Walter Benjamin und das Kino

Die Vierteljahresschrift Maske und Kothurn gibt es seit 1955, sie hat ihren Themenbereich inzwischen über die Theater-wissenschaft hinaus erweitert und präsentiert „Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft“. In der Regel hat sie ein Schwer-punktthema. Gerade ist – mit vierjähriger Verspätung – ein Doppelheft über „Walter Benjamin und das Kino“ erschienen, herausgegeben von Christian Schulte, Birgit Haberpeuntner, Valentin Mertes und Veronika Schweigl. 15 Texte zu diesem interessanten Thema sind zu lesen. Klaus Kreimeier legt ein Fundament („Ein Geysir neuer Bilderwelten“). Jessica Nitsche übernimmt: „Wie Benjamin den Film denkt“. Christian Schulte reflektiert über „Krise, Technik und neue Physis bei WB“. Lena Stölzl richtet ihren Blick auf „Dokumentarische Historiografie und bildliche Praxis“. Vrääth Öhner beschreibt „Benjamins Aura“. Julia Haugeneder analysiert „Das ‚dialektische Bild’ Walter Benjamins als Zeit-Bild“. Dann werden Regisseure oder einzelne Filme aus Benjamins Perspektive interpretiert: Alexander Kluge und die Kinetisierung der Öffentlichkeit (von Valentin Mertes), MY WINNIPEG von Guy Maddins (Birgit Haberpeutner), französische Filme (Reinhold Görling), die Filme von Olivier Zuchuat (Veronika Schweigl), die Filme von Jonas Mekas (Christoph Gnädig), IRÈNE von Alain Cavalier (Jana Koch), QUIXOTE von Bruce Baillies (Bernhard Frena), Buster Keaton (Sebastian Kirsch), Karen Barad (Stephan Trinkaus). Man kann gut verstehen, dass es längere Zeit brauchte, um diese Beiträge zu einem so speziellen Band zu vereinen. Mehr zur Publikation: 4032dc0f154

Fernsehrealität und Realitätswahrnehmung

Eine Dissertation, die an der Universität Hohenheim ent-standen ist. Hanna Götz unter-sucht darin den Einfluss von Scripted-Reality-Sendungen auf Erwachsene. In einem ersten Kapitel definiert sie den Begriff „Scripted Reality“. Im zweiten Kapitel geht es um „Persönliche Werte“ und individuelle Medien-nutzung. Im dritten Kapitel veri-fiziert sie die in der Forschung wichtige „Kultivierungshypo-these“. Dann wird die Medien-realität in episodischen Scripted Reality-Sendungen erforscht. Im abschließenden Kapitel richtet sich der Blick auf die Rezeption episodischer Scripted Reality-Formate unter Erwachsenen. Das Buch erfüllt wissenschaftliche Ansprüche, Grafiken und Tabellen begleiten uns durch die Lektüre, die sehr lohnend ist, wenn man sich für das Thema interessiert. Mehr zum Buch: product=34869

DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926)

Der Scherenschnitt- oder Sil-houettenfilm von Lotte Reiniger ist der älteste abendfüllende Animationsfilm. Drei Jahre hat die große Künstlerin mit einem kleinen Team daran gearbeitet, es mussten 96.000 Einzelbilder hergestellt werden, damit am Ende ein 65-Minuten-Film zu sehen war. Am 2. Mai 1926 fand in der Berliner Volksbühne die Uraufführung statt. Erzählt werden mehre Geschichten aus 1001 Nacht, zentrale Figuren sind der afrikanische Zauberer, Prinzessin Dinarsade, ihr Bruder Achmed, die Herrin des Dämonenreiches von Wak-Wak, Pari Bannu, der Kaiser von China und Aladin mit seiner Wunderlampe. Die grafische Form des Films ist noch immer bewundernswert. Bei Absolut Medien ist kürzlich eine DVD erschienen. Der Film wurde in den 90er Jahren vom DIF restauriert und 2013 digitalisiert. Zu hören sind die Originalmusik von Wolfgang Zeller (eingespielt vom MDF-Sinfonie-orchester unter Leitung von Frank Strobel) und alternativ verschiedene andere Kompositionen. Zum Bonusmaterial gehören vier Kurzfilme von Lotte Reiniger: DAS GEHEIMNIS DER MARQUISE (1921), HARLEKIN (1931), CARMEN (1933) und PAPAGENO (1935). Ein sehr informatives Booklet liegt bei. Mehr zur DVD: %29

WERK OHNE AUTOR

Seit 4. Oktober ist der neue Film von Florian Henckel von Don-nersmarck in unseren Kinos zu sehen. Von der Kritik (Peter Körte in der FAS, Tobias Kniebe in der SZ, Andreas Busche im Tagesspiegel, Bert Rebhandl im tip mit null Punkten) wurde er erbarmungslos verrissen. Mich haben vor allem die Musik und die ständigen Überdramatisie-rungen gestört, während ich die Darstellung der Düsseldorfer Kunstszene der 60er Jahre und die Schauspieler*innen beein-druckend fand. Im Suhrkamp Verlag ist jetzt ein Buch über den Film erschienen. Es enthält einen informativen Blick auf die Dramatis Personae, das Drehbuch, ein schriftliches Interview von Thomas Schultze mit Florian Henckel von Donnersmarck und ein Gespräch von Thomas Demand mit Alexander Kluge über den Film. Vor allem die Lektüre des Drehbuchs fand ich spannend, weil in der Szenen-beschreibung noch nicht die überbordende Gestaltung des endgültigen Films zu spüren ist. Auch das 18seitige Kluge-Gespräch liest sich interessant. Mit Abbildungen, die teilweise etwas dunkel geraten sind. Mehr zum Buch: 46915.html

Von Rabenvätern und Übermüttern

Eine Dissertation, die an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich entstanden ist. Natalie Fritz untersucht darin „Das religionshistorische Motiv der Heiligen Familie im Spannungsfeld zwischen Religion, Kunst und Film“. Sie äußert sich zunächst zum Forschungsfeld Film und Religion, richtet ihren Blick dann auf Bildwissenschaft und intermediale Tradierungs-prozesse (Erwin Panofsky, Hans Belting) und informiert über die kunsthistorische Situierung des Motivs der Heiligen Familie. Im zentralen Teil des Buches werden dann jeweils zwei Filme des französischen Regisseurs François Ozon, des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar und der dänischen Regisseurin Susanne Bier analysiert. Konkret sind es Ozons Filme SITCOM (1998) und RICKY (2009), Almodóvars Filme TODO SOBRE MI MADRE (1999) und VOLVER (2006), Bliers Filme BRøDRE (2004) und EFTER BRYLLUPPET (2006). Die Auswahl ist überzeugend, die analytischen Beschreibungen lesen sich gut, weil die Beobachtungen nah an den Filmen bleiben und nur gelegentlich Sekundärquellen zur Absicherung zitiert werden. 229 Farbabbildungen in guter Qualität begleiten uns durch den Text. Umfängliche Bibliografie am Ende des Bandes. Coverfoto: RICKY. Mehr zum Buch: von-rabenvaetern-und-uebermuettern.html

Sinnliches Denken

Eine Dissertation, die an der Freien Universität in Berlin entstanden ist. Elena Vogman untersucht darin das Theorie-projekt „Methode“, das Sergej Eisenstein über viele Jahre verfolgt hat. 1929 plante der Regisseur ein „Buch in Form einer Kugel“. Das theoretische Spätwerk ist erst jüngst auf Russisch erschienen. Es unter-nimmt ein Gedankenspiel, in dem Anthropologie und Ästhe-tik, Psychoanalyse und Gestalt-psychologie, Paläontologie und Linguistik miteinander verwoben sind. Die fünf Kapitel der Dissertation haben die Überschriften „Exzentrisches Denken“, „Gegenständliches Denken“, „Geste, Ausdruck, Synästhesie“, „Geste, Geometrisierung, sinnliche Abstraktion“, „Rhythmisches Denken“. Die Autorin hat sich mit dem Quellenmaterial bestens vertraut gemacht, sie reflektiert auf sehr hohem Niveau und bringt gelegentlich auch Eisensteins Filme ins Spiel. Wer mit dem Werk dieses Regisseur gut vertraut ist, wird das Buch mit Gewinn lesen. Zahlreiche Abbildungen – zum Teil erstmals publiziert – begleiten uns bei der Lektüre. Mehr zum Buch: sinnliches-denken-5289

Schauplatz Berlin

Zwölf Texte und ein sehr in-formatives Vorwort des Her-ausgebers Hans Richard Brittnacher geben ein vielfäl-tiges Bild der Darstellung Berlins in der Literatur und im Film in den letzten hundert Jahren. Sieben Beiträge haben mir besonders gut gefallen: Rolf-Peter Janz erinnert an Franz Hessel und das Flanieren in Berlin in den 1920er Jahren. Swati Acharya rekonstruiert eine Topografie der käuflichen Liebe im Berlin der Weimarer Republik. Nadja Israel vergleicht Ermittlung und Geständnis im Polizeifilm 1931 (M von Fritz Lang) und 2013 (Tatort GEGEN DEN KOPF von Stephan Wagner). Bei Matthias Bauer geht es um „Infragestellung und Selbstbehauptung weiblicher Autonomie bei Kriegsende“ (Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Marianne Hoppe, Leni Riefenstahl). Susanne Scharnowski richtet ihren Blick auf „Affirmation und Kritik der Moderne im Berlin-Film der Nachkriegszeit“ (u.a. bei Will Tremper, Jürgen Böttcher, Wim Wenders). Heinz Bude & Karin Wieland beschäftigen sich speziell mit dem Film REDUPERS (1978) von Helke Sander. Auch Jenifer Pötzsche konzentriert sich auf einen Film: VICTORIA (2015) von Sebastian Schipper. Das Buch bereichert unsere Regale mit Berlin-Literatur. Band 11 der Reihe „Projektionen“. Coverabbildung: Ausschnitt aus dem Gemälde „Berliner Straßenszene“ von Nikolaus Braun (1921). Mehr zum Buch: W46Zvun-BW8

Schauplatz Frankfurt am Main: heute beginnt dort die Frankfurter Buchmesse. Es ist die 70. seit der Gründung 1949. Mindestens dreißigmal war ich vor Ort und bin durch die Hallen gewandert, die Erinnerungen sind positiv geprägt. Man sollte mal wieder hinfahren…

Erinnerungen von Waltraut Haas

Die Schauspielerin Waltraut Haas ist mir seit den 1950er Jahren vertraut, ich erinnere mich an Filme wie 1. APRIL 2000 (1952) von Wolfgang Liebeneiner, DER ONKEL AUS AMERIKA von Carl Boese oder SÜDLICHE NÄCHTE (beide 1953) von R. A. Stemmle. Für einen 14/15jährigen Kinosüch-tigen waren das schöne Erleb-nisse mit einer attraktiven Hauptdarstellerin. Sie hat über viele Jahrzehnte auf der Bühne und vor der Kamera gespielt und gesungen, war erfolgreich und populär. Inzwischen ist sie 91 Jahre alt und hat der Journalistin Marina C. Watteck ihre Erinne-rungen erzählt: „Jetzt sag ich’s“. Da sie privat und beruflich viel erlebt hat, sind die 200 Seiten eine interessante, oft auch berührende Lektüre. Ihre erste Liebe war der Schweizer Radrennprofi Hugo Koblet, ihre Lebensliebe der Schauspieler und Regisseur Erwin Strahl, ihre zweite große Liebe der Sänger Rudolf Schock. Sie hat in Filmen mit Peter Alexander, Cornelia Froboess, Hans Holt, Paul Hörbiger, Paul Hubschmid, Curd Jürgens, Hans Moser, Gunther Philipp, Gerhard Riedmann, Marika Rökk, Heinz Rühmann, Toni Sailer und Grethe Weiser zusammengearbeitet, ihre Regisseure waren u.a. Hans Wolff, Franz Antel, Arthur Maria Rabenalt, Hans Quest, Hans Deppe, Werner Jacobs. Zu Johannes Heesters hatte sie ein ambivalentes Verhältnis. Ein Filmprojekt mit Errol Flynn („The Story of William Tell“) blieb unvollendet. Sie war in Talkshows präsent und spielte 2018 die Großmutter in Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ bei den Wachaufestspielen in Weißenkirchen. Sie erzählt ihr Leben selbstbewusst und gerade heraus. Das verdient Respekt. Mehr zum Buch: https://amalthea.at/produkt/jetzt-sag-ichs/

KÖRPER UND SEELE (2017)

2017 hat dieser ungarische Film den „Goldenen Bären“ der Berli-nale gewonnen. Ich finde ihn hervorragend und freue mich, dass er inzwischen bei Alamode als DVD erschienen ist. Die Autorin und Regisseurin Ildikó Enyedi erzählt die Geschichte der sehr verschlossenen neuen Qualitätsprüferin Mária und des introvertierten Finanzdirektors Endre auf einem Schlachthof. Ein Diebstahl im Betrieb, die Ermittlungen der Polizei und der Einsatz einer Psychologin führen zu der überraschenden Ent-deckung, dass Mariá und Endre nachts die gleichen Träume haben, bei denen im winterlichen Wald eine Hirschkuh und ein Hirsch auf der Nahrungssuche eine große Nähe zueinander entwickeln. Die psycho-logischen Erkenntnisse führen zu einem Interesse der autistischen Mariá und des menschenscheuen Endre füreinander, das nach einigen Komplikationen in einer Liebesbeziehung mündet. Am Morgen der gemeinsam verbrachten Nacht stellen sie fest, dass sie beide nicht geträumt haben. Alexandra Borbély als Maria und Géza Morcsányi als Endres spielen ihre Rollen wunderbar, die Kameraführung von Máté Herbai mischt Realismus auf dem Schlachthof und Poesie im ver-schneiten Wald in einer sehr eigenen Weise. Der Film ist unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: koerper-und-seele.html Thomas Koebner hat in seinem Buch „Vom Träumen im Film“ den Film klug interpretiert.

Bert Haanstra

Er war einer der Großen des hol-ländischen Films. Bert Haan-stra (1916-1997) hat Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme gedreht, 1959 für FANFARE die „Goldene Palme“ in Cannes und 1960 einen Oscar für GLAS als besten dokumentarischen Kurz-film gewonnen. 2001 gab es im Babylon, 2007 im Arsenal Haanstra-Retrospektiven. Jetzt haben Rainhard May, Annette K. Schulz und Anke Steinborn im Pro Universitate Verlag ein sehr lesenswertes Buch über Haanstra publiziert: „Panta Rhei – wie’s fließt, bestimme ich“. Es enthält kurze Beiträge seiner Söhne Rimko und Jurre, Aufsätze, die ihn in einen Kontext setzen, darunter ein beeindruckender Essay von Rainhard May über sein Gesamtwerk, Texte von Arnold Hubbers über Haanstras Anfänge bei Forum Filmproducties und von Piet Dirkx über Haanstra und die Filmmusik. 16 Beiträge sind „Annäherungen“ an einzelne Filme. Besonders gut gefallen haben mir die Texte von Anke Steinborn über PANTA RHEI, von Evke Rulffes über REMBRANDT, von Wolfgang Thiel über GLAS, von Rainhard May über FANFARE, von Clea Hildebrandt über ZOO, von Annette K. Schulz über ALLEMAN, von Ute Gunnesch über DR. PULDER ZAAIT PAPAVERS. Alle Beiträge haben ein hohes Niveau und begründen ihre Bewunderung für Haanstra. Mit vorwiegend kleinen Abbildungen in guter Qualität. Es gibt auch einige Haanstra-Filme auf DVD. Mehr zum Buch: bert+haanstra