Wie ein Regenbogen

„She’s a Rainbow“ ist ein Song der Rolling Stones aus dem Jahr 1967. „Das außergewöhnliche Leben von Anita Pallenberg“ heißt die Biografie des engli-schen Autors Simon Wells im Untertitel. Sie war Schauspie-lerin und Model. Geboren 1942 in Rom als Tochter eines italie-nischen Reisekaufmanns und einer Sekretärin an der deut-schen Botschaft. Sie ging auf ein Internat und wurde kurz vor dem Abitur von der Schule verwiesen. Auf der Suche nach einer Zukunft besuchte sie europäische Städte, fuhr 1963 mit ihrem damaligen Partner Mario Schiffano nach New York, arbeitete bei einer Modelagentur und trat im Living Theatre auf. Von der Agentur wurde sie 1965 nach München geschickt, besuchte dort ein Konzert der Rolling Stones und begann eine Beziehung mit Brian Jones, die sie nach London führte. 1966 wurde sie als Hauptdarstellerin für Volker Schlöndorffs MORD UND TOTSCHLAG gecastet, der in München gedreht wurde. 1968 spielte sie eine Sadomasochistin in BARBARELLA von Roger Vadim, 1969 wird sie in Marco Ferreris DILLINGER E’ MORTO von ihrem Ehemann erschossen. Statt mit Brian Jones ist sie inzwischen mit Keith Richards liiert, sie bringt drei Kinder zur Welt, eines davon stirbt drei Monate nach der Geburt. Simon Wells erzählt das Leben von Anita Pallenberg auf der Basis von ausführlichen Recherchen und zahlreichen Gesprächen. Er sieht sie als feministische Heldin und entsprechend groß ist seine Empathie, vor allem, wenn es um ihre Niederlagen geht. Seine Protagonistin starb im Juni 2017. Das Coverfoto wirkt sexistisch. Mehr zum Buch: http://www.hannibal-verlag.de

Im Augenblick der Freiheit

Burghard Schlicht (*1946) war 1970 Darsteller und Ausstatter bei Rainer Werner Fassbinder, hat in den frühen 70ern mit Wim Wenders, Hark Bohm und Michael Fengler zusammen-gearbeitet. Dann wechselte er nach einem Soziologiestudium zum Journalismus, erst in Printmedien, dann porträtierte er Künstler fürs Fernsehen und drehte Reisefilme. Acht Jahre hat er an seinem Roman „Im Augenblick der Freiheit“ gearbeitet. 520 spannende Seiten. Wir bewegen uns auf zwei Zeitebenen, in der Filmwelt der frühen 70er Jahre und in einer stark veränderten Welt nach dem Terroranschlag 9/11, wenn die Protagonistin Rebecca aus Amerika in Deutschland nach Menschen sucht, die ihre Mutter Jenny gekannt haben. Jenny, inzwischen verschollen, gehörte zur Schwabinger Filmszene, die sich um den Regisseur Hans-Peter Kantlehner gebildet hatte und Filme wie am Fließband drehte. Da gab es den Ausstatter Carl Maria Geyer, den Schauspieler Sonny Finn, die Sängerin Anna Lund, die Schauspielerin Sonja Kowalczyk, den Kameramann Feuerbach, den Regieassistenten und Darsteller Marcello. Hier erleben wir die Welt von Rainer Werner Fassbinder (= Kantlehner) mit Kurt Raab, Harry Baer, Ingrid Caven und Michael Ballhaus, die ein eigener Kosmos war, zu dem Burghard Schlicht kurzfristig gehörte. Seine Beschreibungen sind konkret, teils komisch, teils traurig, aus einem Abstand von rund 50 Jahren. Stützpfeiler der Geschichte ist als Hauptfigur der Augenarzt Gottfried, der damals in Jenny verliebt war und Rebecca seine Erinnerungen erzählt. Die Romanform lässt alle Freiheiten, um über das Leben, die Liebe und die Veränderungen der Welt zu reflektieren. Einen sehr lesenswerten Tex über das Buch hat Alf Mayer im Culturmag geschrieben: im-augenblick-der-freiheit/130230 Mehr zum Buch: verlag-olga-grueber.de. Unter den Pseudonym Olga Grüber hat Burghard Schlicht 1981 in der Zeitschrift Transatlantik den Text „Armer deutscher Film“ publiziert.

Kino, Kunst, Feminismen

Was bedeutet es, wenn Kino-programme oder Kunstausstel-lungen von Frauen kuratiert werden? Elena Baumeister geht in ihrer Untersuchung auf die Spurensuche nach dem Einfluss von Feminismen auf die kultu-relle Theorie und Praxis in den vergangenen fünfzig Jahren. Sie hat Archivmaterial ausgewertet und Gespräche geführt, um die entsprechenden Strategien zu erforschen und plädiert für eine Verstärkung und Differenzie-rung der feministischen Kuratierung. Dokumentiert sind drei Gespräche: mit Stefanie Schulte-Strathaus, Co-Direktorin des Arsenal – Institut für Film- und Videokunst und Leiterin des Berlinale-Programms „Forum Expanded“, Ingrid Wagner, Stellvertretende Referatsleiterin der Berliner Senatsverwaltung für Kultur, und Karola Gramann, Filmkuratorin und Mitbegründerin der Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt am Main. In einer Zeit, in der Kinos und Museen geschlossen sind, eine besonders interessante Lektüre. Mehr zum Buch: kino-kunst-feminismen/

M (1931)

Vor neunzig Jahren drehte Fritz Lang den Film M, er gilt als der wohl wichtigste in der deutschen Filmgeschichte. Er war einer der ersten Tonfilme, kein Ufa-Film, sondern eine Nero-Produktion. Ein psychopathischer Kinder-mörder (gespielt von Peter Lorre) wird von der Polizei und von den Kriminellen der Stadt, angeführt von dem Geld-schrankknacker Schränker (Gustaf Gründgens), gejagt, die ihn am Ende vor ihr Tribunal stellen, aber von der rechtzeitig eintreffenden Polizei unter Führung von Kriminalkommissar Lohmann (Otto Wernicke) darin gehindert werden, ihn zu lynchen. Das Ende bleibt offen. Herausragend: die Kameraführung von Fritz Arno Wagner und die Montage von Paul Falkenberg. Das einzige Musikstück, es wird als Erkennungszeichen gepfiffen, stammt aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg. Bei Atlas-Film ist jetzt ein Mediabook des Films mit DVD und Blu-ray der restaurierten und digital bearbeiteten Fassung erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Das Booklet enthält interessante Informationen von Martin Koerber, Auszüge aus zeitgenössischen Kritiken und den faksimilierten Illustrierten Film-Kurier. Mehr zur DVD: atlas-film.de/m.html

AUSSER ATEM (1960)

Nochmal: Godard. Sein erster langer Spielfilm, À BOUT DE SOUFFLE, lief 1960 im Wettbe-werb der Berlinale und erhielt einen Silbernen Bären für die beste Regie. Es war meine erste Berlinale, ich war vom Festival beeindruckt und natürlich auch von Godards Film. Das Dreh-buch stammte von François Truffaut, dessen Film LES QUATRE CENTS COUPS ich herausragend fand. Die Erzähl-weise von AUSSER ATEM war noch radikaler, die Kamera-führung von Raoul Coutard wirkte durch Handkamera fast dokumentarisch, die Montage führte durch den Jump Cut zu asynchronen Szenen, die Nähe zu den Hauptfiguren Patricia und Michel, gespielt von Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo, war unmittelbar. Unvergessen: wie Patricia und Michel im Bett sitzen, rauchen und sie dem ziemlich ungebildeten Kleinkriminellen William Faulkner und Dylan Thomas nahebringt. Total überraschend das Ende auf den Straßen von Paris. Zum 60jährigen Jubiläum des Films ist jetzt bei Studio Canal eine digital restaurierte DVD des Films erschienen. Zum Bonusmaterial gehört eine 30-Minuten-Featurette des Godard-Experten Colin MacCabe: „Immer noch nicht AUSSER ATEM“.Mehr zur DVD: 60th_anniversary_edition-digital_remastered

Oliver Stone

Gewalt und Krieg spielen in seinem Leben und in seinen Filmen eine zentrale Rolle. Geboren 1946 in New York, aufgewachsen als Scheidungs-kind, verließ er die Yale Univer-sity und zog als Freiwilliger 1967 in den Vietnamkrieg. Zweimal wurde er an der Front verwundet, kehrte 1968 in die Heimat zurück, verbrachte einige Monate in Mexiko, wurde rauschgiftsüchtig und in Amerika verhaftet. Er studierte Film an der New York University – zu seinen Dozenten gehörte Martin Scorsese – , schrieb zahlreiche Drehbücher, die nicht verfilmt wurden, bis er 1972 mit dem Horror-B-Movie SEIZURE seinen ersten Film realisieren konnte. Auch das Drehbuch PLATOON, das seine Kriegserfahrungen thematisierte, entstand Anfang der 70er Jahre. Einen großen Erfolg hatte er mit dem Drehbuch MIDNIGHT EXPRESS (verfilmt von Alan Parker), für das er 1978 seinen ersten Oscar erhielt. 1981 drehte er den Film THE HAND mit Michael Caine, der aber kaum wahrgenommen wurde. Es entstanden Drehbücher u.a. für John Milius (CONAN THE BARBARIAN, 1982), Brian de Palma (SCARFACE, 1983) und Michael Cimino (YEAR OF THE DRAGON, 1985). 1986 entstand endlich PLATOON, für den er den Oscar als bester Regisseur erhielt. Mit der Preisverleihung in Hollywood endet der erste Teil der Autobiografie von Oliver Stone, „Chasing the Light“, die fast zeitgleich in den USA und Deutschland erschienen ist. 400 Seiten, die spannend zu lesen sind, grausame Momente einer Vietnam-Erfahrung erzählen und einen Einblick in das New Hollywood der 70er Jahre geben. Stone ist als Autor ein absoluter Profi. Keine Abbildungen. Mehr zum Buch: chasing-the-light-die-offizielle-autobiografie/

Jean-Luc Godard

Heute ist der 90. Geburtstag des Regisseurs Jean-Luc Godard zu feiern. Ihm war bereits im Januar das 18. Mannheimer Filmseminar gewidmet, und die Dokumentation der Veranstal-tung liegt rechtzeitig zum Ge-burtstag vor. Titel: „Denkende Bilder“. Elf Texte sind zu lesen. Wilfried Reichart beschreibt in seinem schönen Eröffnungs-beitrag wichtige Lebensstati-onen. Bei Andreas Hamburger und Gerhard Schneider geht es um À BOUT DE SOUFFLE. Katharina Leube-Sonnleitner entdeckt Schönheit und Macht, Kunst und Kommerz, Götter und Menschen in LE MÉPRIS. Andreas Rost bewegt sich von BAND À PART über UNE FEMME MARIÉE zu MASCULIN, FÉMININ. Andreas Jacke dechiffrierte ALPHAVILLE mit Blick auf die Filmgeschichte. Karin Nitzschmann stellt filmpsychoanalytische Überlegungen zu WEEKEND an. Gerhard Midding beschreibt Godards Rückkehr ins Kino in den 80er Jahren. Dietrich Stern richtet die Aufmerksamkeit auf die Musik als Objekt der filmischen Montage und Demontage bei JLG. Timo Storck hat filmpsychoanalytische Assoziationen zu ADIEU AU LANGAGE. Joachim F. Danckwardt stellt Mutmaßungen über die brandneue Nouvelle Vague des JLG mit dem Blick auf LE LIVRE D’IMAGE an. Das Niveau der Texte ist sehr hoch und das Buch ein schönes Geschenk zum 90. Geburtstag. Mehr zum Buch: php/products_id/3011

Die Kameraaugen des Fritz Lang

Den Einfluss der Kameramän-ner auf den Film der Weimarer Republik untersucht Axel Block – selbst ein herausragender Kameramann – in einem beein-druckenden Buch. Er klärt zunächst die technischen und produktionstechnischen Vorau-ssetzungen in den 20er und frühen 30er Jahren, die ab 1929 vom Übergang des Stummfilms zum Tonfilm beeinflusst waren. Neun Filmanalysen stehen im Zentrum der Publikation. Dies sind DR. MABUSE, DER SPIELER (1922) von Fritz Lang, Kamera: Carl Hoffmann; DER LETZTE MANN (1924) von F. W. Murnau, Kamera: Karl Freund; METROPOLIS (1926) von Fritz Lang, Kamera: Karl Freund, Günther Rittau; FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE (1926) von F. W. Murnau, Kamera: Carl Hoffmann; DIE LIEBE DER JEANNE NEY (1927) von G. W. Pabst, Kamera: Fritz Arno Wagner, Robert W. Lach; LA PASSION DE JEANNE D’ARC (Frankreich 1928) von Carl Theodor Dreyer, Kamera: Rudolf Maté; DER BLAUE ENGEL (1930) von Josef von Sternberg, Kamera: Günther Rittau; M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931) von Fritz Lang, Kamera: Fritz Arno Wagner; LILIOM (Frankreich 1934) von Fritz Lang, Kamera: Rudolph Maté. Die Analysen auf jeweils rund 40 Seiten sind sehr präzise, haben die Standards „Vor der Produktion“ und „Wie der Film beginnt“, setzen dann aber unterschiedliche Akzente, oft wird die Ausleuchtung der Stars thematisiert, die optische Auflösung steht im Mittelpunkt. Bei der Auswahl der Filme hätte ich auf JEANNE D’ARC verzichtet und MENSCHEN AM SONNTAG (1930) von Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer mit dem Kameramann Eugen Schüfftan oder KUHLE WAMPE von Slatan Dudow mit dem Kameramann Günther Krampf vorgezogen. Der Anhang enthält Bio-/Filmografien der Kameramänner, ein informatives Glossar und eine Literaturliste. Die Qualität der Abbildungen ist grenzwertig. Mehr zum Buch: Die-Kameraaugen-Fritz-Lang-Kameramänner/dp/3967074218

Leni Riefenstahl

Die Filmemacherin Nina Gladitz (*1946) hat vor 40 Jahren einen Dokumentarfilm über Leni Riefenstahl realisiert, der die Entstehung des Films TIEFLAND (1940-44) und die folgenreiche Verpflichtung von Sinti und Roma als Komparsen thematisierte: LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT. Riefenstahl prozessierte gegen die Ausstrah-lung verlor aber in den meisten Punkten. Nina Gladitz hat weiter über die Regisseurin recherchiert und jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem das Schicksal des Kameramannes, Fotografen und Regisseurs Willy Zielke (1902-1989) im Mittelpunkt steht. Er hatte den Film DAS STAHLTIER (1935) über die Geschichte der Eisenbahn gedreht, der von Goebbels verboten wurde. Leni Riefenstahl engagierte Zielke für die Mitarbeit an ihrem zweiteiligen OLYMPIA-Film (1938). Er war für den Prolog zuständig, der von der Regisseurin ohne sein Wissen verändert wurde. Zielke wurde damals in die Psychiatrie eingeliefert und zwangs-sterilisiert. Im Hintergrund agierte Riefenstahl, die ihn nicht aus den Augen verlor und für die Arbeit an TIEFLAND wieder in die Crew holte. Das Buch von Nina Gladitz ist mit großer Empathie geschrieben, die Protagonistin wird zur ausschließlichen Täterin, die von Zielkes künstlerischer Begabung profitiert. Viel wird aus Riefenstahls Memoiren und aus Zielkes Erinnerungen zitiert. Die Konfrontation ergibt: Lüge / Wahrheit. Trotz mancher zugespitzten Formulierungen eine interessante Lektüre. Einen sehr lesenswerten Text über das Buch hat Martin Doerry im Spiegel v. 17.10.2020 publiziert. Mehr zum Buch: leni-riefenstahl/504178/

Die letzte Geliebte

Hardy Engel arbeitet als Privat-detektiv in Los Angeles. Am Morgen des 22. Juni 1923 er-wacht er mit Zahnschmerzen und erhält in seinem Büro einen Anruf des Produzenten Herbert Somborn, der zu einer großen Herausforderung wird. Engel soll im Auftrag von Somborn und der Schauspielerin Dorothy Reid gegen den in der Film-branche verhassten Präsidenten des Produzenten- und Ver-leiherverbandes ermitteln. „Ich möchte, dass Sie Will Hays zur Strecke bringen, dass Sie her-ausfinden, was er alles für Dreck am Stecken hat, egal was, egal mit wem, damit wir diesen Mörder und Heuchler ein für alle Mal erledigen, bis er in dieser Stadt und in der ganzen Filmbranche nichts mehr zu sagen hat.“ (Dorothy Reid). Engel übernimmt in seinem dritten Fall einen schweren Job, der nach 600 Seiten auch nicht so erfolgreich beendet ist, wie wir erwarten. Wir werden kreuz und quer durch Amerika geführt, auch das Weiße Haus in Washington spielt eine Rolle. Dort regiert der skandalumwitterte Präsident Warren G. Harding bis zu seinem plötzlichen Tod am 2. August 1923. Der Roman von Christof Weigold ist spannend, auch wenn man einige Umwege machen muss, er wirkt gut recherchiert und macht neugierig auf den vierten Fall von Hardy Engel. Mehr zum Buch: die-letzte-geliebte-9783462053265