Michelangelo Antonioni

Vor sieben Wochen wurde er gewürdigt, weil sein 100. Geburtstag zu feiern war. Mit etwas Verspätung ist jetzt ein Buch erschienen, das man durchaus als Festschrift bezeichnen kann. In zwölf Texten wird das Werk vom Michelangelo Antonioni in Erinnerung gerufen. Daniel Illger verbindet die frühen Filme mit dem amerikanischen Gangstergenre. Claudia Öhlschläger entdeckt in IL GRIDO Re-Konfigurationen der Heiligen Familie. Von Jörn Glasenapp, dem Herausgeber, stammt eine sehr komplexe und lesenswerte Analyse von LA NOTTE. Michaela Krützen zieht originelle Verbindungslinien zwischen L’ECLISSE, Leo McCareys AN AFFAIR TO REMEMBER (1957) und Nora Ephrons SLEEPLESS IN SEATTLE (1993). Mit Hollywood-Dramaturgien kennt sich die Autorin bestens aus. Judith Wimmers versucht eine Neusichtung von L’ECLISSE mit Hilfe der „Philosophie des Geldes“ von Georg Simmel. Georgiana Banita unternimmt einen Schnitt durch Antonionis Filme auf der Suche nach dem Rohstoff Öl. Sie fördert Erstaunliches zutage. Elisabeth K. Paefgen vergleicht die Fotografenfilme BLOW UP, REAR WINDOW (1954) von Hitchcock und PEEPING TOM (1959) von Michael Powell. Uta Felten entdeckt in einem sehr theoretischen Diskurs Denkfiguren im Kino von Antonioni. Oliver Fahle analysiert ZABRISKIE POINT als anthropologisches Road Movie. Und Lisa Gotto beschließt den Band mit ihrer Lesart von JENSEITS DER WOLKEN. Fast alle Texte auf hohem Niveau. Die Abbildungen (schwarzweiß) sind zum Teil hilfreich, bei den späten Filmen fehlt einfach die Farbe. Mehr zum Buch: 5429-4.html

Neuer Deutscher Film

In eigener Sache: Der erste Band der neuen Reihe „Stilepochen des Films“ (Initiator und Editor: Norbert Grob) über den Neuen Deutschen Film ist erschienen, herausgegeben von Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler. 39 Filme aus der Zeit von 1961 bis 1984 werden in diesem Buch mit Einzelanalysen gewürdigt, beginnend mit ZWEI UNTER MILLIONEN von Victor Vicas und Wieland Liebske, endend mit HEIMAT von Edgar Reitz. Ein umfängliches Vorwort verortet den Neuen Deutschen Film in der Epochengeschichte. An Frieda Grafe erinnert der Band mit einem Nachdruck ihres SZ-Textes zu FREAK ORLANDO von Ulrike Ottinger. Gewidmet ist das Buch Michael Althen, der einen Text zur Rudolf Thomes Film BERLIN CHAMISSOPLATZ  beigesteuert hat, der nun posthum erscheint. Meine drei Texte zu ES von Ulrich Schamoni, LIEBE MUTTER, MIR GEHT ES GUT von Christian Ziewer und DER KLEINE GODARD von Hellmuth Costard werden demnächst auch auf dieser Website zu lesen sein. Im Frühjahr 2013 erscheint der zweite Band der Reihe, herausgegeben von Elisabeth Bronfen und Norbert Grob. Sein Thema: das klassische Hollywood. Mehr zum gerade erschienenen Buch: Neuer_Deutscher_Film.

Imaginationen des Individuums

Eine Dissertation aus der Schweiz, nicht der Filmwissenschaft, sondern der Sozialgeschichte zuzuordnen. Interessanter Lesestoff für Anhänger der Figurenanalyse. Wenn man den zugrundegelegten Begriff des „Subjektmodells“ begriffen hat (der Autor verwendet darauf viel Mühe), dann hat es eine Logik, ihn als Schlüssel für Filmprotagonisten des klassischen Hollywoodkinos zu nutzen. 40 Filme aus den Jahren 1931 bis 1962, von LITTLE CAESAR bis TO KILL A MOCKINGBIRD, sind die Fallbeispiele für Stephan Durrer. Es sind vor allem Männer, deren Verhaltensweise analysiert wird. In vier großen Kapiteln werden jeweils fünf bis acht Filme in einen thematischen Zusammenhang gestellt: „Unbedingte Treue zu sich selbst“ (im Zentrum: MR. SMITH GOES TO WASHINGTON), „Existentielle Befreiung“ (ON THE WATERFRONT), „Zerfallende Souveränität“ (THE TREASURE OF THE SIERRA MADRE), „Vergebliches Streben nach Freiheit“ (CITIZEN KANE). Ein separates Kapitel dazwischen: „Zur Selbstentwicklung von Hollywoods Heldinnen“ (GONE WITH THE WIND). Was mir gefällt, ist der genaue und konkrete Blick des Autors auf die Filme. Der Anhang ist informativ, die Abbildungen sind technisch akzeptabel und für die Argumentation hilfreich.

Alles über Film

„Alles“ über Film auf 352 Seiten. Da muss sich ein Autor ziemlich kurz fassen und viel weglassen. Ronald Bergan ist Filmkritiker des englischen Guardian, hat Bücher über Eisenstein, Coppola und die Coen Brüder geschrieben, man kann ihn als kompetent ansehen. Seine Aufgabe: alles schnell auf den Punkt bringen. Gegliedert ist das Buch in sechs Kapitel. 1. „Die Geschichte des Films“, in Jahrzehnten periodisiert (50 Seiten). 2. „Wie ein Film entsteht“ (15 Seiten). 3. „Filmgenres“, 25 von Action bis Western (50 Seiten). 4. „Das internationale Kino“, 21 Länder und Erdteile, von Afrika bis Neuseeland (50 Seiten, drei über Deutschland, die USA werden ausgespart). 5. „100 Regisseure“, von Woody Allen bis William Wyler (75 Seiten); aus Deutschland: Fassbinder, Herzog, Lang, Lubitsch, Murnau, Ophüls, Pabst, Wenders. Konrad Wolf fehlt. 6. „Die 100 besten Filme“, chronologisch (90 Seiten); neun aus Deutschland: DAS CABINET DES DR. CALIGARI, NOSFERATU, METROPOLIS, DER BLAUE ENGEL, OLYMPIA, AGUIRRE – DER ZORN GOTTES, DIE EHE DER MARIA BRAUN, PARIS TEXAS, HEIMAT. Kein Film aus der DDR. Schwierig: der Umgang mit den deutschen Titeln ausländischer Filme. Manchmal sind sie so blöd, dass man sie inzwischen vergessen hat. Dominant: rund 700 Abbildungen. Verpackt ist das Buch in einer Filmdose. Das definiert es als Geschenk.

Revisionen – Relektüren – Perspektiven

Kurios und spannend nennen die beiden Herausgeber dieses Tagungsbandes die jährlichen „Film- und Fernsehwissen-schaftlichen Kolloquien“ (FFK), die seit 25 Jahren ohne Trägerschaft durch den deutschsprachigen Raum ziehen und zugangsoffen angelegt sind: wer sich rechtzeitig anmeldet, darf reden. Der Sammelband des 23. Kolloquiums, das 2010 in Hildesheim stattfand, ist jetzt bei Schüren erschienen und offeriert 26 Texte. Ihre Themen repräsentieren das Kunterbunt der Medien- und Wissenschaftswelt, man liest sich hier und da fest, spürt neue Denkweisen und staunt über das breite Spektrum theoretischer Positionen. Ich greife mal fünf Aufsätze heraus, die mich besonders interessiert haben: Stephanie Großmann (Passau) schreibt über Naturkatatrophen im Film. Diana Kainz (ebenfalls Passau) rehabilitiert sehr eindrucksvoll die Effi-Briest-Verfilmung von Hermine Huntgeburth. Ulrike Kuch (Weimar) denkt über Motive im Film nach und konkretisiert das an Swimmingpools. Birgit Leitner (Jena) verbindet auf intelligente Weise „das Kleine Schwarze“, also ein Kleidungsstück, in den Filmen BREAKFAST AT TIFFANY’S (1961) von Blake Edwards und CLÉO DE 5 À 7 (1962) von Agnes Verda. Anke Steinborn (Weimar) schlägt eine originelle Brücke zwischen der Kitchen-Debate (1959) zwischen Nixon und Chruschtschow und dem Film FIGHT CLUB (1999) von David Fincher. Man muss sich klar machen: dies sind vor allem Profilierungstexte. Meine Sympathien haben dabei natürlich die hermeneutischen Analysen. Pirouetten auf wissenschaftlichem Definitionsparkett interessieren mich nicht. Mehr zum Buch: revisionen-relektueren-perspektiven.html.

Was lehrt das Kino?

Eine seltsame Titelfrage, denn man geht doch nicht ins Kino wie in die Schule. Immerhin sind die meisten hier publizierten Texte durchaus lesenwert. Inhaltlich ist das Buch ein Remake. 2003 haben – auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung – ein Dutzend versierte Filmexperten einen Kanon zusammengestellt: 35 Filme, die man bis zum Abitur gesehen haben sollte. Alfred Holighaus hat 2005 bei Bertz + Fischer das entsprechende Buch herausgegeben. Die neue Publikation reduziert die 35 Filme auf 24, es fehlen zum Beispiel Chaplin und THE GOLD RUSH (1925), John Ford und STAGECOACH (1939), Claude Lanzman und SHOAH (1985). Das wird aber nicht weiter begründet. Die Texte des neuen Buches – basierend auf zwei Ringvorlesungen der Freien Universität Berlin – sind insgesamt tiefgründiger und analytischer als im Kanon-Buch, das auch eine andere Zielgruppe hatte. Die Autorinnen und Autoren kommen vor allem aus der Germanistik, der Philosophie und der Amerikanistik. Die Filmprofession vertreten Wolfgang Jacobsen (über M), Thomas Koebner (RASHOMON), Bernhard Groß (LA STRADA), Andreas Kilb (DAS SÜSSE JENSEITS) und Hermann Kappelhoff (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Das Buch ist genau doppelt so umfangreich wie der Kanon-Band. Also: mehr Platz für Forschung und Lehre.

Noch einmal: Ingmar Bergman

Zwei Monate nach der Bergman-Retrospektive der Berlinale, im April 2011, fand ein Symposium der Deutschen Kinemathek und des Einstein-Forums statt, in dem es um Lüge und Wahrheit im Werk des schwedischen Regisseurs ging. Die Beiträge – u.a. eine Untersuchung von Thomas Koebner über die Gespensterfurcht in ANSIKTET, eine psychoanalytische Interpretation von DET SJUNDE INSEGLET von Claudia Frank, eine bedenkenswerte Sicht von Mirjam Schaub auf AUS DEM LEBEN DER MARIONETTEN, ein religionswissenschaft-licher Blick auf Bergmans Mittelalter-Filme von Christian Kiening – liegen jetzt gedruckt vor; sie vermitteln in einem interdisziplinären Spektrum subjektive Erkenntnisprozesse und sind sehr lesenswert. Unmittelbar zu Bergman führt ein Text des Kurators des IB-Archivs Jan Holmberg, der die autobiografischen Schriften erschließt. Am Ende kommt der Regisseur mit eigenen Texten zu Wort, die bisher nicht auf Deutsch erschienen sind. Zur Vervollständigung des Bergman-Bestandes unabdingbar.

Die 1950er Jahre

Eine Doppelnummer der Marburger Hefte zur Medienwissenschaft widmet sich den 1950er Jahren in der Bundesrepublik und der DDR. Irmbert Schenk fungiert hier als Gast-Herausgeber und formuliert in seinem Vorwort den Anspruch der Publikation: „Blitzlichter“ auf unterschiedliche, symptomatische Erscheinungen von Film und Fernsehen zu werfen. Knut Hickethier benennt in seinem Beitrag vor allem die Desiderata der Geschichtsschreibung zu den Einzelmedien. Andreas Kötzing erinnert an den „Interministeriellen Ausschuss für Ost-West-Filmfragen“. Heinz-B. Heller thematisiert Rezeptionsaspekte des internationalen Films im westdeutschen Kino. Francesco Bono sieht den westdeutschen Film aus italienischer Perspektive. Schenk beschreibt generelle Aspekte des Kinos der Zeit. Gerhard Lüdeker konzentriert sich auf die Filmtrilogie 08/15. Günter Agde analysiert Gerhard Kleins Filmarbeit am Beispiel BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER. Weitere Beiträge stammen von Jonas Wegerer (Rezeption des Western), Sarah Kordecki (Rundfunkmedien im Heimatfilm), Stefanie Mathilde Frank (Remakes), Wolfgang Mühl-Benninghaus (Deutsch-deutsche Unterhaltung in der Nachkriegszeit), Peter Hoff (DDR-Fernsehunterhaltung) und Matthias Steinle (Geschichtsbilder im Kalten Krieg). Am Ende: eine sehr brauchbare Literaturliste zu den Medien der 1950er Jahre. Mehr zur Zeitschrift: medien-der-1950er-jahre-brd-und-ddr.html

Die Reise

Die Reise ist ein beliebtes Motiv des Films in allen Jahrzehnten. Ob zum Mond, nach Tilsit oder Tokio, nach Wien oder Sundevit – die Kinobesucher lassen sich mitnehmen. Mehr als neunzig Reise-Filme nennt das „Lexikon des Internationalen Films“ unter dem Buchstaben R. Marie-Therese Mäder untersucht in ihrer Dissertation einen speziellen Aspekt: die Suche nach Orientierung, genauer: nach kultureller und religiöser Identität. Sechs Filme aus den Jahren 2001-07 werden von ihr analysiert: Bei LE GRAND VOYAGE (2004) von Ismael Ferroukhi und BAB’AZIZ – LE PRINCE QUI CONTEMPLAIT SON AME (2007) von Nacer Khemir geht es um Reisen innerhalb religiöser Traditionen, AUF DER ANDEREN SEITE (2007) von Fatih Akin und Y TU MIMÁ TAMBIÉN (2001) von Alfonso Cuarón schildern die Reise als Neuanfang bzw. letzte Reise, SCHULTZE GETS THE BLUES (2003) von Michael Schorr und LITTLE MISS SUNSHINE (2006) von Jonathan Dyton und Valerie Faris erzählen von Reisen als tragikomischer Sinnsuche. Die Autorin untersucht Transformationsprozesse, beginnt bei den Pilgerreisen und endet beim Tourismus. Das Verhältnis von Raum und Zeit spielt dabei eine herausragende Rolle. Die Dissertation wurde 2012 mit dem Jahrespreis der Theologischen Fakultät der Universität Zürich ausgezeichnet. Mehr zum Buch: die-reise-als-suche-nach-orientierung.html.

Die Wirklichkeit des Dokumentarfilms

François Niney, Philosoph, Filmkritiker, Hochschullehrer an der Sorbonne Nouvelle, Dozent an der Femisund Dokumentarfilmregisseur, ist in Deutschland kaum bekannt. Da macht es Sinn, ihm eine Plattform für die Reflexion über dokumentarische Filmarbeit zu bieten. Heinz-B. Heller und Matthias Steinle sind die Herausgeber eines Buches, das durchaus mehr ist als ein traditionelles Q&A-Spiel. Niney, mit der Geschichte des amerikanischen und des französischen Dokumentarfilms sehr vertraut, nutzt fünfzig Fragen für ein umfassendes Panorama einer fast puristischen Dokumentarfilmphilosophie. Es sind kluge und originelle Fragen darunter (Welche Beziehung besteht zwischen vergehender Zeit und gefilmter Zeit? Was heißt Modulation? Haben die Bilder eine Rückseite? Was sagen die Tiere dazu?). Die Stärke des Buches: generelle Abgrenzungen, Definitionen, Vertiefungen. Seine Schwäche: Niney weiß zu wenig von der deutschen Dokumentarfilmgeschichte, und seine pauschale Kritik am Fernsehen hat mit unserer Realität der vergangenen fünfzig Jahre wenig zu tun. Das wird an den Nachfragen von Heller und Steinle (statt eines Epilogs) deutlich. Mehr zum Buch: die-wirklichkeit-des-dokumentarfilms.html