Christoph Schlingensief: Resonanzen

In 14 Texten machen sich Autorinnen und Autoren Ge-danken über die Präsenz von Christoph Schlingensief zehn Jahre nach seinem Tod. Sie erinnern an unterschiedliche Aktionen und entdecken eher vergessene Arbeiten. Lars Koch richtet seinen Blick auf Schlin-gensiefs Fernseh-Experimente, speziell die Serie „U3000“ (2000) für MTV Deutschland. Carl Hegemann begründet seine Vermutung, dass Schlingensiefs Aktionskunst heute wahrschein-lich keine Chance mehr hätte. Bei Vanessa Höving geht es um den Kurzfilm ABFALL (1982), die Müllfestspiele in der Berliner Volksbühne und das Verhältnis zwischen Kunsttradition und Trash. Johanna Zorn beschäftigt sich mit den teatralen Widersprüchlich-keiten, zugespitzt in Bitte liebt Österreich! (2000). Verena Krieger befasst sich mit der Problematik politischer Kunst in der Moderne. Thomas Wortmann erinnert an das Projekt Rettet die Marktwirt-schaft! Werft das Geld weg! (1999). Mara Kirchmann schreibt über Schlingensiefs Inszenierung des Fliegenden Holländer am Teatro Amazonas in Manaus 2007 („Wagner meets Samba“). Leon Igel befasst sich mit Schlingensiefs 47 Kolumnen in der FAZ 2000/2001 unter dem Titel Intensivstation („Glosse, Kunst und Krankenhaus“). Sarah Pogoda begleitet Schlingensief bei seinem Forschungsprojekt Deutsch-landsuche 99. Jano Sobottka hat sich in Schlingensiefs Tagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! (2009) vertieft. Katja Holweck fragt nach den Folgen von Schlingensief: „(K)ein Ende?“. Lutz Ellrich erinnert noch einmal an die Filme der Deutschland-Trilogie von Schlingensief (1989-1992). Zwei kurze, sehr persönliche Texte stammen von Elfriede Jelinek. Alle Beiträge haben ein hohes reflexives Niveau. Coverfoto: Schlingensief in der Theateraufführung von „Rosa Luxemburg“ im Berliner Ensemble (1997). Mehr zum Buch: ISBN=9783967074093#.X1oUCjsgBW8

Christoph Schlingensief: Gespräche

Vor zehn Jahren ist er in Berlin an den Folgen seiner Krebs-erkrankung gestorben. Er wurde nur 49 Jahre alt. Sein künstlerisches Spektrum war breit: Film, Theater, Oper, Bildende Kunst. Und es gab immer wieder die gezielte politische Provokation. Im privaten Gespräch war er der Liebreiz in Person, das habe ich oft erlebt, aber öffentliche Auftritte konnten auch zu Beleidigungen führen. Zwei Bücher sind jetzt erschienen, die eindrucksvoll an ihn erinnern. Für Kiepenheuer & Witsch hat seine Ehefrau und Mitarbeiterin Aino Laberenz 33 Interviews und Gespräche aus den Jahren 1984 bis 2010 ausgewählt, die Christoph Schlingensief in dieser Zeit geführt hat, meist sind Journalistinnen und Journalisten seine Gesprächspartner. Hier sind elf, die mir besonders gut gefallen: „16 Jahre Messdiener waren nicht umsonst“ (1993 mit Anke Leweke und Christiane Peitz über den Film TERROR 2000 für den tip), „Moralist mit Kettensäge“ (1993 mit Harald Martenstein über TERROR 2000 für den Tagesspiegel), „So oder so. Über Ton in seinen Filmen“ (1996 mit Marco Graba und Bernd Klöckner für testcard), „Tötet Christoph Schlingensief“(1997 mit Georg Diez und Anke Dürr über DIE 120 TAGE VON BOTTROP für den Spiegel), „Trash für Millionen“ (1998 mit Benjamin von Stuckrad-Barre über das Stück „Chance 2000“ für Rolling Stone), „Das war nicht abzusehen“ (2000 mit Karin Cerny über die Aktion „Bitte liebt Österreich!“ für den Falter), „Mit den Skins zur SVP“ (2001 mit Daniel Arnet und Judith Wyder über seine Zürcher „Hamlet“-Inszenierung für Facts), „Wer Kunst macht, wird so leicht kein Terrorist“ (2003 mit Peter Laudenbach über sein Stück „Atta Atta“ in der Volksbühne für den Tagesspiegel), „Fürchtet euch nicht?“ (2004, Gespräch mit Wolfgang Schäuble, moderiert von Martin Häusler, für HÖRZU), „Ich bin eigentlich ein obdachloser Meta-physiker“ (2004 mit Joachim Kaiser über die „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth für die Süddeutsche Zeitung), „Theater war noch nie mein Ding“ (2008 mit Cornelius Tittel über die Ausstellung „Querverstüm-melung“ in Zürich für Monopol). Die Eloquenz von Schlingensief ist bewundernswert, man hört seine Stimme, wenn man die Texte liest, und vermisst ihn. Mit einem Vorwort von Aino Laberenz und einem Nachwort von Diedrich Diedrichsen. Mehr zum Buch: kein-falsches-wort-jetzt-9783462055085 Morgen bespreche ich das Buch „Resonanzen“.

Es werde dunkel

Günter Sack, einstmals Farb-lichtbestimmer im DEFA-Ko-pierwerk in Johannisthal und mit der Entwicklung der Film-technik bestens vertraut, unter-nimmt mit uns einen Spazier-gang durch die Geschichte der Filmbearbeitung. Die 15 Statio-nen heißen: Filmprojektor, Filmkamera, Kopiermaschinen und Filmformate, Entwick-lungsmaschine und Fotochemie, Sensitometrie, Lichtbestim-mung und Coloranalyzer, Von der Aufnahme bis zum Kino, IMAX – der letzte Geniestreich der analogen Filmtechnik, Der plastische Film – 3D-Kino, Das Fernsehen – kleiner Bruder und ewiger Konkurrent des Kinos, AMPEX verändert die Fernsehwelt, PAL wurde kein Bruch-System, Von der Bildplatte zur Blu-ray, Der Filmabtaster, Film- und Datenarchivierung. Die meisten Informationen werden über einen Dialog vermittelt, den der Autor mit einem fiktiven Klassenkameraden führt, den er in einem Supermarkt wiedergetroffen hat. Das Frage- und Antwortspiel hat pädagogisch positive Folgen: die Technik wird anschaulich beschrieben und auch für Menschen verständlich, die nicht viel davon wissen. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: die-geschichte-der-filmbearbeitung-paperback-128778/

Zeitfiktionen

Wie erleben wir das Vergehen von Zeit in der Literatur und im Film? Jeweils fünf Beiträge reflektieren darüber in diesem Sammelband, der auf einem Workshop an der Universität Münster basiert. Bei Stephan Brösel geht es um literarische Erzähltexte aus den Jahren 1825 bis 1850, bei Andreas Blödorn um die Verräumlichung von Zeiterfahrung in der deutschsprachigen Literatur des Realismus. Raphael Stübe beschäftigt sich mit dem „Buch der Zeit“ von Arno Holz, Birte Fritsch mit „La noche boca arriba“ von Julio Cortázar, Sebastian Zilles mit Zeitreflexionen im Zuge der HIV-AIDS-Krise am Beispiel von „Das blaue Zimmer“ von Peter Heim („Das Virus hat Zeit“). – Stefan Tetzlaff untersucht Voice-Over und zeitliche Modi in der Serie DESPERATE HOUSEWIVES. Andreas Becker, der eine hervorragende Dissertation über Yasujiro Ozu verfasst hat, macht sehr lesenswerte Anmerkungen zu den Drehbuch-Notizen, der Montageästhetik und der Zeitdarstellung in Ozus HIGANBANA (1958). Dominik Orth richtet seinen Blick auf die Langzeitfiktionen von Richard Linklater: die BEFORE-Trilogie (SUNRISE, 1995, SUNSET, 2004, MIDNIGHT, 2013) und BOYHOOD (2014). Sandra Ludwig und David Ziegenhagen analysieren die multidimensionale Zeitreflexion in INTERSTELLAR (2014) von Christopher Nolan. Martin Hennig beschäftigt sich mit den Konvergenzen von Film- und Serienzeit im Marvel Cinematic Universe. Alle Beiträge haben ein hohes Niveau und sind durch Sekundärliteratur wissenschaftlich abgesichert. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: 73649/zeitfiktionen

ALS HITLER DAS ROSA KANINCHEN STAHL (2019)

Das Kinder- und Jugendbuch von Judith Kerr war in den 1970er Jahren ein großer Erfolg und wird noch heute viel gele-sen. Es erzählt, autobiografisch inspiriert, die Geschichte von Anna, der neunjährigen Tochter eines jüdischen Journalisten, der 1933 mit seiner Familie Berlin verlassen muss und nach Zürich flieht. Dort ändert sich das Leben der Familie. Anna trauert vor allem ihrem rosa Stoff-Kaninchen nach, das sie in Berlin zurücklassen musste. Mit ihrem zwölfjährigen Bruder Max, ihrer Mutter und ihrem Vater gibt es viele Gespräche über die veränderte Situation. Von Zürich geht es in ein Schweizer Bergdorf. Dann folgt ein weiterer Umzug: nach Paris. Und am Ende ist London das Ziel. Caroline Link hat das Buch verfilmt, sie erzählt die Geschichte konsequent aus der Perspektive von Anna, die neugierig, aber naiv ist und sich über alles Gedanken macht. Ein beeindruckender Kinderfilm mit Riva Krymalowski (Anna), Marinus Hohmann (Max), Carla Juri (Mutter), Oliver Masucci (Vater) und Justus von Dohnányi (Onkel Julius). Bei Warner ist jetzt die DVD des Films erschienen. Sehr zu empfehlen. Mehr zur DVD: Hitler_das_rosa_Kaninchen_stahl.html

Eine kurze Geschichte des Films

Ian Haydn Smith ist Autor des Buches „Eine kurze Geschichte der Fotografie“ und schreibt für die Magazine Curzon und BFI Filmmakers. Seine „Kurze Geschichte des Films“ gibt einen Überblick über die wichtigsten Genres, Filme, Strömungen und Techniken. 36 Genres vom Western bis zum Superhelden-Film werden auf jeweils einer Seite beispielhaft definiert. 50 Film-Highlights werden auf je zwei bis vier Seiten dargestellt, beginnend mit INTOLERANCE (1916) von D. W. Griffith, endend mit ROMA (2018) von Alfonso Cuarón. 26 Strömungen werden auf je einer Seite charakterisiert, beginnend mit dem Deutschen Expressionismus, endend mit der Rumänischen Neuen Welle. 28 Techniken werden auf je einer Seite erklärt, zum Beispiel Master Shot, Unsichtbarer Schnitt, Panoramaschwenk, Parallelmontage, Großaufnahme, Szenentransition, Cinéma vérité, Visuelle Effekte und 3D. Es ist erstaunlich, wie viele Informationen auf 224 Seiten zu vermitteln sind. Natürlich kann man über die Auswahl der wichtigsten Filme streiten. Drei deutsche Filme sind dabei: METROPOLIS, AGUIRRE, DER ZORN GOTTES und ANGST ESSEN SEELE AUF. Hm. Aber die Beschreibungen sind präzise, und es gibt Verweise auf andere Filme. Herausragend: die Auswahl und Qualität der Abbildungen: Plakate und Fotos. Coverfoto: TAXI DRIVER. Mehr zum Buch: eine-kurze-geschichte-des-films/

„Oberkampf“ von Hilmar Klute

Dies ist der zweite Roman von Hilmar Klute, dessen Texte in der Süddeutschen Zeitung ich sehr schätze. Sein erster Roman erschien 2018 und wurde von mir hier gewürdigt: was-dann-nachher-so-schoen-fliegt/ . Diesmal geht die Reise nach Paris. Jonas Becker verlässt Berlin und seine Freundin, plant ein Buch über den Schriftsteller Richard Stein und wird von seinem Verlag in einer kleinen Wohnung in der Rue Oberkampf untergebracht. Kurz nach seiner Ankunft in Paris passiert der Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion, gleich um die Ecke seiner Wohnung. Die Stimmung in der Stadt ändert sich schlagartig. Jonas lernt eine Gruppe junger Leute kennen, darunter die Archivarin Christine, der er schnell nahe kommt. Er verbringt viel Zeit mit dem Bohemien Stein, der eng mit ihm kooperiert und ihn überredet, ihn nach Amerika zu begleiten, wo er seinen drogensüchtigen Sohn Elias suchen will. Die Fahrt wird zur Odyssee. Und Jonas selbst gerät in eine Sinnsuche, als ihm seine Ex-Freundin mitteilt, dass sich sein Freund Fabian umgebracht hat. Klute verbindet die verschiedenen existentiellen Ereignisse erzählerisch so souverän, dass die Lektüre zu einer spannenden Reise durch innere und äußere Welten wird. Das alles geschah vor fünf Jahren. Und in Paris hat gerade der Prozess gegen Hintermänner der Charlie Hebdo-Morde begonnen. Mehr zum Buch: oberkampf-9783869712154

Gehör Schenken

Es sind 66 kleine Kapitel, in denen sich Sonja Dierks mit Stimme, Gesang und Musik beschäftigt. „Sie wechseln hin und her zwischen philosophi-schen Gedankenbewegungen und imaginativer Prosa.“ (Einleitung). Es werden zu fast jedem Kurzbeitrag Hör-Links angeboten, zunächst hinter den Text, später vor den Text gesetzt. Das sind meist youtube-links, aber es gibt auch CD- oder Vinylempfehlungen. Hier ein paar Überschriften: Gesang als Zeichen, Glamour, Ritual, Gefühle, Objekt Stimme, Durchlässigkeit, Stimmbruch, Stille, Gewitter, Die Macht der Genderklischees, Lauschen, Pluralität der Sinne, Gesang der Wale, Sich singen hören, Atmen. Einige Texte sind Sängerinnen und Sängern gewidmet: Patti Smith, Nina Hagen, Maria Callas, Eileen Farrell und Jessye Norman, Kate Tempest, Natacha Atlas, Adele (2), Ella Fitzgerald, Emma Kirkby, Dido und Youssou N’Dour. 90 Seiten mit vielen erstaunlichen Erkenntnissen. Man kann die Texte auch lesen, während man im Radio Musik hört. Mehr zum Buch: buch/gehoer-schenken/

Mario Adorf 90

Der Schauspieler Mario Adorf feiert heute seinen 90. Geburts-tag. Dazu gratuliere ich ihm sehr herzlich. Ich halte ihn für einen herausragenden Darsteller und fühle mich ihm auf vielfältige Weise verbunden. Im Dezember 2002 wollte er unsere Dauerausstellung im Filmmuseum inkognito besuchen, aber der Besucher-service hat uns informiert, und ich habe ihn mit seiner Frau durch das Museum geführt. Er war beeindruckt. Im März 2012 habe ich mit ihm in der Akademie der Künste zur Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung ein Gespräch geführt, bei dem wir das von Torsten Musial herausgegebene Buch „…böse kann ich auch“ präsentiert haben. Ein Exemplar mit persönlicher Widmung steht in meinem Regal. Auf den DVDs des Films AUGE IN AUGE, den ich mit Michael Althen gedreht habe, spricht er den Kommentar in englischer und französischer Sprache. Wann auch immer wir uns sehen, gibt es ein freundliches Gespräch. Ich bewundere seine Energien und empfehle den gerade als DVD erschienenen Dokumentarfilm ES HÄTTE SCHLIMMER KOMMEN KÖNNEN (2019) von Dominik Wessely. Mehr zur DVD: es-haette-schlimmer-kommen-koennen,tv-kino-film.html

DAS PERFEKTE GEHEIMNIS (2019)

Dies war der erfolgreichste deutsche Film des vergangenen Jahres. Mehr als fünf Millionen Kinobesucher in der Zeit vor Corona. Buch & Regie: Bora Dagtekin. Er adaptierte den italienischen Film PERFETTI SCONOSCIUTTI von Paolo Genevese (2016), dessen Remake-Rechte in vierzig Länder verkauft wurden, machte, wie er sagt, die Frauen-figuren etwas moderner und nahm den Männerfiguren den Machogestus. Wir nehmen teil an einem Abendessen in einer Münchner Dachgeschosswohnung. Gastgeber sind der Hobbykoch Rocco (Wotan Wilke Möhring) und die Therapeutin Eva (Jessica Schwarz). Als erste treffen der Bauzeichner Leo (Elyas M’Barek) und die Werbetexterin Carlotta (Karoline Herfurth) ein, Leo übt seinen Beruf derzeit nicht aus, sondern kümmert sich um die Kinder. Die beiden bringen ein frisch verlobtes Paar mit, den Lebenskünstler Simon (Frederick Lau) und die Tier-Homöopathin Bianca (Jella Haase). Mit kleiner Verspätung kommt der Gymnasiallehrer Pepe (Florian David Fitz), allerdings ohne seine erkrankte Freundin Anna. Das Essen ist ziemlich misslungen, der Wein schmeckt gut, es wird über das Thema Ehrlichkeit diskutiert. Eva initiiert ein Spiel, bei dem alle Smartphones auf den Tisch gelegt werden müssen und alle eingehenden Nachrichten gehört und gesehen werden. Die Folgen sind fatal, aber sehr unterhaltsam. Großartig gespielt, effektvoll inszeniert. Man kann den Erfolg verstehen. Bei Constantin ist inzwischen die DVD des Films erschienen. Für alle, die den Film im Kino versäumt haben. Mehr zur DVD: das-perfekte-geheimnis/hnum/9520374