Todesrituale im Spielfilm

„Leinwandvölker“ sind, ethnologisch definiert und von der Autorin so bezeichnet, Stereotype in Filmen unterschiedlichster geografischer Herkunft, die durch Genre verbunden sind und sich global vernetzen. Wilma Kiener untersucht drei Bereiche: die Komödienfilmvölker, die Dramenfilmvölker und die Actionfilmvölker. Mit sechs standardisierten Fragen geht sie an ihre 25 Beispiele heran: Welcher Aspekt des Todes wird problematisiert? Welchem Todesbild hängt die Gesellschaft an? Wie ist der Tod in die Welt der Filmethnie integriert? In welcher kategorialen Beziehung zum Tod stehen die Hauptakteure? Welches gesellschaftlich relevante Thema wird anhand des Todes problematisiert? Welche Lebenskräfte stecken in diesen Filmen? Da die Autorin ausgebildete Filmemacherin ist, gibt sie konkrete Antworten. Zu ihren Beispielen gehören die Komödien HEATHERS (1989, USA), PULP FICTION (1994, USA), JOYONGHAN GAJOK (1998, Südkorea), VERY BAD THINGS (1998, USA), SNATCH (2000, England/USA) und VOLVER (2006, Spanien). Hier geht es meist um die Beseitigung einer Leiche. Als Beispiele für Dramen dienen TITANIC (1997, USA), ASOKA (2001, Indien), CITADE DE DEUS (2002, Brasilien), HOTEL RWANDA (2004, diverse Länder) und LE SCAPHRANRE ET LE PAPILLON (2007, Frankreich/USA). Der Tod am Ende darf hier dramaturgisch als bekannt vorausgesetzt werden. Die Actionfilme sind DIE HARD (1989, USA), LASHOU SHENTAN (1992, Hongkong), BLACK HAWK DOWN (2001, USA), DON (2006, Indien), ONG-BAK (2003, Thailand), KILL BILL VOL. 1 und 2 (2003/04, USA). Im Zentrum steht hier das Überlebensspiel. Es ist erstaunlich, wie viele visuelle Parallelen zutage gefördert werden. Die Screenshots sind dabei sehr hilfreich.

Fritz Lang

Heute geht die große Fritz Lang-Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums zu Ende. Was bleibt, ist die Publikation, herausgegeben von Astrid Johanna Ofner. Ihr Hauptteil sind filmografische Informationen und klug ausge-wählte Texte zu den 30 Filmen von Fritz Lang. Bunt gemischt sind dabei zeitgenössische und retrospektiv publizierte Rezensionen aus Deutschland, England, den USA und Frankreich. Die internationale Perspektive spiegelt sich auch in den neun Texten wider, die der Filmdokumentation vorangestellt sind: eine Erinnerung an eine Begegnung mit FL von Michel Piccoli, ein Essay von Georges Franju über den Stil von FL aus dem Jahr 1937, ein Aufsatz von Otis Ferguson über FL aus dem Jahr 1941, eine Reflexion von Jean Douchet über den Lang’schen Helden in SCARLET STREET (geschrieben 1990), Hinweise von Bernard Eisenschitz auf Briefe von Brecht an Lang und Erinnerungen Langs an Wien, ein Interview von Mary Morris mit FL (1945). Ganz am Anfang steht ein schöner, sehr persönlicher Text von Peter Nau über einige Begegnungen mit Fritz-Lang-Filmen. Man spürt, wie viel Nachdenken in diese Dokumentation investiert wurde. Mehr zum Buch: 351–fritz-lang.html.

Ekstase

Band 6 der „Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film“, herausgegeben von Thomas Koebner. Und weil sein Horizont weit über den Film hinausgeht, gibt er auch dem Phänomen von Exaltation und Entrückung eine substantielle Tiefe. So reflektiert Susanne Gödde in einem höchst lesenswerten Essay über die dionysische Ekstase in der griechischen Antike, entdeckt Gert Sautermeister in einem großen Text Verbindungen einer Gegenkultur bei Bocciaccio, Nietzsche, Schiller, Beethoven, Klopstock, Gottfried Keller und Eichendorff und endet bei der Studentenbewegung. Was in der Konklusion noch keine Logik bekommt, erschließt sich spätestens beim Lesen. Eike Wittrock erinnert an moderne Tanzekstasen zwischen Form und Erfahrung. Und Thomas Koebners Beispiele der Ekstase im Film verweisen auf Langs METROPOLIS (die falsche Maria) und FURY, Bergmans SIEBTES SIEGEL, Renoirs FRENCH CAN CAN, Fellinis I VITELLONI, Fred Astaire, Gustav Machatys Drama EKSTASE, Pascal Ferrans LADY CHATTERLEY und Peter Weirs PICNIC AT HANGING ROCK. Koebner interpretiert die ekstatischen Momente der Filme und lässt ihnen dabei ihre Geheimnisse. Michelle Koch schreibt am Ende, eher kurz, aber komprimiert, über Rauschekstasen im Film. Wie schön, dass solche Motivschnitte, die über das Medium hinausweisen, in der (Film-)Literatur möglich sind.

Filmsoziologie

Ein zu geringes Interesse der Soziologie für den Film bekla-gen die drei Herausgeber dieses Buches. Sie haben deshalb 2011 eine Tagung in Graz initiiert und publizieren hier ausgewählte Referate und Diskussionsergebnisse der offenbar sehr instruktiven Verantaltung. Sechs Texte beschäftigen sich im ersten Teil mit theoretischen und methodologischen Perspektiven der Filmsoziologie, darunter Markus Scherers Beitrag zu einer Soziologie des Visuellen und Rainer Winters Überlegungen zum postmodernenen Hollywoodkino und der kulturellen Politik der Gegenwart. Im zweiten Teil wird es konkreter. Unter der Überschrift „Angewandte Filmsoziologie“ geht es um einzelne, beispielhafte Filme (DAS WUNDER VON BERN  und den Fußballfilm als Heimatfilm, THE BOURNE IDENTITY, das Globalisierungswissen und die Identitätskrise, Jean Rouchs LES MAITRES FOUS als Darstellung von Kult und Ritualen), um das Fernsehen (die Filmästhetik des „Tatorts“ und das Sterben im Fernsehen), um Filmsoziologie in der DDR und um Geschlechternarrationen im jüngeren österreichischen Kinospielfilm. Die Themenauswahl wirkt noch etwas beliebig, aber in der Summierung wird eine Bewegung deutlich. So gesehen, wird auch Wissenschaftszukunft beschworen, wie sie der Titel verspricht.

Hans Steinhoff

Er hat 47 Spielfilme inszeniert, den ersten 1921 (KLEIDER MACHEN LEUTE), den letzten 1945 (SHIVA UND DIE GALGENBLUME,  unvollendet). In die deutsche Filmgeschichte ist Hans Steinhoff vor allem mit drei Titeln eingegangen: HITLERJUNGE QUEX (1933), ROBERT KOCH, DER BEKÄMPFER DES TODES (1939) und OHM KRÜGER (1941). Er gilt als Starregisseur der NS-Zeit, war ehrgeizig und endete dramatisch: bei einem Flugzeugabsturz am 20. April 1945.  Horst Claus (*1940) hat unfassbar genau recherchiert und viel Zeit investiert, um das Steinhoff-Leben so genau wie möglich zu erforschen. Akten, Biografien, Nachlässe, Briefe, Zeitungsartikel dienen ihm als Faktengrundlage. 1.440 Anmerkungen belegen die Quellen. Hat sich der Aufwand gelohnt? Ja und nein. Das Buch korrigiert so ziemlich alle Falschmeldungen und füllt alle Lücken, die es in der Steinhoff-Literatur bisher gab. Es ist gut geschrieben, es lässt sich auf die einzelnen Filme ein und vermittelt in neun „Exkursen“ wichtiges Hintergrundwissen. Aber: es verliert sich auch in Details, wirkt redundant und nach 540 Seiten fragt man sich: muss ich das wirklich alles wissen? Da mischen sich Bewunderung für den Fleiß und Verwunderung über eine so spezielle Informationssucht. Eine parallele Lektüre mit der Jannings-Biografie von Frank Noack (2012/11/emil-jannings/ ) ist nicht ohne Reiz, denn der Schauspieler war in drei Steinhoff-Filmen Hauptdarsteller. Noack, journalistisch geübt, kann besser komprimieren. Beeindruckend am Steinhoff-Buch, das vom Filmarchiv Austria publiziert wurde, ist die Druck- und damit auch die Bildqualität. Mehr über das Buch: filme-fuer-hitler.

Rosa 70

Morgen wird Rosa von Praunheim 70 Jahre alt. Dazu gratuliere ich ihm herzlich. Eigentlich feiert er seinen Geburtstag bereits seit vier Wochen. Er hat hart dafür gearbeitet, 70 neue Filme gedreht, die bei den Hofer Filmtagen uraufgeführt wurden, jetzt in seiner Begleitung durch die großen europäischen Städte touren und in einschlägigen Fernsehprogrammen (rbb, wdr, arte) gezeigt werden. Gestern fand eine Gala im Kino Babylon in Berlin statt, es wurde zunächst die wunderbare Hommage ROSAKINDER von Tom Tykwer, Chris Kraus, Julia von Heinz, Robert Thalheim und Axel Ranisch gezeigt, dann ausgelassen gefeiert, wie es für dieses Geburtstagskind angemessen ist. Heute wird im Haus am Lützowplatz die Ausstellung „Rosa von Praunheim: Rosen haben Dornen“ eröffnet. Am 29. erscheint sein neues Buch „Ein Penis stirbt immer zuletzt“ mit Zeichnungen, Gedichten und sieben Kurzgeschichten (www.martin-schmitz-verlag.de). Und die 70 Filme sind als DVD-Box erhältlich (www.basisfilm.de ). Rosa ist präsent, es gab eine schöne tip-Titelgeschichte, in allen Zeitungen wird er gefeiert. Über seinen 80. Geburtstag will er noch nicht sprechen.

Filmräume, Leinwandträume

Seit sieben Jahren stellen Psycho-analytiker im Filmhaus, dem kommunalen Kino der Stadt Saarbrücken, regelmäßig Filme ihrer Wahl vor, denen jeweils eine Analyse folgt. Die Reihe ist sehr erfolgreich und wird inzwischen von anderen Kommunalkinos nachgeahmt. 15 Filme werden im vorliegenden Buch beispielhaft aus psychoanalytischer Sicht interpretiert, darunter ein Stummfilm (ORLACS HÄNDE, 1924). Als Gruppenarbeit von Dozenten und Studenten wird der amerikanische Film SEVEN von David Fincher aufgeschlüsselt. Drei neuere deutsche Filme sind in der Auswahl dabei: DER HIMMEL ÜBER BERLIN von Wim Wenders, GEGEN DIE WAND von Fatih Akin und YELLA von Christian Petzold. Natürlich fehlt Hitchcocks SPELLBOUND nicht. Interessant fand ich auch die Analysen von JEREMIAH JOHNSON (Sydney Pollack) und UP IN THE AIR (Jason Reitman). Die Diplompsychologin Christine Pop ist als Koordinatorin der Reihe tätig. Man kann sich einen zweiten Band gut vorstellen. Mehr zum Buch: php?p_id=2206.

James Gray

Das Werk des amerikanischen Regisseurs umfasst gerade mal vier Filme, da braucht’s für ein Buch noch keine hundert Seiten. Aber eine Beschäftigung mit James Gray (*1969) lohnt sich. Reinhold Zwick, Theologe an der Uni in Münster, schreibt über LITTLE ODESSA (1994). Es geht um die Rückkehr des verlorenen Sohnes und um Gnade. David Gaertners Sequenzanalysen von THE YARDS (1999) öffnen die emotionalen Potentiale des Films. Herbert Schwaab nimmt die Verfolgungsjagd in WE OWN THE NIGHT (2007) zum Ausgangspunkt für eine Reflexion über die Inversion bei Gray. Silke Roesler-Keilholz untersucht die Medien-Räume in TWO LOVERS (2008) und verortet Gray im gegenwärtigen unabhängigen Kino der USA. Dazwischen: ein langes Interview mit dem Regisseur von Sascha Keilholz, in dem die Denkweisen und Arbeitsprinzipien deutlich werden. Mehr zum Buch: zwischen-naehe-und-distanz.html.

Emil Jannings

Diese Biografie war überfällig, denn Jannings war einer der großen Darsteller des deutschen Films, spielte Hauptrollen in vielen Klassikern des deutschen Stummfilms, eine Hollywood-karriere scheiterte mit Beginn des Tonfilms, er schaffte dann mühelos den Übergang vom Weimarer Kino zum NS-Film, hatte eine Nähe zu Hitler und Goebbels, war aber vor allem eins: ein Schauspieler mit hohen Ansprüchen an sich selbst, seine Autoren, Regisseure und Mitspieler. Ja, er war wohl der erste deutsche Weltstar, gehörte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu den Großen in Hollywood, erhielt als erster Schauspieler 1929 einen Oscar (die Statuette steht im Berliner Museum für Film und Fernsehen) und stellte sich in den 30er Jahren mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Naivität ins politische Zwielicht. Frank Noack (*1961), Filmpublizist in Berlin, hat das Leben von Jannings sorgfältig rekonstruiert, 773 Anmerkungen und Quellenverweise zeugen von einer intensiven Recherche. Stärken und auch Schwächen dieses Schauspielers werden an seinen wichtigsten Filmen herausgearbeitet. Das liest sich gut, vor allem wenn einem die vielen zitierten Personen und genannten Filme der Zeit vertraut sind, es kommt der Ambivalenz des Protagonisten sehr nahe und fordert so etwas wie eine späte Gerechtigkeit. Der Anhang enthält natürlich eine umfängliche Theatro- und Filmografie, Fotos in akzeptabler Qualität, aber kein Register. Das Titelbild gefällt mir, weil es gegen das Jannings-Klischee ausgewählt wurde.

Peter Greenaway

Micha Braun hat mit dieser Dissertation an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orient-wissenschaften der Universität Leipzig promoviert. Im Mittel-punkt der Untersuchung steht die seltsame Figur Tulse Luper, die in Greenayways Monumen-talwerk THE TULSE LUPER SUITCASES (2004) eine zentrale Rolle spielt, aber auch in anderen Filmen auftaucht. Luper, Experte für Vogelkunde, Landschaftsgestaltung und Kartografie, hat eine Vorliebe für Statistiken, Listen und Sammlungen, archiviert in 92 Koffern die seltsamsten Dinge, schreibt Essays, dreht Filme, zeichnet, und ist auch für seinen Schöpfer Greenayway eine ambivalente, vielleicht sogar obskure Figur. Da muss ein Autor mit einem komplexen Wissenschaftsverständnis und hoher Affinität zur Kunst an die Arbeit gehen, um in dem labyrinthischen Versteckspiel interpretierbare Befunde zu machen und dabei nicht den Überblick zu verlieren. Braun strukturiert, analysiert, stellt Vermutungen an und macht am Ende neugierig. Vor dieser Leistung habe ich großen Respekt, auch wenn mir viele Erkenntnisse fremd bleiben. Für Greenaway-Anhänger ist das Buch sicherlich Pflichtlektüre. Verlag: Transcript.