18. August 2019
MESSER IM KOPF (1978)
Der Film von Reinhard Hauff kam vor rund 40 Jahren ins Kino und hat viele Qualitäten, die ihn bis heute sehr sehenswert machen. Ich nenne fünf herausragende künstlerische Leistungen: 1. Das Drehbuch von Peter Schneider, das mit großer Sensibilität verfasst wurde. Wir verfolgen den Über-lebenskampf des Biogenetikers Berthold Hoffmann, der bei einer Polizeirazzia in einem Jugendzentrum angeschossen und schwer verletzt wird. Nach dem Erwachen aus dem Koma scheint er das Gedächtnis verloren zu haben. Er gerät in den Verdacht, ein Terrorist zu sein. Hoffmanns wiederkehrende Erinnerung führt ihn auf den Weg der Wahrheitssuche, der bei dem Polizisten Schurig endet. Die Geschichte ist spannend bis zur letzten Sekunde. 2. Der Haupt-darsteller Bruno Ganz, der die schwierige Rolle des Biogenetikers durch alle Höhen und Tiefen seiner gefährdeten Existenz herausragend darstellt. 3. Die Kameraführung von Frank Brühne, der die gesellschaft-lichen Konflikte der späten 60er Jahre in präzise Bilder umsetzt. 4. Die Montage von Peter Przygodda, der uns die unterschiedlichen Gruppie-rungen vor allem aus dem Blickwinkel der Hauptfigur sehen lässt. 5. Die Regie von Reinhard Hauff, der mit herausragenden Schauspieler* innen zusammenarbeiten konnte; neben Bruno Ganz erleben wir Angela Winkler, Hans Christian Blech, Heinz Hoenig, Hans Brenner und Udo Samel (als Polizist Schurig). Bei Studio Canal ist jetzt eine digital restaurierte Fassung des Films als DVD erschienen. Zu den Extras gehört ein Gespräch mit Reinhard Hauff und dem Produzenten Eberhard Junkersdorf. Mehr zur DVD: messer_im_kopf-digital_remastered
17. August 2019
THE FAVOURITE (2018)
„Intrigen und Irrsinn“ heißt der deutsche Untertitel des Films von Yorgos Lanthimos, der im Januar bei uns in die Kinos kam und jetzt als DVD erschienen ist. Das Historiendrama spielt Anfang des 18. Jahrhunderts. Queen Anne regiert in England. Sie ist gebrechlich und auf Beratung angewiesen. Viele wollen ihre Freundin sein. Im Moment ist Sarah Churchill, die Herzogin von Marlborough, die Favoritin. So holt ihre Cousine Abigail Masham an den Hof, die einen weiten Weg zurücklegt, bis sie den Konkurrenzkampf mit Sarah gewinnt. Die Konflikte, meist hinter den Kulissen ausgetragen, kann man durchaus als Zickenkrieg bezeichnen. Im politischen Vordergrund steht der Krieg zwischen England und Frankreich. Drei große Darstellerinnen prägen den Film: Olivia Coleman als Queen Anne (sie gewann dafür den Oscar als beste Hauptdarstellerin), Rachel Weisz als Sarah Churchill und Emma Stone als Abigail Masham. Es gibt groteske Szenen (wenn Abigail auf dem Hof ankommt und als erstes in die Scheiße fällt), das Ambiente ist opulent, die Rituale wirken zuweilen absurd, aber man hält immer wieder den Atem an, wenn die Konfrontationen ausweglos erscheinen. Fritz Göttler hat eine sehr lesenswerte Kritik über den Film für die SZ geschrieben: 1.4298274. Mehr zur DVD: B07N32R91V
16. August 2019
Zazie in der Metro
Als ich 1961 den Film ZAZIE von Louis Malle gesehen und das Buch „Zazie dans le metro“ von Raymond Queneau in der Übersetzung von Eugen Hemlé gelesen habe, war ich noch nie in Paris. Mein erster Besuch fand 1963 statt. Film und Roman waren eine gute Vorbereitung für die Reise. Ein zwölfjähriges Mädchen kommt mit seiner Mutter in die französische Hauptstadt, die Mutter ist dort für einen Tag und zwei Nächte mit ihrem Liebhaber verabredet, die Tochter wird bei ihrem Onkel Gabriel deponiert. Zazies größter Wunsch ist es, einmal mit der Metro zu fahren, aber die wird bestreikt. Das vorlaute Mädchen lernt durch ihren Onkel viele Menschen kennen, erkundet die Stadt teils allein, teils in Begleitung ihres Onkels. Als sie am Ende ihre Mutter auf dem Bahnhof wiedersieht, gibt es den folgenden Dialog: Mutter: „Na, hast du Spaß gehabt?“ Zazie: „Geht so.“ „Hast du die Metro gesehen?“ „Nö.“ „Was hast denn dann gemacht?“ „Ich bin gealtert.“ Der Film von Louis Malle und der Roman von Raymond Queneau sind eigenständige Kunstwerke. Im Suhrkamp Verlag ist jetzt eine neue Übersetzung des Buches von Frank Heibert erschienen, die den sprachlichen Absurditäten des Originals sehr nahe kommt. Es empfiehlt sich, zuerst das Nachwort des Übersetzers zu lesen: „Frechheit siegt.“ Im Anhang gibt es verschiedene Szenen aus unpublizierten Manuskriptfassungen von Queneau. Einmal fährt Zazie tatsächlich mit der Metro. Mehr zum Buch: 42861.html
15. August 2019
Deutsche Filmarchitektur 1918-1933
Im Museum für Architektur-zeichnung auf dem Pfefferberg findet zurzeit die Ausstellung „Deutsche Filmarchitektur 1918-1933“ statt. Sie ist noch bis zum 29. September zu sehen. Gezeigt werden Originalentwürfe von sieben Architekten aus den Beständen der Stiftung Deutsche Kinemathek und des Deutschen Film-Instituts/Filmmuseums. Den Katalog zur Ausstellung (zweisprachig Deutsch/ Englisch) hat die Kuratorin Nadejda Bartels herausgegeben. Von ihr stammen das Vorwort und der informative Essay über Filmarchitektur und Zeitstimmung. Kristina Jaspers hat einen sehr reflektierten Text über „Künstlerische Positionen der Filmarchitektur“ geschrieben. Dietrich Neumann richtet den Blick beispielhaft auf Fritz Langs METROPOLIS. Auf 70 Seiten werden ausgewählte Entwürfe der Architekten Hermann Warm (DAS CABINET DES DR. CALIGARI), Hans Poelzig (DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM und ZUR CHONIK VON GRIESHUUS). Robert Herlth (FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE), Otto Hunte (DIE NIBELUNGEN, DER BLAUE ENGEL), Erich Kettelhut (DIE NIBELUNGEN, METROPOLIS), Franz Schroedter (PIQUE DAME – DAS GEHEIMNIS DER ALTEN GRÄFIN und NUR EINE TÄNZERIN) und Emil Hasler (M) dokumentiert. Die Qualität der Abbildungen ist sehr gut. Cover-Abbildung: Entwurf zu METROPOLIS. Mehr zur Ausstellung und zum Buch: 10-0-Ausstellungen.html
14. August 2019
Revolver 40
Die Zeitschrift Revolver wurde 1998 gegründet, sie hat eine politische Grundierung, lässt vor allem Filmschaffende in Interviews zu Wort kommen und erscheint zweimal jährlich im Verlag der Autoren. Jetzt gibt es die Nr. 40 mit vier größeren Beiträgen. Ben Gibson, Direktor der DFFB, hat ein Gespräch mit der griechischen Filmemacherin Athina Rachel Tsangari geführt. Von Claudia Lenssen ist der Text „Liste des Unverfilmten“ dokumentiert, der 1983 in dem Buch „Bestandsaufnahme: Utopie Film“, herausgegeben von Alexander Kluge, zu lesen war. Besonders interessant finde ich das Gespräch mit Ulrich Gregor, Susanne Heinrich und Thomas Heise von Nicolas Wackerbarth und Marcus Seibert, das im Juni 2018 nach der Vorführung des Films REQUIEM FÜR EINE FIRMA anlässlich der Buchpräsentation „Filmfunke – 50 Jahre DFFB“ im Kreuzberger Buchladen b_books stattgefunden hat. Ulrich Gregor war Dozent an der DFFB in den frühen Jahren, Susanne Heinrich studiert zur Zeit an der DFFB, Thomas Heise erzählt von seinen Erfahrungen an der Filmhochschule in Babelsberg. Der vierte Beitrag ist ein Gespräch von Marco Abel mit dem Filmemacher Klaus Lemke aus dem Jahr 2014, mit dem typischen Lemke-Sound. Die Abbildungen zeigen Filmgesichter in empathischen Momenten. Mehr zur Zeitschrift: www.revolver-film.com
13. August 2019
Alfred Hitchcock
Heute ist sein 120. Geburtstag zu feiern. Im Fernsehen wird dies mit der Ausstrahlung ausgewählter Filme getan. In den Zeitungen sind Texte zu lesen, in denen er gewürdigt wird. Da fast alle seine Filme auf DVD verfügbar sind, kann man auch eine persönliche Auswahl treffen. Oder ein Buch zur Hand nehmen, das in angemessener Weise an den großen Regisseur erinnert. Im Mühlbeyer Verlag ist gerade das lesenswerte Buch „Hitchcock – Angstgelächter in der Zelle“ von Ingo Kammerer erschienen. Der Autor arbeitet als Akademischer Rat an der Universität Augsburg, hat eine Dissertation über Genrefilme im Deutschunterricht verfasst und ist mit dem Werk von Hitchcock bestens vertraut. Drei Kapitel strukturieren seine Publikation: I. Referenzen – Schöpfung des Zuschauers, II. Prinzipien – Reinheit im Genrekino, III. Tendenzen – Muster und Spuren. Im dritten, umfangreichsten Kapitel geht der Autor auf 23 Filme genauer ein. Seine Stichworte sind dabei Schnittmuster, Bewegung, Bühne, Dressur, Dopplung, Untergang, Musterschnitt. Der abschließende Text ist dem Film PSYCHO gewidmet. Der erste und der letzte Satz des Buches lauten „Filme sind kuriose Erscheinungen.“ Kammerers Passage durch Hitchcocks Werk hat eine persönliche Grundierung, verweist aber immer wieder auf die unterschiedlichsten Texte, die in einer Literaturliste aufgeführt sind. Eine gelungene Publikation zum runden Geburtstag. Mit wenigen kleinen Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: angstgelaechter-in-der-zelle.html
11. August 2019
Western-Legenden 59 und 60
In der Reihe der Western-Legenden bei Koch Media ist jetzt der vierte Film von Budd Boetticher schienen: AUF EIGENE FAUST (1959), im Original: RIDE LONESOME. Wieder spielt Randolph Scott den einsamen Rächer. Diesmal heißt er Ben Brigade, seine Frau wurde von dem Banditen Frank (Lee Van Cleef) vergewaltigt und erhängt, er ist auf der Suche nach ihm. Zunächst findet er dessen Bruder John, auf den eine Kopfgeldprämie ausgesetzt ist. Ben nimmt ihn gefangen und macht sich, begleitet von zwei Ganoven und Carrie, der Frau eines Stationsleiters, der von den Apachen umgebracht wurde, auf den Weg nach Santa Cruz, um die Prämie zu kassieren. Unterwegs trifft er auf Frank und erhängt ihn. Obwohl er sich in Carrie verliebt hat, reitet er am Ende allein in die Ferne. Gedreht in Farbe und Scope. Ein beeindruckender Western mit einem starken Darstellerteam. Mehr zur DVD: legenden_59_dvd/
Bei dem Film SECHS SCHWAR-ZE PFERDE (1961) hat Harry Keller Regie geführt. Die Story: Ben Lane (Audie Murphy) soll wegen Pferdediebstahls aufge-hängt werden, Frank Jesse (Dan Duryea) rettet ihn davor. Die beiden werden von der at-traktiven Kelly (Joan O’Brien) angeheuert, sie nach Santa Rita de Cobre zu bringen. Unterwegs stellt sich heraus, dass Jesse den Mann von Kelly umgebracht hat. Die Konflikte auf der Reise eskalieren. Das Drehbuch hat – wie beim Boetticher-Film – Burt Kennedy geschrieben. Die Dramaturgie sorgt für 80 spannende Minuten. Exzellent sind die Landschaftsaufnahmen. Zu den Extras gehört ein Booklet. Mehr zur DVD: legenden_60_dvd/
10. August 2019
EIN KÖNIGLICHER TAUSCH (2017)
Ein Historienfilm. Wir befinden uns im Europa des frühen 18. Jahrhunderts. Frankreich und Spanien bemühen sich um ein friedliches Nebeneinander. Da könnte es hilfreich sein, die Monarchien durch Vermäh-lungen zu verbinden, auch wenn die davon Betroffenen noch relativ jung sind. Der elfjährige französische König Ludwig XV. soll die Tochter des spanischen Königs, die vierjährige Infantin Maria Anna Victoria heiraten, die zwölfjährige Tochter des Herzogs Philipp von Orleans, Louise-Élisabeth, soll den vierzehnjährigen spanischen Thronfolger Don Luis ehelichen. Die diplomatischen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen verlaufen erfolgreich, es kommt zum Prinzessinnenaustausch an der Grenze, aber die dann folgenden Konflikte haben erstaunliche Dimensionen und sind spannend zu beobachten. Der Film von Marc Dugain – nach einem Roman von Chantal Thomas – ist ein beeindruckendes Bild der Zeit mit manchen Bezügen zur Gegenwart. Es gibt malerische Momente, interessante Rituale und komische Situationen. Vor allem die Darstellerinnen von Maria Anna Victoria (Juliane Lepoureau) und Louise-Élisabeth (Anamaria Vartolomei) sind herausragend. Bei Alamode ist jetzt eine DVD des Films erschienen, die unbedingt zu empfehlen ist. Zu den Extras gehören Interviews mit dem Regisseur Marc Dugain und dem Schauspieler Lambert Wilson. Mehr zur DVD: ein-koeniglicher-tausch.html
09. August 2019
Filmgeschichte als Kinogeschichte
Über die Zukunft des Kinos wird viel nachgedacht. Lars-Henrik Gass, seit 22 Jahren Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, tut dies auf hohem Niveau. Vor sieben Jahren erschien sein Buch „Film und Kunst nach dem Kino“, vor zwei Jahren noch einmal in überarbeiteter Form. Sein neues Buch hat den Unter-titel „Eine kleine Theorie des Kinos“. Gass definiert Kino als „eigenständige gesellschaftliche Wahrnehmungsform“, als „mentalen Raum“, in dem man, „in der Zeit verloren, zur Wahrnehmung gezwungen ist“. Um dies zu konkretisieren, erinnert er an Umbruchphasen in der Filmgeschichte, beginnend mit Slapsticks von Fatty Arbuckle und Buster Keaton: „Der Slapstick ist die Zumutung einer zerstörerischen Begegnung zwischen dem Auge und einer Materie vor ihrer sozialen Bestimmung. Die Beziehungen beruhen nicht auf Arbeit, nicht auf Wertschöpfung, sondern auf unentfremdeter Produktion.“ (S. 32). Der zweite Umbruch ist der frühe Tonfilm. Als Beispiele dienen Gass VAMPYR von Carl Theodor Dreyer, KING KONG von Merian C. Cooper & Ernest B. Schoedsack und LIEBELEI von Max Ophüls. Seine Beschreibungen von Bild und Ton sind beeindruckend. Dritte Phase: New Hollywood. Hier sind es vor allem vier Filme, auf die Gass genauer eingeht: PAT GARRETT AND BILLY THE KID von Sam Peckinpah, THE LAST MOVIE von Dennis Hopper, TAXI DRIVER von Martin Scorsese und THE PARALLAX VIEW von Alan J. Pakula. Sein Fazit: „Die Randständigkeit, das Verschwinden schließlich des Stars im Film, die Verrätselung der Räume des Films spiegeln die gesellschaftliche Marginalisierung , die Ohnmacht des politischen Subjekts außerhalb des Kinos, für das gut und böse, richtig und falsch nicht mehr auseinanderzuhalten sind, nachdem seine politischen Repräsentanten die US-amerikanischen Grundwerte verraten haben.“ (S. 76). Das Kapitel „Vom Ende des Kinos“ hat zwei Protagonisten, Dario Argento & Steven Spielberg, und schließt mit einem Blick auf Karen Bigelow. Das Nachwort „Irgendwas mit Medien“ ist kurz und resignativ. Die Lektüre des Buches, das bei Spector Books erschienen ist, sollte dennoch nicht mutlos machen. Mehr zum Buch: filmgeschichte-als-kinogeschichte
08. August 2019
Put the X in PolitiX
Der Band dokumentiert fünf Beiträge einer Tagung, die im November 2017 im Depot – Raum für Kunst und Diskussion in Wien stattgefunden hat. Sie wurde vom Herausgeber Drehli Robnik konzipiert. Das Thema: Machtkritik und Allianzdenken mit den X-Men-Filmen. Es gibt seit 2000 sieben X-Men-Filme und einige Mutanten, die auch behandelt werden. Ulrike Wirth beschäftigt sich mit den „Children of (X-)Men“. David Auer richtet seinen Blick auf „Mutants als Friends der Fans im Popkulturrefugium“. Tobias Ebbrecht-Hartmann entdeckt „Visuelle Erinnerungen an den Holocaust im X-Men-Universum“. Bei Drehli Robnik geht es um „Film-Wahrnehmung von Politik als Mitnahmen mit Namen der Geschichte“, sein Text hat den sprachspielerischen Titel „Logan des Sinns, Slogans der Politik, Le(h)nsherr’ Lens und Laclau’sche Klauen“. Von Karin Harrasser stammt ein Beitrag zu körperpolitischen Variablen („Ein X für ein X“). Alle Texte haben hohe Kompetenz in der Sache und eine große Nähe zum Genre. Mit Abbildungen in sehr guter Qualität. Erschienen im Neofelis Verlag. Mehr zum Buch: put-the-x-in-politix?c=358