Anne Wiazemsky:
Paris, Mai '68.
Ein Erinnerungsroman

Anne Wiazemsky erzählt in dem „Erinnerungsroman“ ihre persön-lichen Erleb­nisse der Jahre 1968/69. Sie hatte 1967 die Hauptrolle in dem Film LA CHINOISE von Jean-Luc Godard gespielt und den Regisseur geheiratet. Das Paar führte in der Folgezeit parallele Leben, sie drehte mit anderen Regisseuren, er wollte sich politisch engagieren und geriet künstlerisch in eine Krise. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Ereignisse in Frankreich. Sie werden von der Autorin eng mit ihrer Berufs- und Beziehungsgeschichte verbunden.

Die zwanzigjährige Anne und der 17 Jahre ältere Jean-Luc hatten zu Jahres­beginn eine neue Wohnung im Quartier Latin bezogen, im Februar war Henri Langlois als Präsident der Cinémathèque von der Regierung abgesetzt worden, es gab eine Protestdemonstration, die von der Polizei militant aufgelöst wurde, Anne hatte in dem Film LE GAULOISES BLEUES von Michel Cournot mitge­spielt, der in Cannes uraufgeführt werden soll, und dreht jetzt den Film LA BANDE À BONNOT, Jean-Luc montiert seinen Film LE GAI SAVOIR. Eng befreundet sind die beiden mit Michèle Rosier und Jean-Pierre „Bambam“, einem Ehepaar aus der Textilbranche. In Paris eskalieren die Demonstrationen der Studenten. Das ist die Ausgangssituation des Romans.

Mit großer Empathie und hoher Sensibilität erzählt die Autorin von den dramatischen Tagen und Nächten in Paris, von ihrer Reise nach Südfrankreich, wo sie zunächst allein in einer Luxusvilla wohnt, bis auch Jean-Luc eintrifft, vom Abbruch des Festivals in Cannes und den Schwierigkeiten, nach Paris zurückzu­kommen, weil Benzinmangel herrscht und großes Organisationstalent gefordert ist. Dann geht es nach London, wo Jean-Luc mit den Rolling Stones den Film ONE PLUS ONE dreht. Anne spielt hier die Symbolfigur Ève Démocratie. In Rom trifft Anne Bernardo Bertolucci, der sie für seinem Film IL CONFORMISTA gewinnen möchte. Im Herbst fahren Anne und Jean-Luc nach New York, wo es zu einer kurzen Zusammenarbeit mit den Dokumentaristen D. A. Pennebaker und Richard Leacock kommt. Während das Projekt mit Bertolucci scheitert, kommt es in Italien zu ein Engagement bei Marco Ferreri, was Jean-Luc in den Wahnsinn treibt, weil er Ferreri verachtet. Ihre Trennung dauert über ein Jahr. Der letzte Satz des Romans lautet: „Ich werde nicht davon schreiben.“

Anne Wiazemsky, geboren 1947 in Berlin, spielte ihre erste Filmrolle 1966 in Robert Bressons Film AU HASARD BALTHASAR. Davon handelt der erste Teil ihres Erinnerungsromans, „Jeune fille“, auf Deutsch erschienen 2009 im Beck Verlag. Ihre schauspielerische Karriere war instabil und endete in den 1980er Jahren. Dann wechselte sie den Beruf und wurde Schriftstellerin. Ihr letztes Buch war „Un an après“ (2015), das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Anne Wiazemsky starb am 5. Oktober 2017 in Paris.

Das Wunderbare an diesem Buch sind seine Wendungen, die Fülle von Nuancen, die authentische Schilderung der politischen Proteste und die sensibel erzählten Gefühle der Protagonistin. Immer wieder tauchen Figuren auf, die prominent sind, aber hier als Freunde erscheinen: der Philosoph Gilles Deleuze, die Regisseure François Truffaut und Jacques Rivette, Pier Paolo Pasolini und Chris Marker. Mit Paul McCartney sitzt Anne einmal unter dem Tisch und trinkt Tee. Daniel Cohn-Bendit ist ihr „anarchistischer Kamerad Dany aus Nanterre“. Aber der Blick richtet sich auch auf Unbekannte, auf Nebenfiguren, die im Auf und Ab der Ereignisse eine wichtige Rolle spielen. Und, natürlich, ist es spannend und berührend zu lesen, welchen Stimmungsschwankungen Jean-Luc Godard in jenen Jahren unterworfen war, wie er sich in politischen Konflikten verhielt und was ihm seine Filmarbeit bedeutete, zeitweise: nichts.

Es ist sehr zu loben, dass dieses Buch jetzt in deutscher Übersetzung im Wagenbach Verlag erschienen ist.

Coverabbildung: Filmstill aus LA CHINOISE.

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