Filme analysieren und interpretieren

„Kompaktwissen XL“ heißt eine Buchreihe im Reclam Verlag, in der seit kurzem interessante Lehrangebote gemacht werden. Gerade erschienen ist der Band „Filme analysieren und interpre-tieren“ von Alain Ottiker, der zuletzt einen Lektüreschlüssel zu Franz Kafkas „Die Verwand-lung“ publiziert hat. Er fokussiert seine Analysen auf das Narrative (Dramaturgie der drei Akte, Alternativen zum Dreiakter, Montage), das Visuelle (Vor der Kamera: Mise en Scene, mit der Kamera: Mise en Cadre) und das Auditive (Musik, Geräusch, Sprache). Interessant und spannend wird die Lektüre durch die unendlich vielen Filmbeispiele, die vom Autor ins Spiel gebracht werden, oft unterschieden zwischen amerikanischem und europäischem Film. In „Infoboxen“ werden wichtige Informationen zusammengefasst. Mit zahlreichen Abbildungen in guter Qualität. Mehr zum Buch: Filme_analysieren_und_interpretieren

Topografie des Laiendarsteller-Diskurses

Eine Dissertation, die an der Filmuniversität Babelsberg entstanden ist. Anna Luise Kiss widmet sich darin fundamental einem Thema, das in der Film-wissenschaft eher marginal behandelt wird: der Funktion von Laiendarstellern im Kino-spielfilm. Ein erstes umfang-reiches Kapitel richtet den Blick auf „Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern in der Film-theorie“. Die Autorin wurde fündig bei Herbert Tannen-baum, Hugo Münsterberg, in der Debatte um Laiendarsteller im sowjetischen Filmwesen, bei Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, André Bazin, Robert Bresson. Sieben Zwischenfazits und fünf Fazits bringen ihre Erkenntnisse auf entscheidende Punkte. Im Hauptteil werden drei Filme unter dem Aspekt Laiendarstellung untersucht: LA TERRA TREMA (1948) von Luchino Visconti, NICHT VERSÖHNT – ODER ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT (1965) von Jean-Marie Straub und DIE ALLEINSEGLERIN (1987) von Herrmann Zschoche. Die Analysen sind beeindruckend in ihrer Genauigkeit. Im Fazit gibt es drei Formationen des Laiendarsteller-Diskurses: sie werden als „Darsteller ihrer selbst“, als „Performer“ und als „Naturtalente“ gesehen. Das Buch hat einen Umfang von 544 Seiten, es gibt 2.292 Quellenverweise. Man kann von einem Basiswerk zum Thema sprechen. Mit wenigen Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: book/9783658257569

DIE BLEIERNE ZEIT (1981)

Margarethe von Trotta hat in diesem Jahr den Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises erhalten. Ihr für mich stärkster Film ist DIE BLEIERNE ZEIT, für den sie 1981 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ und 1982 in Berlin mit dem „Filmband in Gold“ ausgezeichnet wurde. Der Film erzählt die Geschichte zweier Schwestern, nachem-pfunden dem Leben von Gudrun und Christiane Ensslin, Töchter eines evangelischen Pfarrers. Im Film heißen die Schwestern Juliane und Marianne. Juliane ist eher rebellisch, Marianne still und sanft. Das Elternhaus erleben sie als kalt, die Zeit der 50er Jahre als bleiern. In den 60er Jahren ändern sich die Konstellationen. Aus Juliane wird eine Journalistin, aus Marianne eine Terroristin. Sie begegnen sich mehrfach, zuletzt im Gefängnis in Stammheim. Dann meldet das Fernsehen den Tod von Marianne. Julianes Versuch, dies als Mord anzuprangern, scheitert. Der Film ist als Kammerspiel konzipiert, getragen von zwei heraus-ragenden Darstellerinnen: Jutta Lampe als Juliane, Barbara Sukowa als Marianne. Rückblenden erzählen Geschichten aus der Jugend der beiden Geschwister. Das Drehbuch stammte von Margarethe von Trotta., hinter der Kamera stand Franz Rath. Bei Studio Canal sind jetzt DVD und Blu-ray des aufwendig restaurierten Films erschienen. Mit einem umfangreichen Booklet und Interviews mit Margarethe von Trotta und Barbara Sukowa. Mehr zur DVD und Blu-ray: edition-blu-ray

WAS UNS NICHT UMBRINGT (2018)

Ihren Film BELLA MARTHA (2001) mit Martina Gedeck habe ich sehr geschätzt, ihre späteren Filme habe ich nicht gesehen. Der jüngste Film von Sandra Nettelbeck hat große Stärken und kleine Schwächen. Haupt-figur ist der Psychotherapeut Max, der viele Patienten hat und schließlich selbst in eine Krise gerät, als er sich in die spiel-süchtige Soundkünstlerin Sophie verliebt, die von ihren Beziehungsproblemen geheilt werden möchte. Man hat viel damit zu tun, all die interessanten Personen im Blick zu behalten, die hier kommen und gehen. Sie werden uns durch Darstellerinnen und Darsteller nahe gebracht, die wir alle gut kennen: August Zirner als Therapeut Max, Barbara Auer als seine Exfrau Loretta, Johanna ter Steege als Sophie, Jenny Schily als Tierpflegerin Sunny, Bjarne Mädel als ihr Kollege Hannes, Oliver Broumis als der schwule Pilot Fritz, Christoph Berkel als Bestatter Mark, Deborah Kaufmann als Schriftstellerin Isabelle, Mark Waschke als einsilbiger Patient Ben, Peter Lohmeyer als Sophies Freund David. Und nicht zuletzt ist immer wieder der schwermütige Hund zu sehen, den Max am Anfang aus dem Tierheim holt. Was mir nicht gefallen hat, ist die Musik, die sich zu häufig lautstark in den Vordergrund drängt und zu wenig Momente der Besinnung zulässt. Bei Alamode ist jetzt eine DVD des Films erschienen, die ich trotz einiger Vorbehalte gegen den Film empfehle. Zu den Extras gehören Interviews mit der Regisseurin und ausgewählten Darsteller*innen. Mehr zur DVD: was-uns-nicht-umbringt.html

Marvel Studios – Die illustrierte Enzyklopädie

Sie gehören zum Disney-Konzern und sind das wohl erfolgreichste Studio für Kinofilme. Ihr letzter Hit war AVENGERS: ENDGAME, der im April in die deutschen Kinos kam und bei uns inzwischen mehr als vier Millionen Besucher*innen hatte. Bei Dorling Kindersley ist jetzt eine Enzyklopädie zu den Marvel Studio-Filmen von Adam Bray erschienen, illustriert mit über tausend Fotos. Man findet dort Informationen zu den Helden und Heldinnen (Iron Man, Thor, Guardians of the Galaxy, Black Widow, Ant-Man, Black Panther, Captain America, Doctor Strange, Hulk), zu ihren Ausrüstungen (den geheimnisvollen Infinity-Steinen, Doctor Stranges schwebendem Umhang), den Schauplätzen (Tony Starks Hightech-Villa, das versteckte Königreich von Wakanda, die schwebende Stadt Asgard, das Flaggschiff von S.H.I.E.L.D, das Multiuniversum). Es sind eigene Welten, die sich hier öffnen, die Texte des Autors sind kompetent, die Abbildungen haben hervorragende Qualität. Mein persönlicher Lieblingsfilm der Marvel Studios ist GUARDIANS OF THE GALAXY (2014) von James Gunn, den wir damals in 3-D im Zoo-Palast gesehen haben. Aber viele Filme sind bisher an mir vorbeigegangen. Auf jeden Fall will ich noch AVENGERS: ENDGAME nachholen. Mehr zum Buch: enzyklopaedie-9783831036608

Filmförderungsgesetz

Eine Dissertation, die an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Wilhelms-Univer-sität Münster entstanden ist. Maria Kairies untersucht darin „Das Filmförderungsgesetz und seine Ansätze zur Steigerung der Eigenkapitalbasis deutschen Kinospielfilmproduzenten“. Das Filmförderungsgesetzt gibt es in der Bundesrepublik seit 1967, es wurde mehrfach novelliert regelt Voraussetzungen und Verfahren der Förderungsvergabe und ist Rechtsgrundlage für die Erhebung der Filmabgabe. Die Autorin hat ihr Buch in vier Kapitel strukturiert: „Begriffsbestimmungen“, „Die ökonomischen Rahmenbedingungen der Finanzierung von deutschen Filmproduktionen“, „Die Stärkung der Eigenkapitalbasis durch das Filmförderungsgesetzt“, „Fazit aus Ausblick“. Die historischen Entwicklungen werden sehr präzise rekapituliert, es gibt keine Konkretisierungen, aber das Buch kann dennoch als Basisliteratur betrachtet werden, das in der Branche beachtet werden sollte. Beeindruckend: die umfangreiche Literaturliste am Ende des Bandes. Mehr zum Buch: action=search&page=0

Kino der Moderne

Heute wird im Museum für Film und Fernsehen in Berlin die Ausstellung „Kino der Moderne“ eröffnet. Sie war zuvor in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen und wurde für Berlin neu adaptiert. Stärker wird jetzt das Wirken von Frauen hinter der Kamera berücksichtigt, das betrifft etwa die Produzentin Lilly Hegewald, die Regisseurin Leontine Sagan, die Anima-tionsfilmerin Lotte Reiniger. Die rund 350 Exponate stammen zumeist aus den Beständen der Kinemathek. Medieninstallationen erweitern den Horizont. Die Ausstellung ist bis zum 13. Oktober im Filmhaus am Potsdamer Platz zu sehen. Die Publikation zur Ausstellung war mein Filmbuch des Monats Januar: kino-der-moderne/. Mehr zur Ausstellung: film-der-weimarer-republik

Male am Zelluloid

Eine Dissertation, die an der Universität der Künste in Berlin entstanden ist. Olga Moskatova untersucht darin den „relationa-len Materialismus im kamera-losen Film“. Im Kern geht es um die künstlerische Bearbeitung von 35mm-, 16mm- und Super-8-Film. Die Filmografie am Ende des Buches nennt über 100 Titel, der älteste ist LE RETOUR A LA RAISON (1923) von Man Ray, der jüngste KONRAD & KURFÜRST (2013-14) von Esther Urlus. Man kann Filmmaterial künstlerisch zum Beispiel Scratchen, Verlichten, Collagieren, Inkorporieren, Destruieren, Zerstören, Generieren. In der Filmgeschichte sind dafür u.a. Stan Brakhage, Len Lye, Norman McLaren oder László Moholy-Nagy bekannt geworden. Heute verbinden sich diese Eingriffe mit Namen wie Gustav Deutsch, Cécile Fontaine, Johannes Hammel, Bill Morrison, Bärbel Neubauer, Jürgen Reble, James Schneider, Jennifer West. Die Autorin schlägt immer wieder den Bogen vom Damals zum Heute, konkretisiert die Eingriffe durch zahlreiche Beispiele, die sie handwerklich erklärt und künstlerisch interpretiert. Beeindruckend! Mit Abbildungen in guter Qualität. Cover: Filmstill aus MOONLIGHT (1997) von Bärbel Neubauer. Mehr zum Buch: number=978-3-8376-4671-9

VIVA ZAPATA! (1952)

Die mexikanische Geschichte war immer eng mit Aufständen und Gewalt verbunden. Daraus lassen sich interessante Stoffe für historische Filme gewinnen. VIVA ZAPATA! wurde vor 66 Jahren gedreht, das Drehbuch schrieb John Steinbeck, Regie führte Elia Kazan. Wir erleben den Aufstieg des mexikanischen Volkshelden Emiliano Zapata vom revolutionären Bauern zum Präsidenten der Republik und seine Ermordung 1919. Eine wichtige Rolle spielen Emilianos Bruder Eufemio und seine Frau Josefa. Das Wechselspiel von Macht und Aufstand, sozialen Konflikten und Korruption wird sehr spannend erzählt, die Besetzung ist heraus-ragend: Marlon Brando spielt Emiliano Zapata (er wurde dafür 1952 in Cannes als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet), Anthony Quinn seinen Bruder Eufemio (er erhielt dafür den Oscar als bester Neben-darsteller) und Jean Peters Emilianos Frau Josefa. Die Musik von Alex North hat viele Zwischentöne, die Kameraführung von Joseph MacDonald lässt auch poetische Momente spüren. Die Blu-ray der restaurierten Fassung ist jetzt bei Koch Media erschienen und macht den sehr sehenswerten Film in der bestmöglichen Form verfügbar. Mehr zur Blu-ray: viva_zapata_blu_ray/

WERK OHNE AUTOR (2018)

Der Film von Florian Henckel von Donnersmarck bekam im vergangenen Jahr nach seiner Kinopremiere im August beim Filmfestival in Venedig und im Oktober in Deutschland sehr unterschiedliche Kritiken, zum Teil wurde er heftig verrissen. Er erzählt, nahe an der Lebens-geschichte des Malers Gerhard Richter, ein Familiendrama, das Kindheits- und Jugenderinne-rungen an die NS-Zeit und die DDR verknüpft mit Ausbil-dungserlebnissen an der Kunstakademie Düsseldorf und der Liebe zur Tochter eines Arztes, der in der NS-Zeit schwere Schuld auf sich geladen hat. Das Drehbuch ist in der Tat etwas überfachtet mit Geschichtsverbindungen, die dramaturgischen Höhepunkte werden durch die Musik zu stark betont, aber die Darstellung fand ich hervorragend, vor allem Tom Schilling als Maler Kurt Banert, Paula Beer als Kunststudentin Ellie Seeband, Sebastian Koch als ihren Vater Prof. Carl Seeband, Lars Eidinger als Ausstellungsführer, Oliver Masucci und Hanno Koffler als Künstlerkollegen in Düsseldorf. Der Film dauert 189 Minuten, man kann verschiedene Zeitverbindungen kritisieren, aber insgesamt finde ich ihn beachtlich. Bei der Oscar-Verleihung (Nominiert für Kamera und bester fremdsprachiger Film) und beim Deutschen Filmpreis ging er leer aus. Bei Disney ist jetzt eine DVD des Films erschienen, den man durchaus gesehen haben sollte. Mehr zur DVD: B07J5LHWVV