DAS ZWEITE GLEIS (1962)

Ein DEFA-Film, der sich mit der deutschen Vergangenheit in der NS-Zeit beschäftigt. Ungewöhn-lich: Schauplatz ist die DDR. Auf einem Güterbahnhof passiert ein Diebstahl, der Fahrdienstleiter Brock lässt einen der Täter, er heißt Runge, davonkommen, denn er hat ihm gegenüber einmal schuldhaft versagt: während des Zweiten Weltkriegs hat Brocks Frau einen jüdischen Flüchtling versteckt. Runge hat den Flüchtling erschossen und Brocks Frau der Gestapo ausgeliefert. Brock hat sich damals nicht dagegen gewehrt. Brocks Tochter Vera und der junge Schlosser Frank, ein Kumpel von Runge, stellen Nachforschungen zum damaligen Tatbestand an. Frank wird am Ende von Runge umgebracht, Brock befreit sich durch ein Geständnis von der alten Schuld. Der Schwarzweiß-Film (Regie: Joachim Kunert, Kamera: Rolf Sohre) hat erstaunliche formale Stärken, die Schauspieler Albert Hetterle (Brock), Annekathrin Bürger (Vera), Host Jonischkan (Frank), Walter Richter-Reinick (Runge) und Helga Göring (Frau Runge) sind beeindruckend. Ein ungewöhnlicher Film, der jetzt bei Icestorm als DVD erschienen ist. Mehr zur DVD: das-zweite-gleis.html

DER TRAFIKANT (2018)

Die Schlüsselfigur dieses histo-rischen Filmdramas ist der Wiener Tabakwarenhändler Otto Trsnjek, Kriegsinvalide aus dem Ersten Weltkrieg, zu dessen Stammkunden der 82jährige Sigmund Freud gehört. Haupt-figur ist der 17jährige Franz Huchel, der beim Trafikanten in die Lehre geht, sich in die böh-mische Varietétänzerin Anezka verliebt und psychologische Beratung bei Freud sucht. Nach der Annektion Österreichs durch Nazi-Deutschland geht die Freud-Familie ins Exil nach London. Trsnjek wird von einem benachbarter Fleischhändler bei der Gestapo denunziert, sein Laden demoliert, er selbst verhaftet. Später wird Franz informiert, dass sein Chef an einem Herzinfarkt gestorben sei. In einem symbolischen Akt installiert er eine Hose des Trafikanten wie eine Flagge vor dem Gestapo-Hauptquartier. Am nächsten Morgen wird er verhaftet. Anezka findet am Ende am Fenster des geschlossenen Geschäfts eine Botschaft von Franz. – Die Verfilmung des Romans von Robert Seethaler durch Nikolaus Leytner ist nicht wirklich geglückt, zu viele Szenen wirken kulissenhaft, aber die Besetzung mit Simon Morzé als Franz, Bruno Ganz (in seiner vorletzten Rolle) als Sigmund Freud, Emma Drogunova als Anezka, Johannes Krisch als Otto Trsnjek und Karoline Eichhorn als Anna Freud ist überzeugend und führt zu vielen beeindruckenden Momenten. Bei Tobis ist jetzt eine DVD des Films erschienen. Mit 40 Minuten interessantem Bonusmaterial. Mehr zur DVD: film/der-trafikant

Lana Gogoberidse

Die georgische Regisseurin – sie ist im vergangenen Jahr 90 Jahre alt geworden – hat eine wunderbare Autobiografie geschrieben, die jetzt im Mitteldeutschen Verlag auf Deutsch erschienen ist. Unter dem Titel „Ich trank Gift wie kacheti-schen Wein“ erzählt sie auf 500 Seiten ihre Lebensgeschichte, die reich an traurigen und schönen Ereignissen ist. Ich nenne neun Kapitel, die mir besonders gut gefallen haben: „Das seltsame Leben in der Sowjetunion, mit Kinderaugen gesehen“, „Georgische Heiterkeit als Antwort auf den Terror“, „Moskau, WGIK, Gerassimov und andere Begegnungen“ (über ihre Ausbildung an der Filmhoch-schule), „Das Leben im Kino, Zensur, Verbote…Und meine ersten Filme“, „Italien 1974. Aufzeichnungen“ (Begegnungen mit Fellini, Antonioni, Zavattini), „In der Heimat von Tagore, Begegnung mit Sayajit Ray“, „Filmfestivals: Berlin, Cannes, Tokio, Rio de Janeiro“ (sie war 1984 Mitglied der Berlinale-Jury), „Europarat oder Georgiens großes europäisches Abenteuer“ (sie hielt 1999 anlässlich der Aufnahme Georgiens in den Europarat eine beeindruckende Rede, die hier dokumentiert ist), „Abschied vom deutschen Leser“. Natürlich sind auch ihren vier wichtigsten Filmen eigene Kapitel gewidmet, die unbedingt lesenswert sind: ALS DIE MANDELBÄUME BLÜHTEN (1973), EINIGE INTERVIEWS ZU PERSÖNLICHEN FRAGEN (1978), DER TAG IST LÄNGER ALS DIE NACHT (1984) und DER WALZER AUF DER PETSCHORA (1992). Mit 16 Fotoseiten in der Mitte des Bandes. Die Coverabbildung finde ich zu dunkel und eintönig. Mehr zum Buch: kachetischen-wein-detail

Bilder einer besseren Welt

Eine Habilitationsschrift, die an der Universität Zürich entstan-den ist und an der Universität Bayreuth vollendet wurde. Simon Spiegel verifiziert darin an vielen konkreten Beispielen seine These, dass die Utopie im nichtfiktionalen Film besser darzustellen ist als im Spielfilm. Zunächst klärt der Autor begrifflich „Utopisches“, „Filmisches“, „Dokumentari-sches“ und „Semiopragmati-sches“. In vier Kapiteln geht es dann um die Zukunftsfilme der „defa-futurum“, Utopische Propaganda (nationalsozialistische und sowjetische Propaganda, Zionismus als Utopie, das Kalifat als islamische Utopie), Stadtutopien und Utopien der Gegenwart („Nach der Klassik“). Sehr differenziert werden u.a. die Filme ZEITGEIST: ADDENDUM (2008) von Peter Joseph, LAND OF PROMISE (1924) von Juda Leman, THE CITY (1939) von Ralph Steiner und Willard Van Dyke, TO NEW HORIZONS (1940) von General Motors, THE EPCOT FILM (1966) von Arthur J. Vitarelli, DEMAIN (2015) von Cyril Dion und Mélanie Laurent, THE MARSDREAMERS (2009) von Richard Dindo. Es handelt sich dabei zum großen Teil um nichtabendfüllende Filme, die aber im historischen Kontext sehr interessant sind. Mit 424 Seiten eine beeindruckende Publikation. Die Abbildungen haben eine sehr gute Qualität. Band 40 der „Zürcher Filmstudien“.Mehr zum Buch: bilder-einer-besseren-welt.html

Was uns stark macht

Die französische Journalistin Annick Cojean ist vor allem für die Zeitung Le Monde tätig. Dort publiziert sie regelmäßig Inter-views mit Frauen unter der Überschrift „Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …“. 21 Gespräche sind jetzt im Aufbau Verlag in deutscher Übersetzung erschienen. Ich finde sie her-ausragend, weil Cojean, bestens vorbereitet, mit großer Sensibi-lität Fragen stellt, auf die von den verschiedenen Frauen unkonventionell und ehrlich geantwortet wird. Die Ge-sprächspartnerinnen sind die Schauspielerinnen Claudia Cardinale, Nicole Kidman, Vanessa Redgrave, Brigitte Bardot und Hiam Abbass, die Schriftstellerinnen Amélie Nothomb, Virginie Despentes (auch als Regisseurin bekannt), Asli Erdoğan und Eve Ensler, die Sängerinnen Patti Smith, Juliette Greco, Joan Baez, Marianne Faithfull, Cecilia Bartoli und Angélique Kidjo, die Pianistin Hélène Grimaud, die Politikerin Anne Hildalgo, die Journalistin Delphine Horvilleur, die Juristin und Friedensnobelpreis-trägerin Shirin Ebadi, die Modedesignerin Agnès b. und die Ethnologin Françoise Héritier. Nicht alle Gesprächspartnerinnen waren mir bekannt. Ich habe aus den Interviews viel gelernt. Mehr zum Buch: was-uns-stark-macht.html

PARIS, TEXAS

Der Verlag editon text + kritik eröffnet mit dieser Publikation eine neue Buchreihe: „FILM | LEKTÜREN“. Sie wird von Jörn Glasenapp herausgegeben, der den Lehrstuhl Literatur und Medien an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg innehat. Band 1 ist dem Film PARIS, TEXAS (1984) von Wim Wen-ders gewidmet, für den der Regisseur in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Hauptfiguren des Films sind Travis Henderson (Harry Dean Stanton), der vor vier Jahren in der Wüste verschwun-den ist, sein siebenjähriger Sohn Hunter, der in der Obhut von Travis’ Bruder Walt (Dean Stockwell) und dessen Frau aufwächst, und Jane (Nastassja Kinski), die Mutter von Hunter. Sie arbeitet inzwischen in einer Peepshow. Travis taucht zu Beginn verwahrlost in einer kleinen Stadt auf, sein Bruder in Los Angeles wird benachrichtigt und kommt mit Frau und Pflegesohn. Travis macht sich auf die Suche nach Jane, besucht sie mehrfach unerkannt in einer Kabine und erzählt ihr über ein Telefon seine (und ihre) Geschichte. Am Ende kommt es zur Wiederbegegnung von Mutter und Sohn. Travis fährt im Auto davon. Mit vielen Exkursen in die Literatur und Zitaten zur Rezeption des Films beschreibt Glasenapp die Bildsprache von PARIS, TEXAS (Kamera: Robby Müller), verweist auf Allegorien, schildert den Weg des Regisseurs bis zur Realisierung des Films und schlägt am Ende einen Bogen zu dem Film DON’T COME KNOCKING (2005). 115 Seiten mit zumeist farbigen Abbildungen in sehr guter Qualität. Pro Jahr soll ein Band in der neuen Reihe erscheinen. Man darf gespannt sein. Mehr zum Buch: XMnolOn-BW8

THE SICILIAN (1987)

1961 hat Francesco Rosi den Film WER ERSCHOSS SALVA-TORE G.? gedreht, der in doku-mentarischem Stil das Leben und Wirken des sizilianischen Banditen Salvatore Giuliano in den späten 40er Jahren erzählte. 26 Jahre später hat Michael Cimino den Film THE SICILIAN nach dem Roman von Mario Puzo realisiert, der den „guten Banditen“ als italienischen Robin Hood in seinem Kampf für die Unabhängigkeit Siziliens und gegen die Mafia auf spannende Weise in Szene setzt. Christopher Lambert ist in der Titelrolle beeindruckend, auch Terence Stamp, Joss Ackland, John Turturro und Barbara Sukowa sind interessante Darsteller in wichtigen Rollen. Bei Koch Media ist jetzt eine DVD des Films erschienen, die unbedingt zu empfehlen ist. Der Vergleich zu Rosis Film wäre einen Essay wert. Den dritten Film zum Thema, GIULIANO – DER REBELL VON SIZILIEN (1950) von Aldo Vergano mit Vittorio Gassman, kenne ich nicht. Mehr zur DVD: der_sizilianer_dvd/

GUNDERMANN (2018)

Gestern Abend ist der Film GUNDERMANN von Andreas Dresen mit der „Goldenen Lola“ als bester deutscher Film des Jahres ausgezeichnet worden. Er war in zehn Kategorien nominiert, erhielt sechs Lolas für die beste Regie, das beste Drehbuch, den besten Haupt-darsteller, das beste Szenenbild, das beste Kostümbild und als bester Film. Mich hat das Por-trät des Sängers und Bagger-fahrers in Hoyerswerda sehr beeindruckt, das von Andreas Dresen nach einem Drehbuch von Laila Stieler inszeniert wurde. Der Darsteller Alexander Scheer ist herausragend in der Titelrolle. Als Begleitband zum Film hat der Ch. Links Verlag ein Buch veröffentlicht, das viele interessante Informationen enthält (gundermann/). Bei Pandora ist inzwischen eine DVD des Films erschienen, die jedem zu empfehlen ist, der den Film nicht im Kino gesehen hat. Mehr zur DVD: gundermann.html

„Zugabe!“ von Mario Adorf

Als Schauspieler hat er mich mehr als sechzig Jahre durch mein Kino- und Fernsehleben begleitet. Im Herbst 1957 habe ich NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM gesehen, dafür bekam er ein Filmband in Gold als bester Nachwuchsdarsteller. Inzwischen ist er 88 Jahre alt… 2002 habe ich ihn durch die Ständige Ausstellung des Film-museums am Potsdamer Platz geführt, wo er im letzten Raum sehr präsent war. Auch danach sind wir uns mehrfach begegnet. Seine Erinnerungen hat er unter den Titeln „Himmel und Erde“ 2004 und „Schauen Sie mal böse“ 2015 publiziert, jetzt gibt es eine „Zugabe!“, die dem Münchner Journalisten Tim Pröse zu verdanken ist. Er hat Mario Adorf ein Jahr begleitet, zahlreiche Gespräche mit ihm geführt und Skizzen zu einem Porträt aufgeschrieben. In einem Wechselspiel zwischen Interview und Autorentext fügen sich die 35 Kapitel zu einer sehr lesenswerten Würdigung des Menschen und des Schauspielers. Besonders beeindruckend: „Mario, der Zauberer“, „Unterwegs mit einem Unentwegten“, „Seine Fehler“, „The Voice“, „Die Adorf-Ambivalenzen“, „Mario und die Männer“. Gut recherchiert, genau beobachtet, mit Empathie formuliert. Respekt! Auf Abbildungen konnte verzichtet werden. Mehr zum Buch: 978-3-462-31963-7/

„Zugabe“ von Ursula Karusseit

Sie war zu DDR-Zeiten und danach eine beeindruckende Schauspielerin auf der Bühne, im Film und im Fernsehen. Ich habe sie in der Volksbühne gesehen und natürlich in dem Mehrteiler WEGE ÜBERS LAND (1968), in den Filmen DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974) von Konrad Wolf oder OLLE HENRY (1983) von Ulrich Weiß. Vor zehn Jahren erschien das Buch „Wege übers Land und durch die Zeiten“, in dem sie dem Journalisten Hans-Dieter Schütt ihre Lebensgeschichte erzählte. Am 1. Februar 2019 starb Ursula Karusseit im Alter von 79 Jahren. Posthum ist jetzt – unter dem Titel „Zugabe“ – ein zweiter Rückblick auf ihr Leben und ihre Arbeit erschienen, formuliert mit einer gewissen Altersweisheit, lesenswert, weil er an viele Weggefährten erinnert, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Zum Beispiel an ihren späteren Ehemann, den Regisseur Benno Besson und die Inszenierung von „Moritz Tassow“ von Peter Hacks (ich habe sie im November 1965 in der Volksbühne gesehen), an Fred Düren, Rolf Ludwig, Wolf Kaiser oder Henry Hübchen. Sie hat mehrfach im Theater Regie geführt, war ab Mitte der 80er Jahre sowohl in Ostberlin wie in Köln beschäftigt und ab 1998 zwanzig Jahre lang in der Fernsehserie IN ALLER FREUNDSCHAFT. Auch darüber hat sie viel zu erzählen. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: zugabe.html