Taking Measures

Fabienne Liptay hat ein Buch über die unterschiedliche Nutzung von Formaten im Film und in der Videokunst heraus-gegeben. 14 Texte sind dort versammelt. Acht haben mir besonders gut gefallen: Volker Pantenburg reflektiert über den Film BILDER DER WELT UND INSCHRIFT DES KRIEGES (1982) von Harun Farocki. Alexandra Navratil schaut auf den holländischen Experimen-talfilm KRAKATAU (1930) über die Bildung von Wolken. Dorota Sajewskaja richtet ihren Blick auf die Körpersprache im Werk von Maya Deren. Marijke van Warmerdam stellt die These auf: „Everything Can Be a Film”. Bei Jacqueline Maurer geht es um den Film LE LIVRE D’IMAGE (2018) von Jean-Luc Godard. Fabienne Liptay äußert sich zur Formatverwendung in einigen Filmen von Stan Douglas. Erika Balsom informiert über den in einer Einstellung gedrehten Film 15 HOURS von Wang Bing. Laura Walde formuliert Gedanken zu dem Kurzfilm THIS ACTION LIES (2018) von James N. Kienitz Wilkins. Burcu Dogramaci schreibt über den Film WHITE CITY von Dani Gal. Eröffnet wird der Band mit einer Bildfolge von fliegenden oder sitzenden Raben, fotografiert und gefilmt. Den Abschluss bildet ein Gespräch der Kunsthístorikerin Ursula Frohne mit dem israelischen Architekten Eyal Weizman über „Forensis as Critical Practice“. Ein sehr interessantes Buch mit vielen Abbildungen in bester Qualität. Mehr zum Buch: index.php?pd=ss&lang=de&page=books&book=1486

Von Giotto bis Matrix

Wie unterschiedlich wird menschliche Gewalt in der Malerei und im Film darge-stellt? Auf diese Frage gibt der Wahrnehmungstheoretiker und Philosoph Hans Zitko differen-zierte Antworten. Fünf Kapitel strukturieren das Buch: 1. „Dar-stellung von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik“, 2. „Die Auslotung der Grenzen“, 3. „Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst“, 3. „Die Ordnung und ihre Zersetzung“, 4. „Der vergebliche Kampf gegen die Scheinwelt und die Veralltäg-lichung filmischer Gewalt“. Vier Filme werden in diesem Zusam-menhang analysiert: THE BIRTH OF A NATION (1915) von David W. Griffith, FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR (1965) von Sergio Leone, THE WILD BUNCH (1969) von Sam Peckinpah und THE MATRIX RELOADED (2003) von den Schwestern Wachowski. Die skeptische Schlussfolgerung des Autors lautet: die Medien entwickeln ein Monopol des Umgangs mit lustbesetzter Vernichtung. Mehr zum Buch: von-giotto-bis-matrix/?number=978-3-8376-6513-0

Samuels Buch

Der autobiografische Roman des Schauspielers Samuel Finzi erzählt seine Lebensgeschichte von der Geburt am 20. Januar 1966 in Plovdiv, Bulgarien, bis zur Landung auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld am 17. De-zember 1989, als er 23 Jahre alt ist. Sein Vater Itzhak Finzi gilt als bekannter Schauspieler, seine Mutter Gina Tabakova ist eine renommierte Pianistin. Samuel, genannt „Sancho“, besucht die Grundschule, dann veranlasst seine Mutter den Wechsel auf die „Nationale Experimentale Schule“, und drei Jahre später wird er auf das „Nationale Gymnasium für antike Sprachen und Kulturen“ geschickt. Die Aufnahmeprüfungen besteht er mühelos. Seine erste Liebe ist Emilia, die Enkelin des Staatsoberhaupts Todor Schiwkow, die stets in einer schwarzen Limousine mit Chauffeur in die Schule gebracht wird. Sie lädt ihn zu ihrem Geburtstag ein. Mit seinem Vater unternimmt er eine lange Reise nach Paris, die ihn durch Italien führt und in Frankreich mit seiner Beschneidung endet. Jüdische Fragen spielen im Hintergrund eine große Rolle. Mit seiner Schulklasse fährt er nach Athen. Und am Ende besucht er die „Nationale Akademie für Theater- und Filmkunst“ in Sofia. Das Kino ist schon früh ein wichtiger Ort in seinem Leben. Daran gibt es viele assoziative Erinnerungen. Samuel Finzis Roman reiht sich ein in die wachsende Reihe autobiografischer Werke von Schauspielern, die mit Matthias Brandt, Joachim Meyerhoff und Edgar Selge begonnen hat. Man darf sich auf eine Fortsetzung freuen. Mehr zum Buch: 5giqEAAYASAAEgKwwfD_BwE

Filmjahr 2022/2023

Die Basis für dieses Jahrbuch ist weiterhin der Filmdienst, der als Portal gut funktioniert. Der Rückblick auf das Filmjahr 2022 hat die Überschrift „Viel zurück oder doch wohin?“. Es ist von einer „Zeitenwende“ die Rede. Unter den zwanzig besten Kinofilmen des Jahres findet man LICORICE PIZZA von Paul Thomas Anderson, EVERY-THING EVERYWHERE ALL AT ONCE von Dan Kwan, THE CARD COUNTER von Paul Schrader, WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN von Alexandre Koberidze, CORSAGE von Marie Kreutzer, TRIANGLE OF SADNESS von Ruben Östlund, MEMORIA von Apichatpong Weerasethakul und CRIMES OF THE FUTURE von David Cronenberg. Drei Texte beschäftigen sich mit Filmbranche & Filmkultur, fünf mit Themen & Motiven. Porträtiert werden u.a. die Filmemacher Andrew Domnik, Bruno Dumont und Joachim Trier, die Schauspielerinnen Hannelore Hoger und Tilda Swinton. Fünf längere Nachrufe nehmen Abschied von Jean-Luc Godard, Klaus Lemke, Gaspard Ulliel, Nichelle Nichols und Alain Tanner. Das „Lexikon der Filme 2022“ beginnt auf Seite 203 und endet auf Seite 465. Rund 1.500 Filme werden charakterisiert und mit Sternen bewertet. Im Anhang findet man die Auflistung der wichtigsten Preise. Redaktion: Jörg Gerle, Felicitas Kleiner, Josef Lederle und Marius Nobach. Das für mich unverzichtbare Filmbuch ist in diesem Jahr relativ früh erschienen. Coverfoto: Renate Reinsve in DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT von Joachim Trier. Mehr zum Buch: 757-filmjahr-2022-2023-lexikon-des-internationalen-films.html

ALLE REDEN ÜBERS WETTER (2022)

Clara ist Philosophiedoktoran-din in Berlin, promoviert über Hegels Freiheitsbegriff und lebt in einer Kreuzberger WG. Ihr Alltag ist von universitären Konflikten geprägt. Sie hat ein heimliches Verhältnis mit einem ihrer Studierenden. Zusammen mit ihrer 15jährigen Tochter Emma, die bei Claras Exmann wohnt, besucht sie ihre Mutter Inge zum 60. Geburtstag in der mecklenburgischen Provinz. Hier hat sie im dörflichen Umfeld ihre Kindheit erlebt. Der Sprung in die Großstadt änderte alles für sie. Jetzt muss sie sich erst wieder orientieren. Ihre Mutter ist dabei nicht sehr hilfreich. Die zwei Welten sind äußerst kontrastreich. Annika Pinskes DFFB-Abschlussfilm hat als Gesellschaftsporträt große Qualitäten. Die Dialoge sind pointiert, die Kameraführung (Ben Bernhard) bleibt nahe an den Personen, der Cast ist hervorragend: Anne Schäfer als Clara, Anne-Kathrin Gummich als Mutter Inge, Judith Hofmann als Doktormutter Margot, Sandra Hüller als Dozentin an der Uni, Max Riemelt als Jugendliebe, Roland Zehrfeld als Claras Exmann. Der Film hat mich im Kino sehr beeindruckt. Jetzt ist bei Grandfilm die DVD erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: dvd-blu-ray/alle-reden-uebers-wetter/

35 Millimeter / Nr. 49

Das Filmschaffen in Mittel- und Osteuropa ist Schwerpunkt-thema des neuesten Heftes von 35 Millimeter. Christoph Seelinger erinnert an das Frühwerk von Vera Chytilová. Julian Körner begibt sich auf die Spuren des frühen tsche-choslowakischen Märchenfilms. Lars Johansen beschäftigt sich mit dem Prager Puppenspieler Jirí Trnka und sieht in Karel Zeman den tschechischen Méliès. Christoph Seelinger ist beeindruckt vom tschecho-slowakischen Stummfilmhorror der frühen 20er Jahre, dem ungarischen Tierfilmregisseur Istvan Homoki Nagy, den Filmen des Kino-Klubs Beograd 1957-1962 und den Holcaust-Filmen von Wanda Jakubowska. Marco Koch porträtiert den polnischen Filmemacher und Politiker Jerzy Kawalerowicz und erinnert speziell an seine frühen Filme. Michael Klein vergleicht den Roman „Asche und Diamant“ von Jerzy Andrzejewski mit der Verfilmung von Andrej Wajda. Bernhard Valentinitsch setzt seine Würdigung des Frühwerks von Allen H. Miner fort. Robert Zion richtet seinen Blick auf die Hollywood Queen Olga Baclanova. Bernward Knappik beginnt eine Serie zu den Wikingern im Stummfilm und befasst sich mit dem Komödienregisseur Pierre Étaix, Christoph Seelinger eröffnet eine Reihe über Paul Wegeners „Kinetische Lyrik“. Sieben kürzere Texte sind einzelnen Filmen gewidmet: den ungarischen Filmen TWO GIRLS ON THE STREET von André de Toth (Autor: Robert Zion) und A TOLONC (1915) von Mihály Kertéz (später: Michael Curtiz) (Autor: Tonio Klein), dem polnischen Film DIE HANDSCHRIFT VON SRAGOSSA (1965) von Woijech Has (Autor: Marco Koch), dem ägyptischen Film MAWAD MA IBLIS (1955) von Kamal El-Telmessani (Autor: Christoph Seelinger), dem amerikanischen Gangsterfilm HE LAUGHES LAST (1956) von Blake Edwards (Autor: Tonio Klein), dem japanischen Film SCHWEINE, GEISHAs UND MATROSEN (1961) von Shohai Imamura (Autor: Roman Paul Widera), dem spanischen Film LA MUERTE SILBA UN BLUES (1964) von Jess Franco, dem italienische Sandalenfilm EL COLOSO DE RODAS (1961) von Sergio Leone (Autor: Bernward Knappik), dem italienisch-spanischen Drama EL EXPRESO DE ANDALUCIA (1956) von Rovira Beleta (Autor: Matthias Merkelbach), dem französischen Film HOTEL DU NORD (1938) von Marcel Carné (Autor: Jörg Riekhoff) und dem polnischen Film PAN TADEUSZ (1928) von Ryszard Ordynski (Autor: Clemens Williges). Wie immer: ein spannendes Heft. Mehr zur Zeitschrift: produkt/35-millimeter-49-maerz-2023/

Epistemiken des Essayistischen

Welche Vorstellungen und Auffassungen vom essayisti-schen Film hatte Harun Farocki (1944-2014) und wie hat er sie in den verschiedenen Phasen seiner künstlerischen Tätigkeit umgesetzt? Das vermittelt Aurel Sieber in seinem Buch, das an der Universität Zürich entstan-den ist. „Kritisieren“, „Verglei-chen“, „Aufheben“ heißen die Überschriften der drei Kapitel. Farocki gehörte nie zu den Anhängern der dokumenta-rischen Beobachtung. Seine Filme hatten in der Frühzeit agitatorische Ansprüche, später sollten sie präzise Erkenntnisse vermitteln. Zu den wichtigsten Titeln seines Lebenswerkes gehören ERZÄHLEN (1975, gemeinsam mit Ingemo Engström), ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN (1978), ETWAS WIRD SICHTBAR (1981), WIE MAN SIEHT (1986), BILDER DER WELT UND INSCHRIFT DES KRIEGES (1989), ARBEITER VER-LASSEN DIE FABRIK (1995), STILLEBEN (1997), GEFÄNGNIS-BILDER (2000), ZUM VERGLEICH (2009). In der letzten Phase arbeitete er eng mit Antje Ehmann zusammen und kuratierte Ausstellungen in Wien, Berlin und auf der Documenta in Kassel. Das Buch von Aurel Sieber reflektiert Farockis künstlerisches Werk auf hohem Niveau. Sehr lesenswert. Mit elf Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: epistemiken-des-essayistischen/?number=978-3-8376-6591-8

Curt Bois

Curt Bois (1901-1991) war ein deutscher Schauspieler jüdischer Herkunft, der schon mit sieben Jahren auf der Bühne stand und als Komiker im Film der Weimarer Republik Karriere machte. Zu seinen bekanntesten Filmen gehörte DER FÜRST VON PAPPENHEIM (1927) von Richard Eichberg und EIN STEINREICHER MANN (1932) von Stefan Szekely. 1933 emigrierte er über Wien, Prag und Zürich in die USA, wo er aber nur kleine Rollen auf der Bühne oder im Film bekam. 1950 kehrte er nach Deutschland zurück, arbeitete mit Bert Brecht in Ostberlin und später mit Fritz Kortner in Westberlin. In Filmen wie DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART von Kurt Hoffmann, GANOVENEHRE von Wolfgang Staudte und DAS BOOT IST VOLL von Markus Imhoof spielte er wichtige Rollen. In DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987) von Wim Wenders verkörperte er den alten Poeten Homer und wurde bei der ersten Verleihung des Europäischen Filmpreises für die beste Nebenrolle ausgezeichnet. Frank-Burkhard Habel erzählt das Leben von Curt Bois als „Jüdische Miniatur“. 80 höchst lesenswerte Seiten mit vielen Abbildungen. Mehr zum Buch: hentrichhentrich.de/buch-curt-bois.html

Locarno on / Locarno off

Im August 1946 fand in Locarno das erste Festival statt. Gezeigt wurden damals u.a. die neues-ten Filme von Sergei Eisenstein, Roberto Rossellini und René Clair, der damals für die Agatha Christie-Verfilmung AND THEN THERE WERE NONE den Preis für den besten Film gewann. Im vergangenen Jahr wurde mit dem 75. Festival Jubiläum gefeiert. Der Hauptpreis heißt inzwischen „Goldener Leopard“. Locarno ist in jedem Sommer der Schauplatz des wichtigsten Schweizer Filmfestivals. Lorenzo Buccella erzählt in seinem Buch die Geschichte und Geschichten des Festivals. Zu den Künstlerischen Leitern gehörten u.a. Riccardo Bolla (1946-58), Moritz de Hadeln (1972-78), David Streiff (1982-92), Marco Müller (1992-2001), Irene Bignardi (2001-13), Carlo Chatrian (2013-20). Sein aktueller Nachfolger ist Giona A. Nazzaro. Als Präsident fungiert seit 2001 Marco Solari. Es gibt Open-Air-Aufführugen auf der Piazza Grande und Vorführungen in den verschiedenen Kinos der Stadt. Die Lektüre des Buches ist aufschlussreich und amüsant, weil man viele Details der Geschichte von Locarno vergessen hat. Mit Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: locarno-on-locarno-off-von-lorenzo-buccella

L‘ ÉTAT ET MOI (2022)

Der Staat und ich. Aber welcher Staat? Der Film von Max Linz spielt in der Gegenwart und vor 150 Jahren. Sophie Rois ist in einer Doppelrolle zu sehen: als Komponist Hans List, der nach 150 Jahren aus dem Schlaf er-wacht und der Richterin Praetorius-Camusot zum Verwechseln ähnlich sieht. Die muss sich gegen den Staatsan-walt Donnerstrunkhausen zur Wehr setzen, der konservativ argumentiert und die Liberalität verachtet. Und dann gibt es noch den Rechtsreferendar Yushi, der sich in die Patentochter der Richterin verliebt. Zwischen all dem muss man sich orientieren, aber weil es eine Satire ist, kann man viel lachen. Der Film war im vergangenen Jahr im Forum der Berlinale zu sehen. Jetzt ist bei Salzgeber die DVD erschienen. Mit einem Booklet und einem Gespräch mit der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: 1863-l-etat-et-moi-der-staat-und-ich.html