10. November 2020
Automaten, Androide, Avatare
Sieben Referate, die auf einer Tagung im Juli 2019 in Siegen gehalten worden sind. Die Diskurse handeln von Technik und Lebendigkeit. Sie sind theoretisch auf höchstem Niveau. Christiane Heibach schlägt in ihrem Text „Über Wahrnehmungs-Design“ einen Bogen von Lessing bis in die Gegenwart. Bei Katja Rothe geht es um Körperpsychotherapien und die Praktiken des Lebens. Bernhard J. Dotzler nimmt im Zeitalter der Big Data Stellung zur KI-Debatte im Wieder-holungszwang. Friedrich Weltzien untersucht die Handlungsmacht des Dings als Argument von Kant bis Latour, Daniela Hahn interpretiert zwei serielle Arbeiten der US-amerikanischen Fotografin Jamie Diamond. Wenzel Mracek beschreibt omnipräsente Data Bodies oder artifizielle Existenzen, die sich in unseren virtuellen und realen Räumen bewegen. Der für mich interessanteste Beitrag stammt von Mirjam Schaub: „Der Zombie als Interface“. Ihre Herleitung des „Zombies“, ihr Verweis auf die B-Movie-Qualitäten des Zombie-Films, ihre Freud-Interpretation des „Unheimlichen“, ihre Fragen nach dem Zombie als Symptom oder Menetekel, als ein Fall von Theoriemigration münden in Überlegungen zum Zombie als Reflexionsfigur der Philosophie, zu Sub- statt Trans-Humanität. Mehr zum Buch: titel/tekampe.php
08. November 2020
LÉON – DER PROFI (1994)
Léon ist ein Auftragskiller der Italo-Mafia in New York. Kon-takte hat er nur zu seinem Boss Tony. Als in seinem Haus eine Familie von korrupten Polizisten des Drogendezernats ermordet wird, kann er die zwölfjährige Tochter Mathilda retten und in seiner Wohnung verstecken. Sie entdeckt seinen Waffenkoffer und will von ihm als Killerin ausgebildet werden. Dafür bringt sie dem Analphabeten Lesen und Schreiben bei und sorgt für den Haushalt. Ihr Versuch, den Chef des Drogendezernats auf der Polizeiwache umzubringen, schlägt fehl. Sie wird festgenommen, später aber von Léon befreit. Beide sind jetzt im Visier der Polizei, Tony verrät ihre Adresse, die Auswege werden eng. Am Ende ist es Mathilda, die überlebt und auf einer Wiese Léons engste Freundin, eine Aglaonema, auf einer Wiese einpflanzt. Der Thriller von Luc Besson ist exzellent inszeniert und herausragend besetzt: Jean Reno spielt Léon, Gary Oldman den Dezernatschef Stansfield und die damals 13jährige Natalie Portman debütiert als Mathilda in ihrer ersten Filmrolle. Ihre Karriere ist nachzuvollziehen. Hinter der Kamera stand – wie meist bei Besson – Thierry Arbogast, die Musik schrieb Éric Serra. Bei Studio Canal sind jetzt DVD und Blu-ray des Films mit der damaligen Kinofassung und dem Director’s Cut in 4K erschienen. Zu den Extras gehören Interviews mit Jean Reno und Éric Serra. Unbedingt zu empfehlen – als Ersatz für die zurzeit nicht möglichen Kinobesuche. Mehr zur DVD: 1604761448&s=dvd&sr=1-4
06. November 2020
Medienkritik
Über die Rolle der Medien wird schon seit längerer Zeit viel diskutiert. Der von Hans-Jürgen Bücher her-ausgegebene Band enthält 19 Textbeiträge zu Theore-tischen Grundlagen (3), Journalismus-Kritik (6), dem kritischen Publikum (4), Medienkritik von Seiten der Wissenschaft (3), Medienkritik und Ideologie (3). Fünf Texte haben mir besonders gut gefallen: „Medienkritik als Gesell-schaftskritik: Skizze eines Analysekonzepts“ (Autorin: Margarete Jäger), „Journalistische Selbstkritik in der Medienproduktion“ (Autor: Daniel Perrin), „Zur Kritik der Online-Nutzung durch Journalisten“ (Eva Gredel), „Journalisten in sozialen Netzwerken“ (Sascha Michel), „Kommentar-foren als Ort der Medienkritik“ (Dennis Kaltwasser), „Medienaneig-nung und Medienkritik auf YOUTube“ (Simon Meier), „Anti-Genderismus, Antifeminismus und Sexismus“ (Franziska Rauchut). Aber auch das Niveau der anderen Beiträge ist hoch. Mehr zum Buch: medienkritik-zwischen-ideologischer-instrumentalisierung-und-kritischer-aufklaerung/
05. November 2020
Poetry and Film
Der Band dokumentiert die Beiträge zu einer Konferenz, die im November 2018 in Hitzacker stattgefunden hat. In elf Texten wird das Verhältnis von Lyrik und Film im Werk des irani-schen Regisseurs Abbas Kiaro-stami und des US-amerikani-schen Regisseurs und Schau-spielers Jim Jarmusch thema-tisiert. Mahmoud Hosseini Zad äußert sich zu Kiarostami und der persischen Poesie. Silke von Berdswordt-Wallrabe beschreibt den Lauf der Welt und Lebenslinien in ROADS OF KIAROSTAMI. Christoph Seelinger richtet den Blick auf Poesie und Mobilität in Kiarostamis Film SHIRIN. Bei Diba Farahmand-Razavi geht es um Lyrik in dem Film DER WIND WIRD UNS TRAGEN. Mario Hirstein reflektiert über die Spielformen in DIE LIEBESFÄLSCHER. Martin Bulka vergleicht die frühen Filme von Jim Jarmusch und Wim Wenders: „Intermediality, Interculturalism and Mobility“. Von Timo Brandt stammen Etüden zur Poesie bei Jarmusch. Jan Röhnert macht Anmerkungen zu Bewegung und Poesie bei Kiarostami und Jarmusch. Andreas Kramer formuliert Gedanken zu Poesie und Zirkulation in Jarmuschs PATERSON. Caroline Blinder analysiert diesen Film, Olivier Prossard äußert sich zu Ron Padgetts Gedichten in PATERSON. Ein kurzes Interview mit Padgett beschließt den Band. Mit einem Vorwort der Herausgeber Andreas Kramer und Jan Röhnert. Drei Texte in deutscher, acht in englischer Sprache. Alle sind lesenswert. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: poetry+and+film
04. November 2020
Die Filme der Jessica Hausner
Eine Dissertation, die an der Universität Klagenfurt entstan-den ist. Sabrina Gärtner analy-siert darin das Werk der öster-reichischen Filmemacherin Jessica Hausner (*1972), die seit ihrem Spielfilmdebüt LOVELY RITA (2001) international beachtet wird und inzwischen fünf weitere lange Filme realisiert hat, zuletzt LITTLE JOE – GLÜCK IST EIN GESCHÄFT (2019). Hausners Werk wird zunächst Film für Film vorgestellt: Zum Inhalt, Produktion und Filmförderung, Festivals und Auszeichnungen, Verwertung, detaillierte Analyse. In einem „Verortungsversuch“ werden die Filme zunächst der Nouvelle Vague Viennoise zugeordnet und dann mit der Berliner Schule verglichen. „Eine märchenhafte Welt“ heißt ein wunderbares 120-Seiten-Kapitel mit zehn Unterkapiteln zu einzelnen Filmen: „Märchen-hafte Mutterfiguren“ (FLORA), „Rotkäppchens Schwestern“ (INTER-VIEW), „Märchenhafte Eingangs- und Schlussformeln“ (LOVELY RITA), „Räumliche Isolation“ (HOTEL), „Die Wiederholung als charakteristischer Wesenszug“ (TOAST), „Tierische Kommentare“ (RUFUS), „Auf der Suche: Die Märchen-Queste“ (LOURDES), „Von einem märchenhaften Requisit“ (AMOUR FOU), „Der Tanz als märchenhaftes Balzritual“ (OIDA), „Die geheimnisvolle Sprache der Blumen“ (LITTLE JOE). Der Anhang enthält ein Skype-Interview der Autorin mit Jessica Hausner, deren Werk mit diesem Buch eindrucks-voll gewürdigt wird. Mit kleinen Abbildungen in sehr guter Qualität. Mehr zum Buch: die-filme-der-jessica-hausner/
03. November 2020
Andreas Dresen
Vor sieben Jahren erschien das erste Andreas Dresen-Porträt von Hans-Dieter Schütt. Auf dem Titelbild machte der Regisseur damals ein ernstes Gesicht: dresen/. Jetzt, beim zweiten Porträt, lacht er. Denn inzwischen hat er drei neue, erfolgreiche Filme gedreht: die Romanverfilmung ALS WIR TRÄUMTEN (2015), den Kinderfilm TIM THALER ODER DAS VERKAUFTE LACHEN (2017) und den biografischen Musikfilm GUNDERMANN (2018). Er gehört inzwischen zu den bekanntesten deutschen Filmregisseuren. Hans-Dieter Schütt hat sein Buch vollständig überarbeitet und neue Gespräche geführt. Das erste beschäftigt sich mit der Corona-Krise und Kollektivität, Gundermann und Geschichtsbildern, Hollywood und Ukulele, Filmkarriere und Verbrüderung in der Arbeit, das sechste handelt von Träumen und dem Nachbau der Welt, Untoten aus dem Osten und dem Richteramt, Glücks Spiel und Lebensrezepturen. Dazwischen erfahren wir viel über Fehlbesetzungen und Spielleitung, Lebenszeit am Schneidetisch, Kunst und Handwerk, Kindheit, Jugend, erste Theatererfahrung, Armee und Angst, Grundlagenstudium und Ideale, reale Verluste und das Rüstzeug fürs Leben – meist verbunden mit konkreten Erzählungen von der Filmarbeit. Das Gedicht des Vaters Adolf „Für den kleinen Andreas“ am Anfang, der Reisebericht von Tokio nach Tblissi über Moskau in der Mitte des Bandes und die sehr persönlichen „Nach-Sätze“ von Laila Stieler und Wolfgang Kohlhaase wurden in die Neuausgabe übernommen. Über das erneuerte Porträt kann Andreas glücklich sein. Mehr zum Buch: andreas-dresen-2.html
01. November 2020
DER LETZTE MANN (1924)
Der Film von F. W. Murnau mit Emil Jannings als Hotelportier, der zum Toilettenmann degra-diert wird, gehört zum Kanon der deutschen Filmgeschichte. Die Murnau-Stiftung hat nach einer erneuten Restaurierung den Film auf DVD und Blu-ray ediert. Natürlich ist es span-nend, ihn immer mal wieder zu sehen und die herausragende Arbeit des Kameramannes Karl Freund zu bewundern. Um einen Eindruck von der dama-ligen Rezeption zu erhalten, lohnt es sich, die Kritik von Siegfried Kracauer zu lesen, die im Januar 1925 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist: material/626951. Im Mai 2019 hat Andreas Dresen den Film in der Reihe „Carte Blanche“ im Deutschen Filmmuseum präsentiert. Hier ist sein Kommentar: 36049/video/1573169 . Zum Bonusmaterial der DVD gehören ein „Making of“-Film von Luciano Berriatúa (40 min.) und ein informatives Booklet. Mehr zur DVD: -3&tag=googhydr08-21
30. Oktober 2020
Barbara Albert
„Aus der Werkstatt“ heißt eine neue Buchreihe der Filmakade-mie Wien, herausgegeben von Kerstin Parth und Claudia Walkensteiner-Preschl, publi-ziert vom Sonderzahl Verlag. Band 1 ist der österreichischen Filmemacherin Barbara Albert gewidmet. Ihr bekanntester Film ist NORDRAND (1999), der bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt wurde. In einem 80seitigen Werkstattgespräch mit Albert Meisl, Kerstin Parth und David Bohun gibt sie Auskunft über die Entstehung ihrer bisher zwölf kurzen und fünf langen Filmen, über die Inspi-rationen, die Arbeit am Drehbuch, das Casting, die Zusammenarbeit im Team, die Resonanz. 1999 hat sie zusammen mit Martin Gschlacht, Jessica Hausner und Antonin Svoboda die Produktionsgesellschaft „coop99“ gegründet. Ihr bisher letzter Film war LICHT (2017), das Porträt der blinden Pianistin Maria Theresia Paradis, einer Zeitgenossin Mozarts. Das Gespräch ist außerordentlich aufschlussreich und macht neugierig auf einige Filme von Barbara Albert, die ich bisher nicht kenne. Zu den Materialien des Bandes gehört ein sehr persönlicher Text von ihr aus der österreichischen Zeitschrift Fleisch: „35 Jahre – die Mitte oder erst der Anfang?“ (2005). Mehr zum Buch: aus-der-werkstatt-barbara-albert/
29. Oktober 2020
Capucine
Eigentlich hieß sie Germaine Lefebvre. Ihre erste Karriere machte sie als Mannequin für Hubert de Givenchy in Paris. Aber ihr Ehrgeiz war, ein Film-star zu werden. Sie lernte Englisch und reiste nach Holly-wood. Der Produzent Charles Feldman nahm sie unter seine Fittiche, verschaffte ihr einen Vertrag bei Columbia und empfahl ihr das Pseudonym Capucine, das sie durch ihre zweite Karriere begleitete. Ihre große Zeit waren die 1960er Jahre, ihre bekanntesten Filme sind NORTH TO ALASKA (1960) von Henry Hathaway mit John Wayne als Partner, THE PINK PANTHER (1963) von Blake Edwards mit David Niven und Peter Sellers, WHAT’S NEW PUSSYCAT? (1965) von Clive Donner mit Peter O’Toole, Romy Schneider und Woody Allen, THE HONEY POT (1967) von Joseph Mankiewicz mit Rex Harrison und Susan Hayward. Federico Fellini holte sie 1969 für seinen Film SATYRICON nach Rom, Philippe de Broca für L’INCORRIGIBLE 1975 nach Paris, Blake Edwards für TRAIL OF THE PINK PANTHER 1982 und für CURSE OF THE PINK PANTHER 1983 nach einmal nach London. Seit 1969 wohnte sie in Lausanne. Sie litt unter bipolaren Störungen. Am 17. März 1990 sprang sie aus dem achten Stock in den Tod. Sie war 62 Jahre alt. Der Schweizer Autor Blaise Hofmann hat sich auf eine intensive Spurensuche nach Capucine begeben und erzählt ihre Lebens-geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Sein Text ist weit von einer traditionellen Biografie entfernt, er zwingt den Leser zur Mitarbeit, was die Lektüre zusätzlich spannend macht. Aus dem Französischen von Barbara Traber. Ohne Abbildungen. Mehr zum Buch: capucine-blaise-hofmanm
28. Oktober 2020
„Hamster im hinteren Stromgebiet“ von Joachim Meyerhoff
Dies ist der fünfte autobiogra-fische Roman des Schauspielers Joachim Meyerhoff. Er konfron-tiert uns mit dem Schlaganfall, den er im Dezember 2018 in Wien erlitten hat. Während JM seiner älteren Tochter bei ihrer Hausarbeit über Bipolarität hilft, wird ihm übel, seine linke Seite erlahmt, der Notarzt wird verständigt, es dauert lange, bis der Krankenwagen kommt und ihn auf Umwegen in eine Klink am Stadtrand bringt, wo er auf der Intensivstation behandelt wird. Wir sind neun Tage mit ihm im Krankenhaus, nehmen an Untersuchungen und Therapien teil, beobachten aus der Perspektive von JM die anderen sechs Patienten, die hinter Vorhängen, die oft geöffnet werden, sehr individuell mit ihren Erkrankungen umgehen, freuen uns mit ihm, wenn seine beiden Töchter und die neue Lebensgefährtin Sophie zu Besuch kommen. Die medizinischen Informationen sind präzise, es bleibt viel Zeit für Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen. Ausführlich werden Reisen in früheren Jahren beschrieben. Mit seinem Bruder in die Berge von Norwegen, mit Sophie nach Senegal, mit der Familie nach Mallorca, mit einem Freund nach Anatolien. Es gibt dramatische und sehr komische Momente. 300 Seiten, ein paar Erinnerungen sind sehr weit hergeholt, aber auch der fünfte Roman von JM ist unbedingt lesenswert. Mehr zum Buch: hamster-im-hinteren-stromgebiet-9783462000245

