry Gilliam und ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (2004) von Michel Gondry im Bereich der erzählten Träume, PERSONA (1966) von Ingmar Bergman und PLOY (2008) von Pen-ek Ratanauang als Beispiele für Filmerzählungen zwischen Traum- und Wachwelten und UN CHIEN ANDALOU (1929) von Luis Buñuel, MULHOLLAND DR. (2001) von David Lynch und BIN-JIP (2004) von Kim Ki-duk als Beispiele für mögliche filmische Traumwelten. Man spürt beim Lesen in jedem Moment die Kompetenz und das Reflektionsvergnügen der Autorin. Insgesamt nennt sie im Anhang 62 Filmtitel mit Traumbezug, von 8 ½ bis YELLA. Umschlagabbildung (inklusive Rückseite): Screenshot aus David Lynchs MULHOLLAND DR. Mehr zum Buch: 978-3-7705-5673-1.html

VATERS GARTEN

2014.DVD.Vaters GartenIm vergangenen April ist der Schweizer Filmemacher Peter Liechti im Alter von 63 Jahren gestorben. Sein letzter Film – VATERS GARTEN – lief 2013 im Programm des Forums der Berlinale und gewann den Preis der Leserjury des Tagesspiegels. Jetzt ist bei der Edition Salzgeber die DVD erschienen. Liechti hat mit großer Kunstfertigkeit ein Porträt seiner Eltern realisiert, mit denen er sich in der Vergangenheit nicht gut verstanden hatte. Vater und Mutter sind an die neunzig Jahre alt, seit über sechzig Jahren miteinander verheiratet – und eigentlich passen sie nicht zusammen. Der Vater ist eher extrovertiert, besucht Sportveranstaltungen, liebt nichts mehr als seinen Garten und ist die Inkarnation des Rollenklischees eines allein bestimmenden Mannes. Die Mutter liest vor allem Bücher, hat sich in die Religion geflüchtet, irrt mit dem Rollator durch den Supermarkt, ist zweimal in der Badewanne ausgerutscht, aber der Vater lehnt einen Haltegriff strikt ab: Löcher in die Kacheln zu bohren, lohne sich in ihrem Alter nicht mehr. Um seinen Beobachtungen eine zweite Wahrnehmungsebene hinzuzufügen, lässt Liechti seine Eltern als Hasen-Stabpuppen auftreten, sie sprechen dann Hochdeutsch (der Originalton ist Schweizerdeutsch mit Untertiteln) und bekommen damit eine fast exemplarische Bedeutung. Vieles, was die Kamera uns aus dem realen Leben der Liechti-Eltern zeigt, möchte man nicht für möglich halten, so absurd wirken manche Szenen, so unfassbar sind die individuellen Verhaltensweisen. Aber dann kippen die Aufnahmen immer wieder ins Irreale, eine wilde Musik kommentiert die Szenen, und der Regisseur greift als Kasperl-Puppe ins Geschehen ein. Am Ende fragt man sich, was an diesen Lebensläufen typisch für die Schweiz ist. Und man ist traurig, wenn sich Peter Liechti zum Schluß doch noch mit seinem Vater vor die Kamera setzt, denn es sind ja die letzten Bilder von ihm. VATERS GARTEN ist nicht nur ein Denkmal für die Eltern, sondern auch für den Filmemacher. Mehr zur DVD: index.php?aktion=artikel&id=512

Manfred Neuwirth

2014.NeuwirthEr dreht Dokumen-tarfilme und experimentelle Videos, er ist auch ein Fotokünstler und abeitet natürlich unabhängig vom kommerziellen Kinomarkt. Manfred Neuwirth (*1954) ist Österreicher, aber er hat auch in Tibet gefilmt, in Hamburg eine Videoinstallation realisiert und in New York fotografiert. In seinem Werk spielt die Geschichte eine große Rolle, es geht um Bilder und um Menschen. Bei Synema in Wien ist jetzt, herausgegeben von Brigitte Mayr und Michael Omasta, die erste Monografie über Neuwirth erschienen. Sie enthält – nach einem schönen, sehr persönlichen Vorwort der beiden Herausgeber – zwei Gespräche, zwei Essays und ein Werkverzeichnis. Die Gespräche stammen von Stefan Grissemann und Karin Berger, die Texte von Olaf Möller („Auf fünf Wegen durch Neuwirths filmisches Werk“) und Nico de Klerk („Manfred Neuwirths experimentelle Reisefilme“). Das Werkverzeichnis hat Michael Omasta zusammengestellt. In die Textbereiche sind als visuelle Anschauung fünf Fotokomplexe einmontiert, die Neuwirths individuellen Bildstil dokumentieren. Die Druckqualität ist, wie immer bei Synema, hervorragend. Mehr zum Buch: manfredneuwirth.at/buch/index.html

Filmwerbung und Filmvermarktung

2014.FilmwerbungVor drei Jahren hat  Anke J. Hübel im Schüren Verlag das Buch „Big Bigger Cinema“ publiziert, eine Untersuchung über Film- und Kinomarketing in Deutschland 1910 bis 1933. In ihrem neuen Buch internationalisiert sie ihr Thema und erweitert den zeitlichen Rahmen bis in die Gegenwart. Ihre dramaturgische Strecke beginnt mit den ersten Informationen über einen neuen Film mit Starbesetzung und endet mit seiner Premiere. Ihre Metapher dafür ist – in einer Analogie zur FRAU IM MOND von Fritz Lang – der „Countdown“. Die Werbekampagnien verlaufen inzwischen global in einem Zusammenspiel aller Medien. Sie haben – je nach Film, Genre und Zielgruppe – unterschiedliche Botschaften bis hin zum Geheimnis („Mystifikationswerbung“). Auch wenn die Autorin zahllose Beispiele aus allen Phasen der Filmgeschichte mit dem Schwerpunkt auf der amerikanischen Filmgeschichte nennt, ist wenig Überraschendes dabei. Ein eigenes Kapitel ist am Ende der Filmpremiere gewidmet, dem Medienereignis, dem gesellschaftlichen Ereignis, dem Fest. Das Buch enthält viele Abbildungen, aber leider kein Filmtitelregister. Das Umschlagfoto ist eine Bildmontage aus Filmecho/Filmwoche vom 9.1.79 mit Bezug auf KING KONG. Mehr zum Buch: werfen-ihre-schatten-voraus.html

Robert Warshow

v8.warshowPR.inddNachdem ich 1958 den Text „Der Westerner – ein amerikanischer Mythos“ von Robert Warshow gelesen hatte, veränderte sich meine Einschätzung des Western-Genres fundamental. Was ich bis dahin nur naiv bewundert hatte, bekam plötzlich ein theoretisches Fundament. Der Text war in der Zeitschrift Film 58 publiziert worden, die kurzfristig parallel zur Filmkritik von Enno Patalas, Wilfried Berghahn und Ulrich Gregor herausgegeben wurde, und damit als seriös authorisiert. Mir hat Warshows Genrebetrachtung eine wichtige Brücke gebaut zur großen Western-Retrospektive in Oberhausen 1965, in der ich dann erstmals die filmhistorischen Zusammenhänge entdecken konnte. Im Verlag Vorwerk 8 sind jetzt alle Filmtexte von Robert Warshow und viele seiner Beiträge zur Populärkultur in Amerika erschienen. Wer den Autor bisher nicht kennt, kann wirklich Entdeckungen machen. Es sind Texte aus den 1940er und 50er Jahren, die hier versammelt sind. Zum Beispiel sein Essay „Der Gangster als tragischer Held“, erstmals 1948 publiziert, der ebenfalls eine große Genrewürdigung ist. Oder seine Rezension des Films THE BEST YEARS OF OUR LIVES von William Wyler aus dem Jahr 1947. Oder die scharfe Kritik an dem Film MY SON JOHN von Leo McCarey, dem Warshow schlicht Dummheit vorwirft. Oder der interessante Vergleich der Bühnenaufführung mit der Verfilmung von Arthur Millers DEATH OF A SALESMAN, verfasst 1952. Zwei bewundernde Texte sind Charles Chaplin gewidmet. Und auch dem europäischen Film schenkte Warshow große Aufmerksamkeit, bespielhaft seien hier die Gedanken zu Rossellinis PAISÀ, zu Dreyers VREDENS DAG und der Rückblick auf eine Filmreihe mit russischen Filmen der 1920er Jahre genannt. Ein sehr lesenswerter Text von David Denby, ein kurzes Vorwort der Herausgeberin Sherry Abel und eine informative Einführung von Lionel Trilling leiten den Band ein. Der Autor Robert Warshow lebte von 1917 bis 1955, er wurde nur 37 Jahre alt. Mehr zum Buch: titel-ansicht.php?id=191

DER GREIFER (1930)

2014.DVD.GreiferIn der Stummfilmzeit war Hans Albers überwiegend in Nebenrollen besetzt und spielte vor allem zwielichtige Charaktere. Mit dem Tonfilm wurde er zum Helden-darsteller. Ein frühes Beispiel ist der Kriminalfilm DER GREIFER (1930) von Richard Eichberg. Wir sehen Albers als Scotland Yard-Sergeanten Harry Cross, der mit Unterstützung der Sängerin Dolly Mooreland (gespielt von Charlotte Susa) den Gangster Messer-Jack zur Strecke bringt. Er muss dabei ungewöhnliche Mittel anwenden. Eine besonders spannende Szene spielt im Coliseum-Theater, wo Cross/Albers durch einen Sprung in die Proszeniumsloge einen Juwelenraub verhindern kann. Allerdings entkommen die Täter über die Dächer von London. In Nebenrollen beeindrucken u.a. Harry Hardt, Margot Walter, Karl Ludwig Diehl und Hertha von Walther. Der Regisseur Richard Eichberg war in den 1920er und 30er Jahren eine zentrale Figur des deutschen Genrekinos. Seine Sensations-Melodramen, Historien- und Abenteuerfilme, Kriminal- und Spionagefilme, aber auch seine Operetten- und Varietéfilme hatten internationales Niveau. Michael Wedel hat 2007 in der Reihe der Filmblatt-Schriften von CineGraph Babelsberg eine sehr lesenswerte Monografie über Eichberg publiziert. DER GREIFER ist – wie die jetzt erschienene DVD beweist – ein bis heute wirkungsvoller früher Tonfilm. Das informative Booklet stammt von Friedemann Beyer. Im Remake von 1957 spielte Hans Albers ebenfalls die Hauptrolle, war aber nicht mehr so einsatzfreudig. Mehr zur DVD: Filmjuwelen/dp/B00F6EJGUU

Medientheorien kompakt

2014.MedientheorienAndreas Ströhl ist Leiter der Abteilung Kultur beim Goethe-Institut in München, er hat über Vilém Flusser seine Dissertation geschrieben und von 2004 bis 2011 das Münchner Filmfest geleitet. Sein Buch „Medientheorien kompakt“ stellt in zwölf Kapiteln die wichtigsten Denker oder Denktraditionen vor, die die Geschichte der Medientheorien geprägt haben, beginnend mit Platons Ideenlehre, Höhlengleichnis und Erkenntnistheorie, gefolgt von Bertolt Brechts Radiotheorie und Walter Benjamins Reflexionen zur Reproduzierbarkeit der Kunst. In sechs Texten werden die modernen Theorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt: Marshall McLuhan, die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie (hier finden wir Adorno und Horkheimer, Enzensberger und Habermas als Medientheoretiker), Roland Barthes und Susan Sonntag (das Kapitel heißt „Melancholische Meditationen über die Fotografie“), Niklas Luhrmann, Neil Postman und Vilém Flusser. Im Bereich Postmoderne und Gegenwart kommen schließlich noch Jean Baudrillard, Paul Virilio und Friedrich Kittler zu Wort. Die Auswahl erscheint mir klug, die Texte sind verständlich geschrieben, sie eignen sich auch zur schnellen Information. Und man spürt, dass dem Autor das Schreiben, wie er in seinem Vorwort bekennt, „Spaß gemacht hat“.  Mehr zum Buch: d4f00c8458c/

Nordic Noir

2014.Nordic NoirAuch wenn die amerikanischen Serien weltweit die Number one sind – seit einiger Zeit gibt es eine auch international wachsende Fangemeinde der skandinavischen Fernsehserien. Lea Gamula und Lothar Mikos nennen in ihrem Buch „Nordic Noir“ die wichtigsten Beispiele und können eine Reihe guter Gründe für den Erfolg und die Qualität dieser Serien auflisten. Sie beginnen ihre Publikation mit einer kurzen globalen Seriengeschichte, gehen dann auf die bekanntesten amerikanischen Serien ein und beschreiben sehr konkret den skandinavischen Weg der Serien-produktion mit der Internationalisierung des Contents, den Innovationen, dem Prinzip der Double Stories, der Nachwuchs-ausbildung und dem speziellen Produktonssystem in Schweden und Norwegen. Vier Serien werden schließlich genauer analysiert: FORBRYDELSEN (dt.: KOMMISSARIN LUND), BRON/BROEN (dt.: DIE BRÜCKE – TRANSIT IN DEN TOD), BORGEN (dt.: BORGEN – GEFÄHRLCHE SEILSCHAFTEN) und LILYHAMMER . Die Besonderheiten der skandinavischen Serien – das beschreiben Gamula und Mikos sehr einleuchtend – sind ihre Mehrdimensionalität und ihr multithematischer Ansatz, ihre Dramaturgie und Narration, die Formatwahl der Miniserie, der Fokus auf den Frauencharakteren, ihr Realismus und ihre Authentizität, ihre Ästhetik und Gestaltung und – aus all dem resultierend – ihr internationaler Erfolg. Titelfoto: Sofie Gråbøl als Kommissarin Lund in FORBRYDELSEN. Mehr zum Buch: 58961602f5950b2/