Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet

Herbert Engelsing (1904-1962) war promovierter Jurist, arbeitete ab 1935 bei der Firma Tobis als Produktionsleiter, wurde 1937 „Herstellungsgruppenleiter“ und betreute Film wie ALLOTRIA und SERENADE von Willi Forst, DER MUSTERGATTE von Wolfgang Liebeneiner, DIE UMWEGE DES SCHÖNEN KARL von Carl Froelich. Nach Kriegsausbruch war er auch für propagandistische Film wie DER FUCHS VON GLENARVON von Max W. Kimmich und JAKKO von Fritz Peter Buch verantwortlich. Er war Mitglied der NSDAP, hatte aber in den 40er Jahren enge Kontakte zur Roten Kapelle. Er half zahlreichen Gefährdeten und Verfolgten. 1938 heiratete er mit offizieller Erlaubnis die „Halbjüdin“ Inge Kohler. In den letzten Kriegsmonaten betreute er auf der Insel Mainau die Dreharbeiten zu dem Film LEB’ WOHL, CHRISTINA von Gustav Fröhlich, der unvollendet blieb. In der Nachkriegszeit arbeitete er vorwiegend als Anwalt. Herbert Engelsings Sohn Tobias (*1960) hat eine Biografie verfasst mit dem Untertitel „Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand“. Sie ist sehr gut recherchiert, nutzt unterschiedlichste Quellen und erzählt quasi ein Doppelleben. Die Lektüre ist spannend, es gibt zahlreiche Abbildungen. Ein ärgerlicher Fehler: der Vorname von Gustaf Gründgens ist durchgehend mit v geschrieben. Mehr zum Buch: kein-mensch-der-sich-fuer-normale-zeiten-eignet-9783549100264.html

Endlich noch nicht angekommen

Désirée Nosbusch (*1965) ist in zwei Berufen erfolgreich, als Moderatorin und als Schauspielerin. In ihrer Autobiografie, verfasst zusammen mit dem Stern-Redakteur Jochen Siemens, erzählt sie die wechselvolle Geschichte ihres bisherigen Lebens. Als Tochter eines luxemburgischen LKW-Fahrers und einer italienischen Schneiderin wuchs sie vielsprachig auf, hatte mit zwölf Jahren ihren ersten Auftritt als Kindermoderatorin bei Radio Luxemburg und spielte mit 16 Jahren die Hauptrolle in Wolf Gremms Film NACH MITTERNACHT. Am New Yorker Herbert Berghof-Studio ließ sie sich zur Schauspielerin ausbilden. Für ARD und ZDF moderiert sie seit den 1970er Jahren verschiedene Sendungen, auch im französischen Fernsehen war sie zu sehen. Ihr Privatleben wurde durch wechselnde Beziehungen kompliziert, ihr Manager übte in den 80er Jahren starke Macht aus, von der sie sich schwer befreien konnte. Während ihrer Ehe mit dem österreichischen Komponisten Harald Kloser brachte sie zwei Kinder zur Welt. Inzwischen ist sie mit dem Kameramann Tom Alexander Bierbaumer verheiratet. In der Serie BAD BANKS (2018ff) spielte sie die Investmentchefin Christine Leblanc, seit 2019 ist sie in der Reihe DER IRLAND-KRIMI die Polizeipsychologin Cathrin Blake. Im Buch erzählt sie von ihrer Arbeit, von vielen Begegnungen und gibt Einblick in ihr Denken und Fühlen. Die Lektüre ist spannend. Mehr zum Buch: endlich-noch-nicht-angekommen-9783550201738.html

GRAND OPERA (1979) + O PANAMA (1985)

James Benning, der in diesem Jahr achtzig Jahre alt wird, macht Experimentalfilme und agiert als Einzelkämpfer. Er ist für Kamera, Ton und Schnitt verantwortlich. Er zeigt oft Landschaften und Orte in langen Einstellungen. GRAND OPERA. AN HISTORICAL ROMANCE dauert 81 Minuten ist eine Hommage an Hollis Frampton, George Landow, Yvonne Rainer und Michael Snow. Zur Sprache kommen Bennings eigene Biografie – er ist Sohn deutscher Emigranten – und Aspekte der Kinogeschichte. Man muss den Film mehrfach sehen, um die verschiedenen Ebenen zu entdecken und die Verbindungen herzustellen. Dann erschließt sich der Reichtum. O PANAMA dauert 27 Minuten und wirkt als Collage wie der Fiebertraum eines Kranken (Willem Dafoe), der Reales und Imaginiertes erlebt. Der Österreichische Filmmuseum kümmert sich um die Restaurierung der Filme von James Benning. GRAND OPERA und O PANAMA sind jetzt in der Edition Filmmuseum als DVD erschienen. Mit einem informativen Booklet. Sehr zu empfehlen, wenn man an filmischen Experimenten interessiert ist. Mehr zur DVD: /info/p205_Grand-Opera.html

Film und Kino als Spiegel

Eine Dissertation, die an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig entstanden ist. Viola Rühse analysiert darin Siegfried Kracauers Film-schriften aus Deutschland und Frankreich. Sie informiert zunächst über Kracauer und seine Beschäftigung mit Film. Fünf Kapitel strukturieren den Hauptteil. 1. Kracauers positive Einschätzung des Films DIE STRASSE von Karl Grune in Texten 1924 und 25. Hier unternimmt die Autorin einen originellen Vergleich mit der transzendentalen Obdachlosigkeit in dem Film LA GRANDE BELLEZZA (2013) von Paolo Sorrentino. 2. Film als Spiegel der Gesellschaft – Kracauer und die kinobegeisterten „kleinen Ladenmädchen“. 3. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Kracauer mit einem Exkurs zu Kinos in Gemälden Edward Hoppers. 4. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee – Rationalismuskritik und Schulung der Vernunft in Kracauers Filmidee „Dimanche“. Hier spannt der experimentelle Kurzfilm SOUNDS OF NATURE (2013) den Bogen in die Gegenwart. 5. Sergei Eisensteins mexikanischer „Danse macabre“ in Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/41. Die Autorin öffnet den Blick für Texte Kracauers in unterschiedlichen Zeiten und erweitert ihn durch ihre Perspektivwechsel in die Gegenwart am Ende jedes Kapitels. Der Erkenntnisgewinn ist beeindruckend. Mit vielen Abbildungen in guter Qualität. Coverfoto: „Ein Kino“, Paris 16.1.1935, fotografiert von Lili Kracauer. Mehr zum Buch: document/doi/10.1515/9783110705812/html

Andreas Dresen

Die Nr. 64 der Film-Konzepte ist dem Regisseur Andreas Dresen gewidmet. Der Herausgeber Jörn Schweinitz beschreibt zur Einführung den speziellen Dresen-Ton mit vielen Beispielen. Zusammen mit Selina Hangartner hat er ein langes Interview mit Andreas Dresen geführt. Bei Stefanie Mathilde Frank geht es um das Theater als Verhandlungsraum in Dresens Spielfilmdebüt STILLES LAND. Daniel Wiegand richtet den Blick auf die Montage-Konstruktionen in NACHTGESTALTEN und DIE POLIZISTIN. Hans J. Wulff beobachtet den Schauspieler Axel Prahl in den Filmen von Dresen. Selina Hangartner entdeckt die Ironie in dem Dokumentarfilm HERR WICHMANN VON DER CDU. Andreas Kötzing äußert sich zur Inszenierung der Nachwendezeit in ALS WIR TRÄUMTEN. Es sind vor allem die Kinofilme, die hier untersucht werden. Aus der Summe der Erkenntnisse entsteht ein komplexes Bild der künstlerischen Arbeit des Regisseurs. Thematisiert werden die Kameraarbeit (oft: Andreas Höfer), die Mittel der Improvisation, Drehorte und Ausstattung, die Zusammenarbeit mit Wolfgang Kohlhaase und Leila Stieler beim Drehbuch, die Musikalität der Filme. Ein sehr gelungener Band. Coverfoto: Christel Peters in SOMMER VORM BALKON. Mehr zum Buch: https://www.etk-muenchen.de/search/Details.aspx?ISBN=9783967075809#.YlRJ4GWh5E4 

Die Heldin reist

Drei Geschichten einer Frau, die verreist, um das Fürchten zu verlernen. Doris Dörrie fuhr 2019, im Jahr vor Ausbruch der Pandemie, nach San Francisco, Tokio und Marrakesch. In San Francisco zeigt sie auf einem Festival ihren Film KIRSCH-BLÜTEN UND DÄMONEN. Sie erinnert sich an ihre ersten Reisen nach San Francisco, wo sie 1973/74 studiert hat. Sie trifft Freundinnen und Freunde, träumt im Halbschlaf und denkt über die Abenteuerreisen von Helden in der Literatur nach. Die Rückreise nach Deutschland endet mit einem Zwischenfall. 1985 war Doris zum ersten Mal in Japan. Inzwischen fährt sie fast jedes Jahr dorthin. 2019 trifft sie ihre Freundin Tatsu in Tokio, die in Deutschland Musik studiert hat. Was haben zwei Frauen im jeweils anderen Land für unterschiedliche Erfahrungen gemacht? Nach Marrakesch reist Doris mit ihrer Freundin Eva. Die erleidet dort eine Panikattacke. Es sind Erinnerungen, Reflexionen und Fiktionen, die Doris Dörrie in diesem Buch miteinander verbindet. Und weil sie wunderbar schreiben kann, ist die Lektüre spannend und regt zum Nachdenken über das Reisen an. Mehr zum Buch: die-heldin-reist-9783257612646.html

AMERASIA (1985) & VIỆT NAM! (1994)

Wolf-Eckart Bühler (1945-2020) war Filmkritiker (er hat in den 1970er Jahren einige unvergessliche Themenhefte der Filmkritik herausgegeben), Regisseur und Autor. Seine Filme LEUCHTTURM DES CHAOS (1983) und DER HAVARIST (1984) sind 2018 in der „Edition Filmmuseum“ als DVDs erschienen, jetzt gibt es dort auch AMERASIA und Việt Nam!. Film Nr. 1 dokumentiert Folgen des Vietnamkrieges in Thailand, wo sich US-Veteranen von den Traumata des Krieges zu befreien versuchen und auch andere Spuren des Krieges zu finden sind. Film Nr. 2 zeigt den „Umgang mit einer leidvollen Vergangenheit“ in Vietnam selbst, Erinnerungen an Erniedrigung, Angst und den Tod von Angehörigen. Beide Filme sind nah an ihren Protagonisten und sehr sehenswert als Dokumentationen von Kriegsfolgen. Zu den Extras gehören die Bühler-Filme LEO T. HURWITZ: FILME FÜR EIN ANDERES AMERIKA (1980, 44 Min.), ÜBER IRVING LERNER (1981, 11 Min.) und INNERE SICHERHEIT: ABRAHAM POLONSKY (1981, 44 Min.), realisiert für den WDR. Als Audios sind Sendungen über die Zeitschrift Filmkritik (1974, 55 Min.), Sterling Hayden (1980, 55 Min.) und Abraham Polonsky (1982, 55 Min.) zu hören. Das Booklet enthält Texte von Olaf Möller, Wolf-Eckart Bühler und einen Nachruf auf Bühler von Hans Schifferle aus SigiGötz Entertainment Nr. 35. Mehr zur DVD: p202_Amerasia—Vi–7879-t-Nam-.html

Geschichte der Filmstadt Berlin

In 14 Kapiteln erzählt Oliver Ohmann die Geschichte der Filmstadt Berlin: Pioniere aus Pankow bringen Bilder zum Laufen (1895-1910), Berliner Kindheit der Kinematographie (1911-1918), Aufstieg zur Stummfilm-Metropole Europas (1919-1924) – Die Filmstadt im goldenen Jahrfünft (1915-1929) – Tonfilm-Durchbruch und die Auflösung der Republik (1930-1932) – Die braune Macht greift nach dem Film (1933-1938) – Kino im Krieg mit Unterhaltung bis zum Untergang (1939-1945) – Stunde Null und Neuanfang in Trümmern (1945-1949) – Kino-Comeback in einer geteilten Stadt (1950-1959) – Winnetou, Sir John und die Spur der Steine (1960-1969) – Von Paul und Paula zu Fassbinders Alexanderplatz (1970-1979) – Solo Sunny und der Himmel über Berlin (1980-1989) – Marlene kehrt heim und Lola rennt in die Filmgeschichte (1990-2000) – Dauergast Hollywood und Kinozwangspause in der Pandemie (2001 bis heute). Wir erfahren viel über Filme, die in Berlin gedreht wurden, über Kinos, in denen sie zu sehen waren, über Menschen aus der Filmbranche, die hier gelebt haben oder noch leben, über das Studio in Babelsberg und die Berlinale. Gut recherchiert, spannend erzählt. Eingefügt sind 35 kleine Porträts von Schauspielerinnen und Schauspielern, Regisseuren und Produzenten. Die Abbildungen haben eine gute Qualität. Coverfoto: Dreharbeiten zu EINS, ZWEI, DREI von Billy Wilder (Sommer 1961). Mehr zum Buch: elsengold.de/produkt/klappe/

„Brunnenstraße“

Dies ist der achte Roman der Schauspielerin Andrea Sawatzki und ihr persönlichster. Sie erzählt die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend. Sie war unehelich geboren, ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester in Vaihingen, sie wuchs bei fremden Familien auf. Ihr Vater, Günther Sawatzki, war für den Kölner Stadt-Anzeiger tätig. Nachdem seine Frau gestorben war, heiratete er Andreas Mutter. Da war seine Tochter acht Jahre alt. Durch verschiedene Unglückfälle verlor er seinen Job als Redakteur, er versuchte sich als freier Autor, hatte aber gesundheitlich Probleme. Die finanzielle Lage der Familie wurde desolat, die Mutter arbeitete als Nachtschwester, Andrea musste sich um den Vater kümmern, der mehrere Schlaganfälle hatte und zunehmend an Demenz litt. Die Konflikte wurden oft physisch ausgetragen. Er starb, als Andrea 15 Jahre alt war. Es ist bewegend, mit welcher Genauigkeit die Schauspielerin das wechselvolle Verhältnis zu ihrem Vater schildert. Es gibt Szenen, die man kaum glauben möchte, die aber sicherlich so stattgefunden haben. Eine Coming-of-Age-Geschichte der 1970er Jahre, wie man sie noch nie gelesen hat. Mehr zum Buch: brunnenstrasse-isbn-978-3-492-07053-9

Friedrich Dalsheim

Er war ein Pionier des ethnographischen Films und ist inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten. Der Regisseur, Autor, Produzent und Kameramann Friedrich Dalsheim (1895-1936) hat in den 1930er Jahren vier abendfüllende Dokumentationen realisiert, die das alltägliche Leben in entfernten Regionen aus der Perspektive der Gefilmten zeigen. MENSCHEN IM BUSCH (1930) entstand im westafrikanischen Togo gemeinsam mit der Ethnologin Gulla Pfeffer und beobachtet den Alltag und das Leben in einem Dorf. DIE INSEL DER DÄMONEN (1933) wurde auf Bali gedreht, das damals von den Niederlanden beherrscht war, und zeigt die Macht einer alten Hexe und Zauberin, deren Einfluss nur mit Mühe gebrochen werden kann. Schauplatz von PALOS BRUDEFAERD (1934) ist Ostgrönland, erzählt wird die Werbung von zwei Robbenfängern um eine schöne junge Frau, die brutale Formen annimmt. Das Drehbuch stammte von Knud Rasmussen. DIE KOPFJÄGER VON BORNEO (1936) führt uns auf die Insel in Südostasien, zeigt die Rivalität zwischen zwei Dörfern, deren Häuptlinge einen Friedenschluss versuchen. Expeditionsleiter war – wie auch bei DIE INSEL DER DÄMONEN – Victor von Plessen. Das Buch über Friedrich Dalsheim, herausgegeben von Louise von Plessen, sollte eigentlich der Katalog zu einer Ausstellung des Museums für Film und Fernsehen werden. Das Projekt wurde coronabedingt verschoben. Bei Hentrich & Hentrich ist jetzt die sehr lesenswerte Publikation erschienen. Vier Essays über die genannten Filme stehen im Mittelpunkt, sie stammen von Ulrike Ottinger (über MENSCHEN IM BUSCH), Louise von Plessen (über DIE INSEL DER DÄMONEN und PALOS BRUDERFAERD) und Sophie von Plessen (über DIE KOPFGJÄGER VON BORNEO). Michael Appel erschließt die Sammlung Friedrich Dalsheim im Museum fünf Kontinente, München. Mit einem Vorwort von Rainer Rother. Zweisprachig (deutsch/englisch), mit vielen Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: hentrichhentrich.de/buch-friedrich-dalsheim.html

Morgen Abend wird in der Schleswig-Holsteinischen Landesvertretung der Film DIE INSEL DER DÄMONEN gezeigt und das Buch präsentiert.