Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Dezember 2020

Bert Rebhandl
Der permanente Revolutionär
Wien, Paul Zsolnay 2020
286 S., 25,00 €
ISBN 978-3-552-07209-1

Bert Rebhandl:
Jean-Luc Godard.
Der permanente Revolutionär

„Der permanente Revolutionär“ heißt die Biografie von Bert Rebhandl im Untertitel. Sie ist zum 90. Geburtstag von Jean-Luc Godard erschienen und öffnet den Blick auf Leben und Werk des französischen Regisseurs. Er hat seit 1954 weit über 100 Filme gedreht, der kürzeste dauert 34 Sekunden (ein Werbefilm für Zigaretten), der längste 623 Minuten (eine TV-Serie).

Geboren in Paris als Sohn wohlhabender Eltern, aufgewachsen in der Schweiz am Genfer See, begann Godard 1949 ein Ethnologie-Studium in Paris, spielte 1950 die Hauptrolle in Jacques Rivettes Kurzfilm LE QUADRILLE, lernte Henri Langlois, den Leiter der Cinémathèque française, und André Bazin, den Mitbegründer der Zeitschrift Cahiers du Cinéma, kennen, war ein manischer Kinobesucher, schrieb Texte, klaute Geld aus der Cahiers-Kasse und floh 1952 aus Paris in die Schweiz, wo er 1954/55 seine ersten Kurzfilme drehte. 1956 kehrt er nach Paris zurück, verfasst Texte für die Cahiers und die Zeitschrift Arts, bringt 1959 seinen Kurzfilm TOUS LES GARÇONS S’APPEL-LENT PATRICK (CHARLOTTE ET VÉRONIQUE) in die Kinos und bereitet seinen ersten langen Spielfilm vor. „Moderne Zeiten“ (1950 bis 1959) heißt das erste Kapitel der Biografie von Bert Rebhandl.

Insgesamt sieben Kapitel bilden die Struktur des Buches: II. Pop-Art (1959 bis 1967). III. Revolutionskino (1967 bis 1973). IV. Video, ergo sum (1973-1980). V. Der Idiot des Kinos (1980 bis 1996). VI. Der Partisan der Bilder (1997 bis 2020). VII. Fröhliche Wissenschaft. Damit folgt der Autor den Lebensphasen von JLG im Blick auf sein künstlerisches Werk. In den 1960er Jahren gehörte er mit François Truffaut, Jacques Rivette, Claude Chabrol und Eric Rohmer zu den Hauptvertretern der Nouvelle Vague. 1968 radikalisierte er sich politisch, wurde zum Marxisten/Maoisten, arbeitete eng mit Jean-Pierre Gorin in der „Groupe Dziga Vertov“ zusammen, erlitt 1971 einen schweren Motorradunfall, begann eine Lebensgemeinschaft mit Anne-Marie Miéville, wechselte 1973 zum Medium Video und zog nach Grenoble. In diesem Jahr zerbrach auch die Freundschaft mit François Truffaut.

Bert Rebhandls Biografie bewegt sich weitgehend chronologisch durch die realisierten oder gescheiterten Projekte von JLG, beschreibt sie mit der notwendigen Genauigkeit, ist mit den Hintergründen vertraut und macht deutlich, wie eigenwillig sein Protagonist alle formalen und technischen Heraus­forderungen für seine Arbeit nutzt. Dies setzt sich auch fort, wenn JLG 1980 mit SAUVE QUI PEUT (LA VIE) zum Kino zurückkehrt und dann mit Isabelle Huppert, Michelle Piccoli, Juliette Binoche und Alain Delon zusammenarbeitet.

Drei Projekte prägen die 90er Jahre: der Deutschlandfilm ALLE-MAGNE NEUF ZÉRO (1991), die Selbstbetrachtung JLG/JLG (1994) und die TV-Serie HISTOIRE(S) DU CINÉMA (1988-98). Schön zu lesen: die Anmerkungen von Hanns Zischler zur Zusammenarbeit mit Godard, Rebhandls Würdigung der HISTOIRE(S) ist sehr differenziert, verweist auf das Wechselspiel zwischen Text und Bildern, sieht die publizierten Bücher und die gesendeten Fernsehfolgen als Gesamt-kunstwerk.

In der letzten Phase bis 2020 haben fünf Werke eine größere Bedeutung: ELOGE DE L’AMOUR (2001), die Schlüsselerlebnisse der Liebe von drei Paaren unterschiedlichen Alters, NOTRE MUSIC (2004), eine Reflexion über Gewalt und Moral im Blick auf den Kolonialismus und den israelisch-palästinensischen Konflikt, FILM SOCIALISME (2010), ein Bild- und Gedankenspiel über Europa, ADIEU AU LANGAGE (2014), die Erkundungen des Hundes Roxy am Genfer See, und LE LIVRE D’IMAGE (2018), ein Essay über Krieg, Revolution und Kunst in den vergangenen zwei Jahrhunderten.

Die große Stärke von Rebhandls Text sind Beschreibungen und Interpretationen, die sich aus der Präsenz der Filme entwickeln und uns an ihnen teilhaben lassen, auch wenn wir viele nicht gesehen haben. Sie bekommen eine Anschaulichkeit, weil sie subjektiv, aber präzise in Inhalt und Form zu Papier gebracht sind. Das ist bei einem so umfangreichen Werk eine besondere Leistung.

Der Anhang enthält eine Filmografie, eine relativ kurze Literaturliste und eine Zeittafel zur JLG-Biografie.

In der Literaturliste vermisse ich den Erinnerungsroman „Paris, Mai 68“ von Anne Wiazemsky, der damaligen Ehefrau von JLG, der bei Wagenbach auf Deutsch erschienen ist und mein Fillmbuch des Monats Mai 2018 war: paris-mai-68/

Eine lesenswerte Rezension der Biografie von Bert Rebhandl hat Georg Seeßlens in epd Film publiziert: zum-90-geburtstag-von-jean-luc-godard

Mehr zum Buch: jean-luc-godard/978-3-552-07209-1/