Die kleinen Leute gehen ins Kino

Viktoria ist Mitte 40, freie Lektorin, seit 15 Jahren mit dem Medizin-Professor Henrik verheiratet und lebt in einer kleinen Universitätsstadt. Inspiriert durch Hinweise des Studenten Veit, Mitarbeiter im Institut ihres Mannes, entdeckt sie das Kino als Erlebnisort. Sie wird Mitglied im „Club der Cineasten“, übernimmt Film-einführungen und versucht, eine größere Nähe zu Veit herzustellen. Doch der erweist sich als Einzelgänger und verweigert engere Kontakte. Bei anderen Männern ist sie erfolgreicher. Von Henrik wird das Verhalten seiner Frau mit Misstrauen beobachtet. Kino ist für ihn kein kultureller Ort. Der Roman von Morticia Zschiesche beschreibt die Stationen einer Midlife-Crisis und verbindet sie mit Passagen durch die Kinogeschichte. Die Autorin ist Filmwissenschaftlerin und promovierte Soziologin. Siegfried Kracauer gehört zu ihren Leitfiguren. E-Mails sind dramaturgische Wegmarken im Text, und immer wieder sind wir im Uni-Kino zu Gast. Die Lektüre ist durchaus unterhaltsam. Mehr zum Buch: 1861/die-kleinen-leute-gehen-ins-kino

Falladas letzte Liebe

Hans Fallada (eigentlich: Rudolf Ditzen) war ein erfolgreicher Schriftsteller, dessen erste Romane „Bauern, Bonzen, Bomben“ und „Kleiner Mann – was nun?“ 1931 und 32 erschie-nen. Er konnte auch in der NS-Zeit publizieren. Über sein Leben von 1945 bis zu seinem Tod im Februar 1947 hat Michael Töteberg einen Roman geschrieben, der jetzt im Aufbau Verlag erschienen ist. In dokumentarischer Form werden die materiellen und gesundheitlichen Krisen, die persönlichen und schriftstellerischen Hoffnungen erzählt. In zweiter Ehe mit der sehr viel jüngeren Ursula Losch, genannt Ulla, verheiratet, begleitet das Paar eine Morphiumsucht, die zu schweren Auseinandersetzungen, Entzugskuren und Rückfällen führt. Im September 1945 aus der Provinz nach Berlin zurückgekehrt, wohnen sie zunächst in der Meraner Straße in Schöneberg, dann in Pankow, Eisenmengerweg 19. Krankenhaus- und Kuraufenthalte unterbrechen immer wieder die Kontinuität. Vermittelt durch Johannes R. Becher wird Fallada Mitglied des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, kann Texte in der Täglichen Rundschau veröffentlichen und hat Verbindungen zum neu gegründeten Aufbau Verlag. Es entstehen Buchprojekte, die häufig verändert werden. Seine Romane „Alpdruck“ und „Jeder stirbt für sich allein“ schreibt Fallada trotz gesundheitlicher Probleme. Sie werden posthum publiziert. Der Briefwechsel mit seiner Mutter, seiner Exfrau Anna, genannt Suse, seinem früheren Verleger Ernst Rowohlt, auch mit Ulla, wenn sie örtlich getrennt sind, ist rege. Falladas Sohn Ulrich und Ullas Tochter Jutta wohnen bei ihnen und sind Zeugen heftiger Konflikte. Weil Honorare ausbleiben und Ulla zu viel Geld ausgibt, müssen immer wieder Schulden gemacht werden. Die Freundschaft mit Becher ist hilfreich. Töteberg macht uns zu Augenzeugen individueller Schicksale und vermittelt gleichzeitig eine Momentaufnahme der kulturellen Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das ist spannend, bewegend und informativ. Unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: falladas-letzte-liebe/978-3-351-03894-6

Hollywood Blackout

Sternstunden des amerikani-schen Noir-Kinos von 1941 bis 1961 ruft Christian Keßler in Erinnerung. Es sind 275 Filme, die in diesem Buch gewürdigt werden. Zu den Stars dieser Filme gehören Humphrey Bogart, Burt Lancaster, Ray Milland, Robert Mitchum, Tyrone Power, Edward G. Robinson, James Stewart und Orson Welles, Lauren Bacall, Joan Crawford, Bette Davis, Ava Gardner, Katharine Hepburn, Rita Hayworth, Barbara Stanwyck und Elizabeth Taylor. Mit neun Filmen ist Robert Siodmak Spitzenreiter unter den Regisseuren, gefolgt von Fritz Lang (acht), Joseph H. Lewis und Anthony Mann (sieben), Otto Preminger (sechs), Phil Karlson und Don Siegel (fünf). Eine kurze Inhaltsangabe und eine längere Würdigung jedes Films führen uns durch zwanzig Jahre amerikanischer Kinogeschichte. Keßler ist sachkundig, vermittelt auch Hintergründe der Produktionen, vermeidet aber Anekdoten oder Trivialitäten. Sehr lesenswert. Man wünscht sich nach der Lektüre des Buches sofort eine Retrospektive. Es müssen ja nicht alle 275 Filme gezeigt werden. Mehr zum Buch: schmitz-verlag.de/Christian_Kessler/Buch.html

Weimar im Exil

In Kalifornien trafen sich viele Persönlichkeiten der Kultur der Weimarer Republik. Ihnen ist der von Sabina Becker und Fabian Bauer herausgegebene Band gewidmet. Einen Schwerpunkt bildet die Literatur mit Bertolt Brecht, Bruno Frank („Ich mache mit der linken Hand Filme, mit der rechten meine eigenen, unsterblichen Sachen“), Thomas Mann (zwei Texte: „Goethe in Hollywood“ und „Närrischer Kriminalfilm danach. Zu Hause Chokolade“), Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin und den drei Exilantinnen Vicki Baum, Salka Viertel und Gina Kaus. In zwei Texten geht es um das Filmexil. Larissa Kleybor beschäftigt sich mit Ernst Lubitsch („Sein oder Nichtsein in Amerika“), Wilhelmine Luppold mit Fritz Lang („One-Way-Ticket nach Hollywood“). Auch die Philosophie in der Kulturindustrie wird gewürdigt. Robert Krause äußert sich zu Ludwig Marcuse („Wachsfigurenkabinett Zwanziger Jahre?“), Manuel Paß zu Theodor W. Adorno. Alle Texte haben ein hohes Niveau. Umschlagabbildung. Thomas Manns Haus in Pacific Palisades (1940). Mehr zum Buch: Details.aspx?ISBN=9783967075588#.YbeImy9XZHc

HAPPY TOGETHER (1997)

Der Regisseur Wong Kar-Wai ist einer der Großen des internationalen Arthouse-Kinos. Er hat in den vergangenen dreißig Jahren zehn herausragende Filme gedreht. HAPPY TOGETHER lief 1997 bei den Filmfestspielen in Cannes und gewann die Goldene Palme. Der Film erzählt die Geschichte des Schwulen-Paares Ho und Lai, das von Hongkong nach Argentinien auswandert, um die Beziehung zu retten. In ihrem Verhalten sind die beiden sehr unterschiedlich. Ho ist impulsiv und steht gern im Mittelpunkt, Lai verhält sich zurückhaltend und passt sich an. Ihre Wege trennen sich beruflich und persönlich. Am Ende kehrt Lai nach Hongkong zurück, Ho bleibt in Buenos Aires. Zu den großen Qualitäten des Films gehört die Kameraarbeit von Christopher Doyle, der die beiden Protagonisten auch in der Hektik der Städte nicht aus den Augen verliert. Leslie Cheung (Ho) und Tony Leung (Lai) beeindrucken durch die Körperlichkeit ihrer Darstellung. Der Film ist auch nach 25 Jahren höchst sehenswert. Bei Koch Media sind jetzt Blu-ray und DVD erschienen. Zu den Extras gehören Making-of-Interviews und ein Booklet. Mehr Informationen: wong_kar_wai_special_edition_4k_uhd_blu_ray_dvd/

Filmbuch des Jahres

Zwölfmal wähle ich ein „Film-buch des Monats“ unter den aktuellen Neuerscheinungen aus, und am Ende gibt es ein „Filmbuch des Jahres“. Dies ist für 2021 das „Handbuch Filmgenre“, herausgegeben von Marcus Stiglegger, erschienen im Verlag Springer VS. Fünf Teile strukturieren das Buch: I. Einleitung. II. Definition & Begriffsgeschichte. III. Film-Genre-Theorie. IV. Historische und lokale Perspektiven. V. Filmgenres in Einzelstudien. Motive, Standardsituationen und Transformationen. 38 Autorinnen und Autoren hat Marcus Stiglegger als Herausgeber für die Mitwirkung an diesem Buch gewinnen können, darunter befindet sich auch einige akademische Prominenz. Die jahrelange Arbeit an dem Projekt hat sich am Ende sehr gelohnt. Das Ergebnis ist ein 690-Seiten-Werk, das auch international einen neuen Standard für die Genre-Forschung setzt. Mehr zum Buch: filmbuecher/handbuch-filmgenre/

35 Millimeter: Metro-Goldwyn-Mayer

Dem Studio MGM widmet das neueste, 44. Heft der Zeitschrift 35 Millimeter seinen Schwer-punkt. In 12 Texten geht es um Genres, Regisseure und einzelne Filme. Tonio Klein schreibt über „Die unverschämtesten Pro-Code-Filme der MGM“, Matthias Merkelbach richtet seinen Blick auf den Film Noir bei MGM, Marco Koch erinnert an MGM British und Miss Marple, Robert Zion beschreibt drei Western mit Stewart Granger, bei Bernward Knappik geht es um den kurzen Flirt mit Cinerama 1962, Carsten Henkelmann sieht Science-Fiction als Nischen-Genre in der MGM-Glamour-Welt. Porträtiert werden die Regisseure George W. Hill und Jack Conway (Autor: Bernward Knappik). Als einzelne Filme werden THE MASK OF FU MANCHU (1932) von Charles Brabin (Autor: Clemens G. Williges), THE LAST OF MRS. CHEYNEY (1937) von Dorothy Arzner, DANCE, FOOLS, DANCE (1931) von Harry Beaumond und FURY (1936) von Fritz Lang (Autor: Tonio Klein) gewürdigt. Auf zehn Seiten gibt es DVD- und Buchkritiken. Lars Johansen erinnert an Hanns Heinz Ewers zu dessen 150. Geburtstag. Clemens G. Williges schwärmt von der Vorführung des Films DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM mit der Originalmusik von Hans Landsberger in Braunschweig. Bernward Knappik beschäftigt sich mit den frühen Filmen der Darstellerin Anne Bancroft, Michael Klein äußert sich zur Verfilmung der SCHACHNOVELLE von Gerd Oswald 1960. Tonio Klein hat ein interessantes Interview mit Catherine Wyler, der Tochter von William Wyler, geführt. Kleine Kolumnen informieren über dies und das. Im April erscheint die Nr. 45 von 35 Millimeter. Titelstory: Animationsfilm. Mehr zur Zeitschrift: produkt/35-millimeter-44-dezember-2021/

Hilde Knef und das Lied des Lebens

Heute kann man den 96. Ge-burtstag von Hildegard Knef feiern und mit dem Roman von Maxine Wildner in ihr Leben eintauchen, an ihren Erfolgen als Schauspielerin und Sängerin teilhaben, die Männer kennen-lernen, die sie durch verschiedene Phasen begleitet haben, die Schicksalsschläge miterleben, die sie erlitten hat. Es beginnt 1951 in Hollywood mit den Dreharbeiten zu SCHNEE AM KILIMAND-SCHARO. Henry King ist der Regisseur, Gregory Peck ihr Partner. In der Garderobe lernt sie Marilyn Monroe kennen, der sie den „Zauberberg“ von Thomas Mann leiht, den sie nicht zurückbekommt. Ein Zeitsprung ins Heute von Berlin-Mitte. Der Computergrafiker Tobias Gremmler geht ins Babylon-Kino. Dort findet gerade eine Hildegard-Knef-Retrospektive statt. Bei der Vorführung von SCHNEE AM KILIMANDSCHARO ist Tobias der einzige Zuschauer. Einige Tage später sieht er sich den Film noch einmal an. Mitten im Film steigt Hildegard Knef von der Leinwand, nimmt Tobias an die Hand und verlässt mit ihm das Kino. Das Paar streift durch die Stadt Berlin. Zeitwechsel sind ein Prinzip dieses Romans. Die 26 Kapitel sind jeweils mit Ort und Jahr überschrieben. Viel Raum beansprucht die Arbeit an dem Musical „Silk Stockings“ von Cole Porter, in dem sie am Broadway die Hauptrolle der Ninotschka spielt. Rückblenden führen uns in die 40er Jahre und erinnern an ihre Beziehung zu dem Reichsfilmdramaturgen Ewald von Demandowsky. Natürlich wird auch die Produktion des Willi-Forst-Films DIE SÜNDERIN (1950) geschildert. In den 60er Jahren war Hilde Knef mit dem britischen Schauspieler David Cameron liiert. Und 1968 sang sie erstmals das Lied „Für mich soll’s rote Rosen regnen“. Am Ende kehrt sie im Babylon auf die Leinwand zurück und Tobias verlässt das Kino. Der Roman ist mit großer Empathie geschrieben, es gibt amüsante Passagen und dramatische Momente. Lesenswert nicht nur für Hildegard Knef-Fans. Mehr zum Buch: hilde-knef-und-das-lied-des-lebens-t-9783458681885

Frohe Weihnachten

                     Wir wünschen frohe Weihnachten.

                  Hans Helmut Prinzler + Antje Goldau

Fotos: Rosemarie Schatter

Erika Rabau 100

Heute wäre die Foto-grafin Erika Rabau 100 Jahre alt geworden. Mehr als 30 Jahre war sie die offizielle Fotografin der Berlinale. Ihr Outfit, ihre Stimme und ihre Beweglichkeit sind unvergessen. Gern hat sie in ungewöhnlichen Filmen Nebenrollen gespielt, vor allem, wenn Lothar Lambert Regie führte. In seinem Film ERIKA, MEIN SUPER-STAR ODER FILMEN BIS ZUM UMFALLEN (2015) ist sie die Hauptfigur. Sie starb am 10. April 2016. Ich habe Erika bei ihrer Arbeit für die Berlinale oft beobachtet und ihre Professionalität als Fotografin schätzen gelernt. 2004 wurde Erika Rabau mit der Berlinale-Kamera ausgezeichnet. Hier ist meine Laudatio: 2004/02/erika-rabau/