DIE ERBINNEN (2018)

Chela und Chiquita sind ein älteres Frauenpaar in Asúncion, der Hauptstadt von Paraguay. Sie leben in einer Villa, die sie geerbt haben, aber das Geld wird knapp, und sie müssen das eine oder andere von der Ein-richtung verkaufen. Das soll allerdings nicht bekannt werden. Chela malt und neigt zur Depression, Chiquita organisiert das gemeinsame Leben und ist eher extrovertiert. Eine Krise entsteht, als Chiquita wegen eines Betrugsdeliktes ins Gefängnis muss. Chela wird von einer Nachbarin als Chauffeuse beschäftigt, fährt mit ihrem alten Mercedes auch andere Frauen durch die Stadt und aufs Land, verliebt sich schließlich in eine jüngere Kundin. Als Chiquita aus dem Gefängnis entlassen wird, kommt es zu großen Konflikten. Die Geschichte wird nah an den Protagonistinnen erzählt, aber die Kamera dokumentiert auch Räume und Straßen, vermittelt ein Bild von der Realität im Land. Herausragend sind Ana Brun als Chela und Margarita Irún als Chiquita. Ana Brun wurde 2018 bei der Berlinale als beste Darstellerin ausgezeichnet. DIE ERBINNEN ist der sehr sehenswerte Debütfilm von Marcelo Martinessi. Er ist jetzt bei Absolut Medien als DVD erschienen. Mehr zur DVD: 7042/DIE+ERBINNEN

Verschwundene Kinos

Das „Weinviertel“ ist eine Region im Nordosten von Niederösterreich, die Grenze verläuft im Osten zur Slowakei, im Norden zu Tschechien. Die Städte haben zwischen 10 und 15 Tausend Einwohner. Karl und Martin Zellhofer (Vater und Sohn) sind dort ansässig und machen sich gern auf historische Spurensuche. Für ihr neues Buch haben sie nach Räumen gesucht, in denen früher Kinos betrieben wurden. Sie sind erstaunlich fündig geworden, haben Säle fotografiert, die zu Lagerhallen oder Werkstätten umgebaut wurden, Fassaden entdeckt, an denen noch das Wort „Kino“ zu lesen ist, Plakate, Eintrittskarten und einschlägige Dokumente aus Kisten und Mappen geholt, in denen sie verwahrt waren. Zunächst gibt es einen kurzen historischen Überblick über die Kinoentwicklung in Österreich. Dann werden vier Kinos detaillierter porträtiert: die Groß-Kadolzer Lichtspiele, die Lichtspiele Großkrut, das Pariser Ideal Kino in Haugsdorf und das Tonkino Poysdorf. Ein Filmvorführer aus Großkrut erinnert sich. Und es werden Geschichten und „Gschichtln“ von Kinos in 14 Orten des Weinviertels erzählt. 44 historische und aktuelle Fotos zeigen am Ende Fassaden und Säle von Kinos, die inzwischen verschwunden sind. Auch wenn das Weinviertel für mich weit entfernt ist: die Abbildungen haben eine große Qualität, die Texte zeugen von der Neugier der beiden Autoren. Das Buch ist in der Edition Winkler-Hermaden erschienen. Mehr zum Buch: verschwundene-kinos-im-weinviertel/

CineStoria

Wie wird die Weltgeschichte, wie werden historische Ereig-nisse konkret im Film darge-stellt? Josef Johannes Schmid beginnt mit diesem Band eine Buchreihe, die das in Texten und Bildern dokumentieren soll. Band 1 „Im Schatten Roms“ führt uns von den Anfängen bis zu Karl dem Großen. Zur Vorgeschichte gehören Film wie ONE MIL-LION B.C. (1940) von Hal Roach und ONE MILLION YEARS B.C. (1966) von Don Chaffey oder 10,000 BC (2008) von Roland Emmerich. Dann kommt Ägypten mit Titeln wie DAS WEIB DES PHARAO (1922) von Ernst Lubitsch, SUEZ (1938) von Allan Dwan, THE EGYPTIAN (1954) von Michael Curtiz oder LAND OF THE PHARAOHS (1955) von Howard Hawks. Es folgen der vordere Orient und die „Biblische Geschichte“ mit Abraham, Noah, Moses, Samson und Delilah, König David, Salomon und Jeremias (49 Titel, der bekannteste ist wohl THE TEN COMMANDMENTS, 1956, von Cecil B. DeMille. 51 Filme beziehen sich auf die griechische Mythologie. Insgesamt sieben Kapitel (160 Seiten) sind Filmen über das Römische Reich von der Frühzeit bis zum Ende des fünften Jahrhunderts gewidmet, im Mittelpunkt steht das Zeitalter Caesars. Nach der christlichen Kirche des 5. bis 7. Jahrhunderts (zehn Filme) folgen die großen Sagenzyklen, darunter die Nibelungen-Filme (u.a. von Fritz Lang und Harald Reinl), die King Arthur-Filme (4, darunter KNIGHTS OF THE ROUND TABLE, 1953, von Richard Thorpe) und Lancelot (2, einer von Robert Bresson). Zehn Seiten beschäftigen sich mit den Jahrhunderten Konstantinopels, 14 Seiten mit Propheten und Kalifen, und dann sind wir bei Karl dem Großen angekommen, über den es bisher keinen Kinofilm gibt. Der Autor hat gut recherchiert, die Filme werden von ihm kritisch bewertet, speziell im Hinblick auf die historische Darstellung, die Zahl der Abbildungen ist begrenzt, die Druckqualität hervorragend. Ich bin gespannt, wieviele Bände im Verlag Nünnerich-Asmus erscheinen werden. Mehr zum Buch: CineStoria%20I/

Michael Caine

Er hat in über 160 Filmen mit-gespielt und gilt als einer der großen englischen Charakter-darsteller. Michael Caine (*1933) hieß eigentlich Maurice Joseph Micklewhite, Jr. und wählte seinen Künstlernamen, weil ihn der Film THE CAINE MUTINY von Edward Dmytryck mit Humphrey Bogart sehr be-eindruckt hatte. Er wurde sechsmal für den Oscar nomi-niert und hat ihn zweimal gewonnen. In seinem Buch „Die verdammten Türen sprengen“ blickt er zurück auf ein Leben mit großen Erfolgen und katastrophalen Flops. Weil er seine Erfahrungen gern an jüngere Menschen weitergeben möchte, hat der Text einen pädagogischen Duktus. Die 16 Kapitel haben Zwischenüberschriften wie „Lernen Sie, was Sie können, aus dem, was Sie kriegen“, „Sie können nie wissen, wo sich Ihre Chance ergibt“, „Seien Sie authentisch“ oder „Verlieren Sie nie die Bodenhaftung“. Er stammt aus einem Londoner Arbeiterviertel, wurde in den 1960er Jahren ein Angry Young Man, erlebte seinen internationalen Durchbruch mit ALFIE von Lewis Gilbert und erzählt in seinen sehr lesenswerten Erinnerungen von Begegnungen u.a. mit David Bowie, Sean Connery, Bette Davis, Jane Fonda, Roger Moore, Laurence Olivier, Elizabeth Taylor und John Wayne. Der Titel ist ein Zitat aus dem Film THE ITALIAN JOB (1969) von Peter Collinson. Mehr zum Buch: die-verdammten-tueren-sprengen.html

Genre-Störungen

In elf Texten geht es um die Irritation als ästhetische Erfah-rung im Film, bezogen auf Science-Fiction, Western und Horror und mediale Verschmel-zungen. Fünf Texte finde ich besonders interessant: Jennifer Henke entdeckt in neues Ste-reotyp der Wissenschaftlerin im Film am Beispiel von CONTACT (1997) und GRAVITY (2013). Matthias Kepser erprobt Genre-Störungen im Western. Lukas Foerster beschäftigt sich mit den Horrorfilmen von Herman Yau und Anthony Wong. Marcus Stiglegger richtet seinen Blick auf die ästhetische Subversion von Genredramaturgien in UNDER THE SKIN von Jonathan Glazer und NOCTURNAL ANIMALS von Tom Ford. Benjamin Moldenhauer sieht TWIN PEAKS von David Lynch als Störung serialisierter Behaglichkeitsversprechen. Band 11 der Schriftenreihe zur Textualität des Films. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: genre-stoerungen-stf-11.html

ATLAS (2019)

Der Filmtitel bezieht sich auf die griechische Mythologie. Der Titan Atlas musste als Strafe das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern tragen. Auch die Hauptfigur, der Möbelpacker Walter (beeindruckend gespielt von Rainer Beck), hat schwere Lasten zu befördern. Er be-wältigt das mit stoischer Geduld. Die Firma, bei der er arbeitet, ist auf Zwangsräumungen spezialisiert. Durch Zufall begegnet er in diesem Zusam-menhang seinem inzwischen erwachsenen Sohn, den er jahrzehntelang nicht gesehen hat. Ein Familiendrama und ein Clan-Thriller verbinden sich in diesem Film auf spannende Weise. Das Spielfilmdebüt von David Nawrath hat beachtliche Qualitäten. Die DVD des Films ist jetzt bei Pandora erschienen. Mehr zur DVD: atlas.html

Gerhard Friedl

Sein Lebenswerk ist schmal, aber ungewöhnlich. Gerhard Friedl (1967-2009) hat zwei herausragende Dokumentar-filme hinterlassen: KNIT-TELFELD STADT OHNE GESCHICHTE (1997) und HAT WOLFF VON AME-RONGEN KONKURS-DELIKTE BEGANGEN? (2004). Politik, Ökonomie, Geschichte und Kriminalität sind in diesen Filmen auf eigenwillige Weise mitein-ander verwoben. Es gibt außerdem zwei Kurzfilme, die an der HFF in München entstanden sind, und zahlreiche Projektideen, die er nicht mehr realisieren konnte. Friedl hat sich 42jährig aus dem Leben verabschiedet. Synema und das Österreichische Filmmuseum haben jetzt ein Arbeitsbuch publiziert, das Volker Pantenburg herausgegeben hat. Es enthält zahlreiche Texte von Friedl (besonders interessant: seine Seminarerfahrungen mit Helmut Färber), Gespräche über die Zusammenarbeit mit ihm, Briefe und Chat-Protokolle. Ein Schlüsselbeitrag sind auch die „Fragmente einer Arbeitsbiografie“ des Herausgebers Pantenburg. Mit Abbildungen in hervorragender Qualität. Mehr zum Buch: 1563501026481

Filmkritik in der Schweiz

„Freie Sicht aufs Kino“ heißt dieses interessante Buch über die Situation der Filmkritik in der deutsch-, italienisch- und französischsprachigen Schweiz, beginnend mit drei exemplari-schen Texten aus dem Jahr 1995 von Martin Schlappner, Guglielmo Volonterio und Freddy Buache (der leider 2019 verstorben ist). Josef Stutzer unternimmt im Gespräch mit Walter Vian einen Streifzug durch 60 Jahre Filmbulletin. Andreas Scheiner äußert sich zur Filmkritik im digitalen Wandel. Stéphane Gobbo informiert über die Veränderungen der Filmkritik in der französischen Schweiz seit 1990. Bei Martin Walder geht es um das Deutschschweizer Radio und den Film. Denise Bucher und Tereza Fischer wünschen sich in ihrem Gespräch mehr weibliche Vorbilder in der Filmkritik. Johannes Binotto sieht den Videoessay als Zukunft der Filmkritik. Eine sehr lesenswerte Bestandsaufnahme zur Filmkritik in unserem Nachbarland. Mit vielen Abbildungen. Band 5 der „edition filmbulletin“.Mehr zum Buch: filmkritik-in-der-schweiz.html

Der Weinstein-Skandal

In New York findet zurzeit der Prozess gegen den Filmprodu-zenten Harvey Weinstein wegen sexuellen Missbrauchs in zwei konkreten Fällen statt. Mit zahl-reichen ebenfalls betroffenen Frauen gab es zuvor außerge-richtliche Vergleiche. Eine Schlüsselfunktion im Weinstein-Skandal hat der Anwalt und Journalist Ronan Farrow, der zwei Jahre intensiv für den Sender NBC recherchiert hat und viele von Weinstein und seinen Juristen eingeschüchterte Frauen überzeugen konnte, ihre einschlägigen Erfahrungen öffentlich zu machen. Publiziert wurde das Material schließlich in der Zeitschrift New Yorker, weil NBC in den oberen Etagen das Thema verhinderte. Farrow beschreibt in seinem Buch (Originaltitel „Catch and Kill“) detailliert, wie er bei seinen Ermittlungen vorgegangen ist, welche Hindernisse ihm in den Weg gelegt wurden, welche Umwege er machen musste. Die 500 Seiten sind teilweise eine spannende Lektüre, gelegentlich führen sie in ein Labyrinth historischer Fakten, das mit der Zielrichtung nicht mehr viel zu tun hat, am Ende gibt es noch interessante Informationen über die Rolle des Nachrichtendienstes Black Cube, der im Auftrag Weinsteins tätig war. Deprimierend: die Haltung des NBC-Today-Chefs Noah Oppenheim. Beeindruckend: der Mut des New Yorker-Chefredakteurs David Remnick. Auch der familiäre Hintergrund des Autors Ronan Farrow, Sohn von Mia Farrow und (vermutlich) Woody Allen, kommt zur Sprache. Die deutsche Ausgabe ist im Rowohlt Verlag erschienen. Mehr zum Buch: durchbruch.html

Das Unschärfebild

Eine Dissertation, die an der Bauhaus-Universität Weimar entstanden ist. Adina Lauen-burger beschäftigt sich darin medientheoretisch mit dem Unschärfebild. Sie teilt ihre Untersuchung in zwei Bereiche: 1. Vorstellungen vom kinema-tografischen Bild oder der Sonderfall Josef von Sternberg, 2. Unschärfen und Medien. Die Entdeckungen und Beschrei-bungen der Unschärfen in Sternbergs Filmen SHANGHAI EXPRESS und THE SCARLET EMPRESS sind herausragend. Es geht dabei um Überblendungen, beliebige Räume, Vorstellen und Verstellen, Schleier, Bildgrenzen, Lichträume, Ornamente, Raster, Reflexion, Refraktion und Relation. 72 Abbildungen unterstützen den Text. Im zweiten Teil dominieren medienbegriffliche Klärungen, die wenig konkretisiert werden. Der Schlussabsatz lautet: „So ist das Unschärfebild im Singular zuletzt die Essenz aus der Vielzahl von Folgerungen, die gerade auch die Geschichte des Medienbegriffs als das Verhältnis von Exzess und Verwerfung enthüllen. Indem das Unschärfebild aber solches mitteilt, fällt es selbst unaufhörlich neuen Teilungen zu. Es lässt sich so an keiner Stelle als ein Drittes im System der Ausschlüsse fixieren. Und dies ist seine medientheoretische Definition.“ (S. 310). Mehr zum Buch: das-unschaerfebild