shomingeki 24

Es gibt diese Filmzeitschrift seit 16 Jahren, vielleicht ist es die letzte Nummer, der Herausgeber Rüdiger Tomczak deutet das in seinem Editorial an. Elf Texte fügen sich – wie immer sehr eigenwillig – zueinander, als Mitarbeiter werden Johannes Behringer, Stefan Flach, Charles Hersperger, Bettina Klix und Peter Nau genannt, sie schreiben über Helke Misselwitz, Naomi Kawase, Jia Zhang-ke, Jafar Panahani, Celia Caturelli, Robert Mulligan, Helmut Färbers Buch „Partie/Renoir“ und unter der Überschrift „Der Backsteingiebel nachts um halb eins“ über viele, sehr unterschiedliche Filme. Tomczak trägt einen langen, schönen Text über Terrence Malicks The Tree of Life  und Gedanken zu acht Filmen von Kinuru Shibuya bei. Shomingeki – das ist ein Verweis auf ein Genre des japanischen Kinos, das sich mit dem Leben einfacher Menschen beschäftigt und heute fast ausgestorben ist.

Ronny Loewy

Am 9. August ist unser Freund Ronny Loewy im Alter von 66 Jahren gestorben. Das ist bitter und traurig für seine Frau Gisela und für alle, die ihn kannten. Als Filmhistoriker hat er eher im Hintergrund gearbeitet, war eng mit der Stadt Frankfurt, dem Kommunalen Kino und dem Deutschen Filmmuseum verbunden. Seine wichtigsten Themen waren das jiddische Kino, das Filmexil und der Holocaust. Seit 1993 betreute er die „Cinematographie des Holocaust“ für das Fritz Bauer Institut, das Deutsche Filminstitut und CineGraph Hamburg. Man traf ihn bei der Berlinale, beim Deutschen Filmpreis, bei wichtigen Veranstaltungen und hatte immer Gesprächsstoff. Wir werden nicht vergessen, wie er uns 1996, bei einem Besuch in Jerusalem (FIAF-Kongress), die Stadt nahe gebracht hat. Wir werden ihn sehr vermissen.

Dokumentarfilm (2)

Dies ist ein ganz anderes Buch über den Dokumen-tarfilm: nicht didaktisch, sondern reflexiv. Es heißt „Geliehene Landschaften“ (Untertitel: Zur Praxis und Theorie des Dokumentar-films), stammt von dem Dokumentaristen Hartmut Bitomsky (*1942) und lädt zum Nachdenken ein. Bevor man es liest, sollte man sich zwei Filme ansehen: B-52 (2001) und STAUB (2007). Sie spielen in den Arbeits-journalen, Aufzeichnungen, Tagebüchern, Notizen und Texten des Autors, die er zur Basis seiner Publikation gemacht hat, eine wichtige Rolle. Und dann muss man noch daran erinnern, dass Bitomsky in den 1970er und 80er Jahren mit seiner Firma „Big Sky“ essayistische Dokumentarfilme für den WDR (Redaktion: Werner Dütsch) gemacht hat, ich nenne nur: DER SCHAUPLATZ DES KRIEGES – DAS KINO VON JOHN FORD (1976), DEUTSCHLAND-BILDER (1983), REICHSAUTOBAHN (1985), DER VW KOMPLEX (1988/89). Schließlich ein Zitat: „Jeder Essayfilm ist ein Versuch, eine verlorene, verdrängte Potenz des Films zurückzuerobern, eine unerwünschte Qualität des Kinos wachzuhalten: Das Kino tritt aus sich heraus und kehrt sich selbst zu und in einer Wendung gegen sich selbst fragt es: was bin ich?“ Bitomsky gibt viele kluge Antworten. Herausgegeben hat das Buch der „Neue Berliner Kunstverein“, dessen Leiter Marius Babias ein Vorwort beigesteuert hat.

Dokumentarfilm (1)

Thorolf Lipp, Kulturanthropologe und Filmemacher, zurzeit Gastdozent an der Universität Mainz, hat ein Lehrbuch verfasst. Es ist „als Einstiegslektüre für Studierende an Universitäten, Film- und Fachhochschulen“ konzipiert. Der Autor möchte mit Begriffsklärungen theoretische Orientierungen ermöglichen, die dem Nonfiktionalen Film zu Ansehen und Würde verhelfen. Das ist, angesichts des aktuellen Doku-Mülls im Privatfernsehen, eine gute Absicht. Lipp unterscheidet nach einigen medienanthropologischen Grundgedanken fünf Prototypen des Dokumentarfilms: „plotbasierten Dokumentarfilm“ (historisches Beispiel: NANOOK OF THE NORTH von Robert Flaherty, 1921), „nonverbalen Dokumentarfilm“ (BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT von Walther Ruttmann, 1927), „Documentary“ (THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, 1934), „Direct Cinema“ (DONT’ LOOK BACK von D. A. Pennebaker, 1967) und „Cinéma Vérité“ (CHRONIQUE D’UN ÉTÉ von Jean Rouch, 1961). Der Autor benennt die jeweils spezifischen Eigenarten der genannten Typen, charakterisiert den beispielhaften Film, informiert über Weiterentwicklungen, stellt die gestalterischen Mittel und kommunikativen Ziele dar, vermittelt Stärken und Schwächen. Ein abschließendes Kapitel schildert die Produktionsbedingungen für den Nonfiktionalen Film heute. Im Bemühen, die Unterschiede deutlich zu machen, neigt Lipp zu Redundanzen. Manchmal führt das zu einem übertriebenen Pathos, gelegentlich auch zu trivialen Formulierungen. Vielleicht ist das ein unausweichllches Resultat seines Anspruchs. Da wir es mit einer „kompakten, multimedialen Einführung“ ins Thema zu tun haben, liegt dem Buch auch eine DVD bei. Sie liefert drei Stunden Anschauungsmaterial, funktioniert wie eine Power-Point-Präsentation, enthält noch einmal die wesentlichen Definitionsmerkmale, Ausschnitte aus den oben genannten Filmen sowie eine Reihe beispielhafter Übungsfilme. Erschienen im Schüren-Verlag. Mehr zum Buch: spielarten-des-dokumentarischen.html

DIE VERLORENE ZEIT

Anna Justice, Absolventin der dffb, hat eine Reihe interessanter Kino- und Fernsehfilme realisiert, darunter den Jugendfilm MAX MINSKY UND ICH (2006/07). Ihr jüngster Film, DIE VERLORENE ZEIT, ist 2011 in den Kinos etwas untergegangen. Er erzählt eine Liebesgeschichte, die 1944 in einem polnischen KZ beginnt und dreißig Jahre später eine seltsame Fortsetzung findet. Das Psycho-drama spielt mit den Wirren der Geschichte, vermeidet Sentimen-talitäten und konkretisiert ein biografisches Trauma. Die Hauptdarsteller (Alice Dwyer, Mateuz Damiecki, Dagmar Manzel) sind eindrucksvoll geführt, Susanne Lothar spielte mit aller Intensität eine schreckliche Mutter. Michael Ballhaus hat den Film koproduziert. Seit kurzem ist eine DVD verfügbar, die dem Film zu seinem Recht verhilft. Mehr Informationen: zeit/dvd.php

Hanns Eisler – eine neue Biografie

Der Film war für den Komponisten Hanns Eisler (1898-1962) ein wichtiges Betätigungsfeld, vor allem in der Zeit der Weimarer Republik und im Exil. Die Musikhistorikerin Friederike Wiß-mann (*1973) erzählt Eislers Leben nicht in Form einer traditionellen Biografie, sondern weitgehend aus der Perspektive seiner Musik. In jedem ihrer 14 Kapitel steht ein Werkporträt im Zentrum, das exemplarisch für eine bestimmte Schaffensphase ist. So gibt es drei „Film-Kapitel“; das erste handelt von KUHLE WAMPE, dem Arbeiterfilm von Slatan Dudow, an dessen Erfolg Bert Brecht, Ernst Busch, Hertha Thiele und eben auch Eisler großen Anteil hatten. Das zweite analysiert sehr sensibel Eislers Vertonung des Ivens-Films REGEN mit „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“ und erzählt von der schwierigen Zusammenarbeit mit Theodor A. Adorno im Exil. Daran schließt sich das dritte Kapitel „Hollywooder Liederbuch“ an, in dem Eislers Kompositionsarbeit und Existenzkämpfe bis März 1948, also bis zur Ausweisung aus Amerika thematisiert werden. Es ist bemerkenswert, wie konkret und eng die Autorin ihre künstlerischen Befunde mit Eislers biografischer Odyssee und seiner dezidierten politischen Positionierung verknüpft. Der Untertitel heißt folgerichtig „Komponist, Weltbürger, Revolutionär“. Mit einem Vorwort von Peter Hamm. Mehr zum Buch: Friederike-Wissmann/e368376.rhd

Kurt Tucholsky – eine neue Biografie

Für die Weltbühne schrieb er Filmkritiken, berühmt ist sein Text über DAS CABINET DES DR. CALIGARI. Kurt Tucholsky (1890-1935) war ein vielseitiger Autor und eine der kreativsten Persönlichkeiten der Weimarer Republik. Kein Wunder, dass es immer wieder neue Biografien über ihn gibt. Die jüngste stammt von Rolf Hosfeld (*1948), dem wissenschaftlichen Leiter des Lepsiushauses Potsdam, der sich als Dozent, Redakteur, Filme-macher und Biograf (Karl Marx) einen Namen gemacht hat. Sein großer Vorteil: er kann gut schreiben und tut das auf der Basis recherchierter Fakten. Knapp 1.000 Quellenhinweise sichern ihn ab. Aber das Buch ist trotzdem gut lesbar und nimmt uns – weitgehend chronologisch erzählt – mit auf einen erstaunlichen, sehr hektischen und viel zu früh zu Ende gegangenen Lebensweg. Hosfeld interessiert sich vor allem für Zeitgeschichte, Publizistik und Literatur. Tucholskys politische Positionierungen wirken zuweilen sprunghaft, er schrieb unter vielen Pseudonymen, er hatte ein abwechslungsreiches Liebesleben, und er war ein heimatloser Berliner, der zwar sprachlich, aber nur selten physisch in der Stadt präsent war. Dem Film stand er mit neugieriger Skepsis gegenüber. Das wird von Hosfeld aber nicht weiter vertieft. Mehr zum Buch: e351642.rhd

The Greatest Films of All Time

Alle zehn Jahre fragen das British Film Institute und die Zeitschrift Sight and Sound seit 1952 Filmfachleute aus aller Welt nach den „Greatest Films of All Time“. 846 haben dieses Mal geantwortet, der Altersdurchschnitt der Befragten lag vermutlich bei 60+. Und das Ganze ist natürlich auch ein Spiel… Hier sind die Titel 1-10 in der neuen Reihenfolge:

1. VERTIGO (Hitchcock, 1958) 191 Stimmen
2. CITIZEN KANE (Welles, 1941) 157
3. TOKYO MONOGATARI (Ozu, 1953) 107
4. LA RÈGLE DU JEU (Renoir, 1939) 100
5. SUNRISE (Murnau, 1927), 93
6. 2001: A SPACE ODYSSEY (Kubrick, 1968) 90
7. THE SEARCHERS (Ford, 1956) 78
8. DER MANN MIT DER KAMERA (WERTOW, 1929) 68
9. LA PASSION DE JEANNE D’ARC (Dreyer, 1927) 65
10. 8 ½ (Fellini, 1963) 64

Nach fünfzig Jahren hat CITIZEN KANE seinen Spitzenplatz eingebüßt, Ozu und Murnau haben sich nach oben bewegt, Eisensteins POTEMKIN hat mit Wertows MANN MIT DER KAMERA getauscht und Fords THE SEARCHERS ist endlich unter den ersten Zehn. Als aktuellster Film kam IN THE MOOD FOR LOVE von Wong Kar-wai (2000) auf Platz 23. Bester deutscher Film: METROPOLIS (Lang, 1927) auf Platz 35 (zusammen mit PSYCHO, je 34 Stimmen). Hier sind die Top 50:  www.bfi.org.uk/news/50-greatest-films-all-time

 

New York

Als die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Juni Redakteure und Mitarbeiter nach Empfehlungen für die Sommerlektüre befragte, antworte Maxim Biller in allen acht vorgesehenen Kategorien mit einem einzigen schwärmerischen Hinweis: Maeve Brennans Buch „New York, New York“. Das hat mich neugierig gemacht, und die Lektüre hat sich gelohnt. Brennan (1917-1993) war in den 1950er und 60er Jahren Kolumnistin beim New Yorker. Der jetzt auf Deutsch veröffentlichte Band enthält 48 Geschichten, die vor allem auf Beobachtungen beruhen: es werden Menschen, Straßen, Geschäfte, Restaurants, Jahreszeiten und kleine Ereignisse beschrieben, in denen das New York vor fünfzig Jahren lebendig wird. Auch wenn sich die Stadt inzwischen sehr verändert hat: man möchte sofort wieder hin. Brennan auf dem Titelfoto erinnert mich an Dorothy Malone als Buchhändlerin in THE BIG SLEEP.

Lexikon der überschätzten Dinge

Dies ist natürlich kein Filmbuch. Aber es ist eine unterhaltsame Lektüre für einen Sommernach-mittag, bei der man mit dem Autor oft einverstanden ist, manchmal aber auch eine ganz andere Meinung hat. Hans von Trotha (*1965), ehemals Verleger, inzwischen Autor und Berater, stellt 163 Personen, Tätigkeiten, Dinge und Institutionen zur Disposition. Er will sie nicht abschaffen, aber ihre Bedeutung relativieren. Bei Biosprit, Erdbeerjoghurt, Karneval, Powerpoint und Rucksack bin ich ganz auf seiner Seite. Seine Sicht aufs öffentlich-rechtliche Fernsehen ist mir zu apodiktisch. Und der Text über „Wenders, Wim – Gesamt-werk nach Paris, Texas“ bleibt etwas geheimnisvoll. Klug sind Trothas Gedanken zum Happy End. Womit wir uns denn doch in der Filmwelt befinden.