Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Oktober 2020

Elisabeth Bronfen
Angesteckt.
Zeitgemässes über Pandemie und Kultur
Zürich, Echtzeit Verlag 2020
180 S., 32,00
ISBN 978-3-906807-18-8

Elisabeth Bronfen:
Angesteckt.
Zeitgemässes über Pandemie und Kultur

Mit der internationalen Film- und Literaturgeschichte bestens vertraut, macht sich die Anglistin Elisabeth Bronfen auf die Suche nach der Darstellung von Pandemien in zwei dominanten Kulturbereichen. Das Virus kommt meist von außen, es kennt keine Moral und zerstört das Zusammenleben der Menschen. Dies wird im Film und in der Literatur unterschiedlich dargestellt. Die Beispiele sind von der Autorin sehr gut ausgewählt.

In sieben Kapiteln werden wir auf eine Reise von der Gegenwart in die Kultur­geschichte mitgenommen. Es beginnt als „Ein Momentum der Veränderung“ im Januar 2020 mit dem ersten Todesopfer, das Covid-19 in Wuhan fordert, setzt sich im Februar in Italien fort und erreicht im März die Schweiz und Deutschland. Man kann Fragen nach Ur-sachen und Auswirkungen stellen und findet erste Antworten bei Susan Sontag, Sigmund Freud und Walter Benjamin, wenn man sich nicht mit der medizinischen Ebene zufrieden gibt, sondern intellektuelle Ansprüche hat.

Dann wird es konkret. Bronfen: „Zurückgezogen in unsere privaten Wohnräume, suchen wir Zeitvertreib und Trost beim Lesen von Geschichten; am liebsten bei solchen, die sich mit fiktionalen Darstel-lungen von Epidemien befassen. Dort finden wir Vergewisserung unseres persönlichen Wohlbefindens. Wir können an den Irrungen und Wirrungen teilnehmen, welche die Romanfiguren angesichts des Todes erfahren, und bleiben dennoch von einer eigenen Ansteckung ver-schont.“ (S. 21). Naheliegend ist der Griff zum Roman „Die Pest“ (1947) von Albert Camus. Er wird von Bronfen auf sechs Seiten präzise nach-erzählt. Zurück in die Gegenwart: wie reagiert die Politik auf das Virus? Die Reden des französischen Präsidenten Emmanuel Macron (16. März 2020), der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (18. März), der briti-schen Königin Elisabeth II. (5. April), des amerikanischen Präsidenten Donald Trump geben Stoff für persönliche Kommentare der Autorin. Sie führen uns zum Spitalschiff „USNS Comfort“ in New York und zum Medienspektakel um den Flugzeugträger „USS Theodore Roosevelt“.

„Pandemien und die Frauen“ heißt das dritte Kapitel. Ausgehend von der Erzählung „Pale Horse, Pale Rider“ von Katherine Anne Porter, in der die Autorin an der Spanischen Grippe erkrankt, kommen die ersten Filme ins Spiel: JEZEBEL (1938) von William Wyler mit Bette Davis als provokanter Südstaatenlady im Umfeld des Dschungelfiebers, DIE BÜCHSE DER PANDORA (1929) von G. W. Pabst mit Louise Brooks als Lulu mit erotischer Ansteckungsgefahr, THE KILLER THAT STALKED NEW YORK (1950) von Earl McEvoy mit Evelyn Keyes als Kleinkrimineller, die an Pocken erkrankt ist, CONTAGION (2011) von Steven Soderbergh mit Gwyneth Paltrow als Managerin, die sich in Hongkong eine tödliche Infektion eingefangen hat.

Dann führen uns Viren ins Land der Untoten. Drei Filme stehen hier im Mittelpunkt: NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (1922) von F. W. Murnau mit Max Schreck als Vampir, THE LAST MAN ON EARTH (1964) von Ubaldo B. Ragona und Sidney Salkow mit Vincent Price als Überlebendem einer Seuche, DAWN OF THE DEAD (1978) von George A. Romero mit David Emge, der sich vom Doktor in einen Zombie verwandelt.

Im nächsten Kapitel nimmt Elisabeth Bronfen eine „Literarische Aus-zeit“. Sie zitiert einen prophetischen Brief von F. Scott Fitzgerald aus dem Jahr 1920, der leider zu wahr ist, um echt zu sein. Dann geht es um ältere Literatur: „Il Decamerone“ (1349-1353) von Giovanni Boccaccio, „A Journal of the Plague Year“ (1722) von Daniel Defoe, „The Masque of the Red Death“ (1842) von Edgar Allen Poe und „The Last Man“ (1826) von Mary Shelley. Was macht in den damaligen Schilderungen von Epidemien die Unterschiede zu heute aus?

„Wie uns das Kino vorbereiten könnte“ heißt das sechste Kapitel. Noch einmal CONTAGION (2011) von Steven Soderbergh, dann INVASION OF THE BODY SNATCHERS (1956) von Don Siegel, PANIC IN THE STREETS (1950) von Elia Kazan, THE ANDROMEDA STRAIN (1971) von Robert Wise, OUTBREAK (1995) von Wolfgang Petersen, THE INVASION (2007) von Oliver Hirschbiegel, BLINDNESS (2008) von Fernando Meirelles. Am Ende stellt die Autorin viele Fragen: „Wie hat sich unser Blick verändert? Wird man von uns sagen können, wir hätten einen anderen Einblick gewonnen in unser Verhältnis zu anderen, in unsere Haltung zur Welt? Und wie lässt sich die narrative Sinnlösung all dieser Drehbücher auf die Gegenwart übertragen, so ungewiss, bedenklich oder sentimental sie sich auch gestalten mag? Werden wir aus unseren Fehlern nichts lernen, weil wir den Ausbruch des neuen Coronavirus wie einen Pandemiefilm behandeln, von dem wir wissen, die Katastrophe ist überwunden worden? Oder haben wir genauer hingesehen und gemerkt: diese Hoffnung bleibt fragil? Denn auch das ist eine Einsicht der Pandemiefilme: diesmal ist es noch einmal gut gegangen. Ob und wann das Virus wieder ausbrechen wird, kann selbst das Kino nicht vorhersagen.“ (S. 160).

Das Beeindruckende an diesem Buch ist die Genauigkeit, mit der Elisabeth Bronfen die Filme und die Bücher beschreibt, die sie sich beispielhaft ausgesucht hat. Und wie sie immer wieder das Fiktive mit den aktuellen Erfahrungen und Fakten zu Covid-19 verbindet. Wir wechseln durch ihre Einblendungen oder Schnitte zwischen Vergan-genheit und Gegenwart. Damit erhöht sich der Erkenntnisreichtum.

Dies ist das dritte interessante Buch in diesem Jahr, in dem Corona und Kino thematisiert werden. Zuvor erschienen: „Alles schon mal dagewesen“ von Denis Newiak im Schüren Verlag (alles-schon-mal-dagewesen/) und „Ansteckkino“ von Drehli Robnik bei Neofelis (ansteckkino/). Das Buch von Elisabeth Bronfen ist für mich das bisher beste. Es ist im Zürcher Echtzeit Verlag erschienen.

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