Texte & Reden
13. April 2020

King Vidors Blick auf die Realität

Text für den Katalog

King Vidor kann als der Inbegriff eines Hollywood-Regisseurs gelten: Er realisierte aufwendige Historiendramen, legendäre Literaturverfil-mungen, packende Western, berührende Melodramen und hinreißende Komödien, er arbeitete über mehr als vier Jahrzehnte hinweg mit den berühmten Stars der jeweiligen Zeit, wurde von den Verantwortlichen der großen Studios hoch geschätzt und von seinem Publikum verehrt. Zugleich zeigte Vidor im Verlauf seiner gesamten Karriere stets großes Interesse an Fragen der aktuellen Zeitgeschichte und der sozialen Realität in den USA – an Themen, die in der „Traumfabrik“ eher aus-geklammert wurden. Um die Filme, in denen diese Haltung King Vidors besonders zum Ausdruck kommt, soll es im Folgenden gehen. Vielleicht mehr als für andere seiner Werke gilt, was der Regisseur rückblickend formulierte: „Ich habe immer versucht, in meinen Filmen eine Verbindung mit dem Leben selbst herzustellen.“ 1

Im September 1980 habe ich King Vidor im Zusammenhang mit einem Filmprojekt gemeinsam mit Heide Breitel und Klaus Feddermann in Beverly Hills besucht. Wir konnten zwei Stunden lang mit ihm über seine Filme sprechen. Seine Erinnerungen waren konkret und detail-liert, er hatte ein selbstbewusstes Verhältnis zu seiner Arbeit, wirkte nachdenklich, ein bisschen distanziert, aber sehr freundlich und signierte am Ende seine Autobiografie A Tree Is a Tree aus dem Jahr 1954, die wir mitgebracht hatten. Einige Zitate von ihm im folgenden Text stammen aus jenem Gespräch.

Vidor, Sohn eines wohlhabenden Holzhändlers, war neunzehn, als er 1913 zusammen mit einem Freund seinen ersten Kurzfilm drehte: HURRICANE IN GALVESTON. Mit diesem kurzen Dokumentarfilm über einen der in seiner texanischen Heimatstadt nicht seltenen Stürme griff er ein dramatisches Ereignis seiner frühen Kindheit auf: die als ‚Great Galveston Hurricane’ bekannt gewordene Naturkata-strophe vom September 1900, die Tausende von Menschenleben gefordert und große Verwüstungen angerichtet hatte. Für die ameri-kanische Wochenschau Mutual Weekly dokumentierte Vidor 1914 in Houston eine Militärparade mit mehr als elftausend Soldaten, die auf dem Weg nach Mexiko waren. Ebenfalls 1914 folgten unter anderem BEAUTIFUL LOVE und THE HEROES, zwei Kurzfilme des Regisseurs und Darstellers Edward Sedgwick, bei denen Vidor als Autor und – im Fall des erstgenannten Titels – auch als Darsteller mitwirkte. In dem 1915 mit John Boggs als Co-Regisseur gedrehten kurzen Dokumentar-film über die Herstellung von Zucker in Houston wirkte auch King Vidors erste Ehefrau, die Schauspielerin Florence Vidor, geborene Arto, mit.

Mit ihr zusammen zog er noch im gleichen Jahr nach Hollywood – ein Amateur hatte sich professionalisiert, nun wollte er sich neuen Herausforderungen stellen. Schnell fand er eine Beschäftigung als Kameramann, Florence bekam inter­essante Rollen als Darstellerin.

Im April 1917 traten die USA unter Präsident Woodrow Wilson in den Ersten Weltkrieg ein. Nach Kriegsende lehnte der US-Kongress jedoch den mit dem Versailler Vertrag verbundenen Beitritt zum Völkerbund ab; in der Konsequenz zogen sich die Vereinigten Staaten politisch wieder aus Europa zurück. Wilsons republikanische Nachfolger Warren G. Harding und Calvin Coolidge betrieben eine isolationistische Außen-politik und setzten ihre Schwerpunkte stärker in der Innenpolitik. Die positive wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum der Städte, die verstärkte Industrialisierung prägten das Klima des Landes. Davon profitierte auch die Filmmetropole Hollywood. Viele der in den 1910er Jahren gegründeten Produktionsfirmen fusionierten und vergrößerten sich. Nach Universal (1912), Fox (1915) und United Artists (1919) entstanden auf diese Weise Warner Brothers Pictures (1923), Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) und Columbia Pictures Corporation (beide 1924), die Paramount Famous Lasky Corporation (1927) sowie RKO Radio Pictures (1929). Auch King Vidor gründete 1919/20 eine eigene Firma – Vidor Village – in Hollywood, die er aber aufgab, als er 1922 einen Vertrag mit den MGM-Studios abschließen konnte.

Zunächst aber realisierte er im Jahr 1918 zehn von dem ehemaligen Jugendrichter Willis Brown (›Judge Brown‹) produzierte Kurzfilme, ein Jahr darauf dann seinen ersten langen Spielfilm als Regisseur und Autor: THE TURN IN THE ROAD. Erzählt wird die in der amerika-nischen Provinz angesiedelte Familiengeschichte des reichen Eisen-herstellers Hamilton Perry (George Nichols). Sein Sohn Paul (Lloyd Hughes) verlässt die Familie, nachdem seine Frau bei der Geburt eines Kindes gestorben ist. Er hadert mit seinem christlichen Glauben und findet Unterschlupf in den Slums von Chicago. Jahre später kehrt er in seine Heimat, zu seiner Familie zurück.

Der Film gilt als verloren, aus zeitgenössischen Kritiken weiß man, dass die Handlung eng an die damalige gesellschaftliche Realität angelehnt ist: Der Regisseur inszeniert die zentralen Szenen des Films anschau-lich und realistisch, mit einer Vielzahl von Details des täglichen Lebens, die die Handlung überzeugend wirken lassen.“2 Charak- teristisch für viele seiner späteren Werke ist die bereits hier angelegte Thematisierung von religiösen bzw. Glaubensfragen in Verbindung mit der Schilderung persönlicher Konflikte und gesellschaftlicher Gegensätze

Als Ausgangspunkt des kurz darauf entstandenen Stummfilms THE OTHER HALF (1919) wählte Vidor – hier erneut Drehbuchautor und Regisseur – die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Ansichten des Industriellensohns Donald Trent (Charles Meredith): Nachdem dieser mit seinem Freund Jimmy (David Butler) aus dem Kriegseinsatz in Frank­reich zurückgekehrt ist, wird er zunächst Fabrikarbeiter, weil er nicht mehr an die Gültigkeit von Klassenunterschieden glaubt. Als sein Vater (Alfred Allen) stirbt, übernimmt er die Leitung von dessen Firma. In der neuen Rolle vergisst er seine Ideale schnell. Doch als Jimmy durch einen von Donald verschuldeten Arbeitsunfall kurzzeitig erblindet und die Fabrikarbeiter in einen Streik treten, findet er zurück zu seiner Solidarität mit den Armen. Dabei haben die selbstbewussten Partnerinnen von Donald und Jimmy, dargestellt von Florence Vidor und ZaSu Pitts, Schlüsselfunktionen inne, die der Story zu einem glücklichen Ende verhelfen.

Zwischen 1919 und 1925 drehte er einundzwanzig Melodramen und Komödien. Von seiner Frau Florence, die in mehreren dieser Filme als Hauptdarstellerin mitwirkte, ließ er sich 1924 scheiden. Der aufstre-bende Regisseur war inzwischen unzufrieden mit der fließbandartigen Herstellung seiner Filme, die, kaum uraufgeführt, jeweils schnell wieder aus den Kinos verschwanden. In seiner Autobiografie berichtet Vidor, dass er 1924 Irving Thalberg, den Produktionschef von MGM, von einem Projekt über den wenige Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg überzeugen konnte: THE BIG PARADE. Die Story des Films stammt von dem Journalisten und Autor Laurence Stallings, der infolge einer Kriegsverletzung ein Bein verloren hatte und kurz zuvor mit seinem – später auch verfilmten – Theaterstück What Price Glory (1924, Co-Autor: Maxwell Anderson) bekannt geworden war. In seinen Lebenserinnerungen fasste Vidor zusammen, was ihm bei diesem Film vorschwebte: „Es sollte die Geschichte eines jungen Amerikaners sein, der weder übermäßig patriotisch noch ein Pazifist war, der in den Krieg zog und normal auf alles, was ihm widerfuhr, reagierte.“3

Der Protagonist heißt James Apperson (John Gilbert), ist der Sohn eines Fabrikanten (Hobart Bosworth) und meldet sich 1917 freiwillig für den Kriegseinsatz in Frankreich. Im Ausbildungslager freundet er sich mit dem Stahlarbeiter Slim Jensen (Karl Dane) und dem Bar-keeper Michael ›Bull‹ O’Hara (Tom O’Brien) an. Die überstürzte Reise nach Frankreich endet für die die drei auf einem Bauernhof in dem Dorf Champillon, wo sie auf ihre Verlegung an die Front warten. Jim, dessen Verlobte Justyn (Claire Adams) zu Hause auf ihn wartet, verliebt sich in das Bauernmädchen Mélisande (Renée Adorée), sie erwidert seine Zuneigung. Als die Truppen schließlich zum Kriegs-schauplatz transportiert werden sollen, fällt der Abschied beiden schwer. Das Aufeinandertreffen mit der deutschen Armee – zuerst in einem Wald voller Hinterhalte, dann auf einer Ebene mit Gräben und Maschinengewehrstellungen – verläuft verlustreich. Das erste Opfer ist Slim, er wird erschossen. Dann fällt Bull. Jim verliert sein linkes Bein. Er kehrt zunächst nach Amerika zurück, bevor er sich schließlich erneut auf den Weg nach Frankreich macht, wo er Mélisande wiederfindet.

Rund sechzig Minuten des mehr als zweistündigen Films widmet King Vidor der Schilderung des Aufenthalts von Jim, Slim und Bull in Champillon. Dabei gibt es komische Momente, wenn zum Beispiel Slim und Bull in einen Weinkeller eindringen und sich betrinken. Die schönste Einstellung – sie ist mehrere Minuten lang – zeigt Jim und Mélisande, die sich, ohne Worte, weil sie die Sprache des anderen nicht verstehen, beim Probieren eines Kaugummis nahe kommen.4 Die Bilder dieser Sequenz sind blau, lavendel, braun und lila viragiert.5 In knapp einer weiteren Stunde des Films wird das unmittelbare Kriegsgeschehen beschrieben, die Kämpfe der Deutschen mit den Alliierten, vorwiegend bei Nacht. Die Bilder sind hier überwiegend schwarz-weiß. Als Jim mit einem Krankenwagen abtransportiert wird, leuchtet das Kreuz auf dem Auto in hellem Rot.

Im Gespräch erinnerte King Vidor sich, dass er bei den Dreharbeiten zu THE BIG PARADE „für die Kampfszenen sechs oder acht Kameras benutzt“ hatte. „Wir platzierten sie um das Geschehen herum und mussten daher Explosionen und ähnliche Effekte nicht mehrfach wiederholen. Üblicherweise drehte man damals Kampfszenen mit fünf Kameras. – Eins der technischen Probleme bei den Dreharbeiten zu THE BIG PARADE […] hatte damit zu tun, dass ich alles dem gleich-mäßigen Takt einer Trommel unterzuordnen versuchte, die ich während der Kampfszenen laut hörbar schlagen ließ: marschieren, den Abzug drücken und fallen – alles sollte im Takt ablaufen. Die Kameras von damals wurden allerdings von einem Batteriemotor angetrieben. Sie hatten zwar eine Anzeige für die Laufgeschwindigkeit, aber weil die Batterien mal zu schwach und mal zu stark waren, liefen sie nicht gleichmäßig schnell. Ich hatte furchtbaren Ärger, weil es mir nicht glückte, alles diesem Takt unterzuordnen.“6

THE BIG PARADE war der erste amerikanische Film, der den Welt-krieg auf realistische Weise zu einem Thema machte und darüber hinaus frei war von der sogenannten „Anti-Hunnen-Propaganda“, die bis dahin in der amerikanischen Politik und auch im US-Kino eine große Rolle gespielt hatte. Stattdessen entwickelte Vidor hier ein Muster, das für viele kriegskritische Filme zum Vorbild wurde: das der Gruppe in Gefahr. Es geht dabei immer um eine Handvoll Soldaten, die den Krieg ertragen müssen – manchmal überlebt einer von ihnen, manchmal aber auch keiner. Zu den nach THE BIG PARADE entstan-denen Filmen mit diesem Ansatz zählen WHAT PRICE GLORY (USA 1926, Regie: Raoul Walsh), THE ENEMY (USA 1927, Regie: Fred Niblo), WINGS (USA 1927, Regie: William A. Wellman), FOUR SONS (USA 1928, Regie: John Ford), LUCKY STAR (USA 1929, Regie: Frank Borzage und ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (USA 1930, Regie: Lewis Milestone). THE BIG PARADE, uraufgeführt im November 1925 im Grauman’s Egyptian Theatre in Hollywood, wurde weltweit einer der größten Kinoerfolge der 1920er-Jahre und machte King Vidor berühmt. Bei MGM gehörte er von da an zu den wichtigsten Regisseuren des Studios.

Aufgrund der menschlichen Darstellung der feindlichen Soldaten konnte DIE GROSSE PARADE – so der Verleihtitel – auch in Deutschland positiv aufgenommen werden. Herbert Ihering war insbesondere von den Kriegsszenen beeindruckt: „Eine Komposition aus Elementen des Films: Bewegung, Gegenbewegung. Aber weit über das Artistische hinaus: ein Bild der Sinnlosigkeit des Krieges. Dann der Vormarsch der Schützenketten durch den Wald. Dann die drei Ameri-kaner im Granatloch, Fliegerangriffe, Vorposten. Mit einem Deutschen zusammen in einem Granatloch. Der Amerikaner gibt dem Deutschen eine Zigarette. Zwei Züge. Der Deutsche stirbt. Die Zigarette fällt der Leiche aus dem Mund. In diesem Teil ist der Film von epischer Großartigkeit und Einfachheit. Tendenz durch Tatsachen. Geistige Einwirkung durch Komposition von Ereignissen. Grandios und erschütternd.“7 Der Kritiker Kurt Pinthus schrieb: „Jeder muss diesen Film sehen. Denn er wird, ganz nüchtern gesprochen, ein Werk nicht nur von historischer, sondern zugleich von künstlerischer Bedeutung erleben. Wenn man weiß, wie wenige künstleri­sche Werke auch historische Geltung haben – und wie wenige Werke historischer Geltung von künstlerischem Wert sind, wird man einsehen, was dies nüchterne Lob bedeutet.“8

Großstadtdramen

Vom August 1923 bis zum März 1929 war der Republikaner Calvin Coolidge Präsident der Vereinigten Staaten. Er galt als konservativ, sorgte in den Roaring Twenties für eine Verbesserung der Wirt-schaftslage, erkannte aber nicht die Gefahr von Börsenspekulationen, die im Oktober 1929 unter dem neuen Präsidenten Herbert Hoover zu massiven Kursverlusten an der New Yorker Börse führten. In der Folge entstand daraus die Weltwirtschaftskrise und in Amerika die Phase der Great Depression.

Im Februar 1928 war King Vidors Film THE CROWD in die Kinos gekommen, der zentrale Momente im Leben des jungen John Sims (James Murray) zeigt: Sein Vater stirbt, als er zwölf Jahre alt ist, mit einundzwanzig findet er eine Anstellung in New York; er heiratet Mary (Eleanor Boardman), die beiden bekommen zwei Kinder; die kleine Tochter wird von einem Auto überfahren, John verliert seinen Job, wird Opfer der Wirtschaftskrise. Am Ende bleibt offen, wie das Leben der kleinen Familie weitergeht.

Die Story dieses relativ späten Stummfilms stammt von Vidor, das Drehbuch schrieb er zusammen mit John V. A. Weaver. THE CROWD zeigt das Alltagsleben von zwei aus der Masse der Bevölkerung einer Großstadt ausgewählten Individuen. Das Leben von John und Mary ist geprägt von Unsicherheit, von finanzieller Not und persönlichen Konflikten. Den gesellschaftlichen Hintergrund der Geschichte macht Vidor immer wieder präsent, indem er anonyme Menschenmengen in Szene setzt: als Johns Vater stirbt, auf den Straßen in New York, in Johns Büro, im Lunapark von Coney Island, bei einem Picknick am Strand, im Krankenhaus, in der Schlussszene das Publikum im Varieté. Es gibt dramatische Momente, Konflikte im Alltag mit komischen Zuspitzungen (wenn John beim Öffnen einer Milchflasche versehent-lich seinen Anzug bekleckert). Bei der Busfahrt zum Lunapark sagt Mary mit Blick auf die zahlreichen Menschen, die auf New Yorks Straßen unterwegs sind, zu John: „Look at the Crowd!“ und schafft auf diese Weise einen der Fiktion enthobenen Moment lang eine Ver-bindung zwischen den beiden Protagonisten und dem Kinopublikum. Wie in der Liebesszene in THE BIG PARADE spielt auch beim Flirt dieses jungen Paars ein Kaugummi eine Rolle.

Mit THE CROWD nahm King Vidor mehr als mit jedem anderen Film Bezug auf deutsche Regisseure wie Friedrich Wilhelm Murnau, Ewald André Dupont, Fritz Lang und Ernst Lubitsch, deren Einfluss auf seine Arbeit er schon in seiner Autobiografie explizit benannt hatte.9 Im Interview erläuterte er später: „Da schien sich zum ersten Mal die Kamera zu bewegen – montiert auf einen Wagen, der neben den Schauspielern hergefahren wurde […]. Ich erinnere mich daran, dass die Kamera in DER LETZTE MANN (D 1924, Regie: F. W. Murnau) durch eine Hotelhalle fährt und dann Emil Jannings bei der Fahrt in einem Lift begleitet. Ich fand das besser, als in unbewegten Einstellun-gen zu zeigen, wie die Leute in den Lift hineingehen und oben wieder herauskommen. […] Das war eine neue Technik, ein bedeutender Wendepunkt. Beim Dreh zu THE CROWD in New York arbeiteten wir mit einer versteckten Kamera, wie es noch niemand vor uns getan hatte. So konnten wir auf der Straße drehen, mit der in einer Box und auf einem Lastwagen versteckten Kamera.“10

So bedeutsam das Weimarer Kino für King Vidor war, so aufmerksam und positiv wurden seine Werke in jener Zeit in Deutschland aufge-nommen. Über eine zentrale Szene in EIN MENSCH DER MASSE – so der Verleihtitel – schrieb beispielsweise Rudolf Arnheim: „Ein kleiner Junge sitzt mit seinen Kameraden auf der Straße und erzählt ihnen gerade: ‚Mein Vater sagt immer …’, da bemerkt er einen Auflauf vor dem Hause seiner Eltern, einen Krankenwagen, eine Bahre wird ins Haus getragen. Voll böser Ahnung läuft er hinüber. Und nun sieht man folgendes Bild. Die Kamera ist im Treppenhaus aufgebaut, oben im ersten Stock, mit der Blickrichtung nach unten. Tief unten sieht man sehr klein die Haustür, und von dort aus führt die Treppe, sich in sehr kräftiger Perspektive verbreiternd, nach oben. Unten, durch die kleine Haustür, drängen sich Menschen ins Haus, die durch die Nachricht vom Unfall herbeigelockt sind. Ganz klein sieht man sie, sie wimmeln da unten herum. Und plötzlich drängt sich durch sie hindurch der kleine Junge, nun steigt er langsam, ängstlich und doch voller Drang zu erfahren, was geschehen ist, die Stufen hinauf. Zuerst ist er noch ganz klein, dann aber wird er größer, und die Stufen werden breiter, und die Masse der Menschen bleibt hinter ihm zurück, und nun kommt er näher, auf der leeren, breiten Treppe, die, je näher er zum Apparat heranklettert, immer riesenhafter ist, immer mehr leeren Raum für ihn freigibt, und da klettert er entsetzlich allein nach oben – ein einsames Kind, dem der Vater entrissen ist. Das Grandiose dieser Wirkung liegt in der Einfachheit und Eindeutigkeit der verwendeten Mittel. Nichts ist trivialer, als daß eine Treppe sich in der Entfernung verschmälert, aber diese selbstverständliche Tatsache ergibt, in diesem Zusammenhang ausgenutzt, ein so tiefes, einfältiges, sinnfälliges, zwingendes Symbol, wie man es in schönen Volksliedern findet.“11

Auch in den USA war THE CROWD bei Publikum und Kritik gleichermaßen erfolgreich. Mordaunt Hall schrieb in der New York Times, der Film sei „eine eindringliche Analyse des Existenzkampfes eines jungen Paares in dieser Stadt.“12

Neben der Reflexion aktueller sozialpolitischer Themen enthält THE CROWD aber – wie zahlreiche andere Werke Vidors – auch die psychologisch genaue Analyse des Alltags einer Ehe: Weil der Mann zum Träumen neigt, ist es die Frau, die pragmatisch Verantwortung übernimmt und Entscheidungen trifft.

MGMs Firmengründer, der Produzent Samuel Goldwyn, hatte die Rechte an Elmer Rices Theaterstück Street Scene erworben, das 1929 mit dem Pulitzerpreis für Bühnenliteratur ausgezeichnet worden war. Für die Verfilmung des Stoffes verpflichtete er Rice als Drehbuchautor und bot King Vidor die Regie des Films an. Die Herausforderung ebenso wie der Reiz der Vorlage bestand in dem Umstand, dass die gesamte Handlung sich vor einem mehrstöckigen Mietshaus an der Lower East Side abspielt, in dem der überwiegende Teil der Akteure wohnt. Die Straße vor dem Gebäude wird zum Schauplatz einer dra-matischen Familiengeschichte, die von den übrigen Hausbewohnern beobachtet und in verschiedensten Figurenkonstellationen kommen-tiert wird: Da ist zum einen Anna Maurrant (Estelle Taylor), die ihren Mann Frank (David Landau) betrügt. Als dieser seinen Verdacht bestätigt sieht, erschießt er seine Frau und deren Liebhaber Steve Sankey (Russell Hopton). Die erwachsene Tochter Rose (Sylvia Sydney) will daraufhin die Stadt verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Mit einem Schwenk über New York endet der Film.

Die zündende Idee für die Verfilmung des Stücks verdankte King Vidor einer Fliege: „Mir wurde schnell klar, dass es ein Fehler wäre, die einfache Form des Stücks zu verändern und Teile der Handlung oder einzelne Szenen ins Innere des Hauses […] zu verlegen. Andererseits fürchtete ich, dass der statische Schauplatz kaum Möglichkeiten für Bewegungen bieten und das Ergebnis deshalb zu monoton wirken würde. Am folgenden Tag wich ich Mr. Goldwyn aus, um über Möglich-keiten nachzudenken, die Kamera möglichst frei einzusetzen. Dann sah ich zufällig einen Mann in der Nähe meiner Wohnung auf dem Rasen schlafen. Auf seinem Gesicht saß eine Fliege. Ich dachte sofort: Für eine Fliege ist ein Gesicht ein unendlich interessanter Ort mit Hügeln, Bergen, Tunneln, Tälern und Feldern. In der Welt einer Fliege könnte man einen Western mit allen notwenigen Schauplätzen auf einem Männerkopf drehen. Warum also nicht auf die Fassade eines Mietshauses blicken wie eine Fliege auf ein Männergesicht? Die Kamera sollte die Fliege sein.“13

Mit diesem Ansatz gelang es King Vidor, die durch den Stoff vorgege-benen Einschränkungen zu überwinden. Tatsächlich wurde in STREET SCENE (1931) keine Kameraeinstellung wiederholt. Vidor nutzte Schienen und Gerüste, um die Kamera so beweglich zu machen, dass sie den Schauplatz aus allen denkbaren Perspektiven erfassen konnte. Als Erweiterung gegenüber dem Bühnenstück bezog er nicht nur den Gehweg vor dem Haus, sondern auch die Straße, an der es liegt, in die Handlung mit ein.

Nach HALLELUJAH (1929) und NOT SO DUMB (1930) war STREET SCENE Vidors dritter Tonfilm. Seine Experimentierfreude auf diesem noch neuen Gestaltungsgebiet zeigt sich in der detailgenauen Inszenie-rung der Sprachen, Dialekte und Akzente, mit denen die zum großen Teil aus europäischen Immigranten bestehende Gruppe der Hausbe-wohner/-innen untereinander kommuniziert. Leidenschaftlich aus-getragene Meinungsverschiedenheiten über kulturelle wie religiöse Fragen zwischen italienischen und schwedischen Nachbarn, kom-mentiert von einem jüdischen Trotzkisten, gehören zu den komischen Momenten des Films. Neben dem zentralen Drama, zu dem STREET SCENE sich steigert, zeigt Vidor hier ein ebenso präzise wie menschlich gezeichnetes Milieu, das typisch ist für das damalige Großstadtleben in den USA und in gewisser Weise bedroht war: Wenige Jahre zuvor war mit dem Emergency Quota Act (1921) und dem Immigration Act (1924) die Zahl der Neueinwanderer insbesondere aus Süd- und Osteuropa zugunsten der Einwanderung aus Nord- und Westeuropa mit einer Quote versehen und pro Land auf drei Prozent des Anteils an der Bevölkerung von 1890 begrenzt worden.

Um Boxen und Pferderennen, das Leben in den USA und in Mexiko sowie die schwierige Beziehung zwischen einem alkoholabhängigen ehemaligen Boxchampion (Wallace Beery) und seinem Sohn Dink (Jackie Cooper) geht es in THE CHAMP (1931). Andy Purcell, die Titelfigur, erlebt ein Auf und Ab von Erfolgen und Niederlagen, bis er am Ende einen fast aussichtlosen Kampf gewinnt, aber danach an einem Herzinfarkt stirbt. Ein Jahr zuvor war in Deutschland der Film LIEBE IM RING von Reinhold Schünzel mit Max Schmeling sehr erfolgreich, der auch in die USA exportiert wurde. Im Gegensatz zu der in der Weimarer Republik zu beobachtenden Verklärung des Boxsports gilt Vidors Augenmerk in THE CHAMP vor allem der tiefen Verbun-denheit zwischen Vater und Sohn. Nicht sportlicher Ehrgeiz treibt Purcell an, sondern der Wunsch, seinen Sohn, der ihn bewundert, nicht zu enttäuschen. Die Welt des Sports wird hier zum Hintergrund für eine kritische Sozialstudie mit komplexen Figuren und radikalen dramaturgischen Wendungen. Für das Drehbuch wurde Frances Marion mit einem Oscar ausgezeichnet, als bester Hauptdarsteller gewann Wallace Beery die Trophäe.

Gegenwartsstoffe

Seit 1933 war der Demokrat Franklin D. Roosevelt Präsident der USA. Um die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die auf ihrem Höhe-punkt angelangt war, zu mildern, sorgte er im Rahmen des First New Deal für die Umsetzung einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialrefor-men, von denen vor allem die Arbeitslosen profitieren sollten. Mit dem Agricultural Adjustment Act wurde auch die Krise der Landwirtschaft bekämpft.

King Vidor verarbeitete das aktuelle Geschehen zügig in einem Film, dessen Story er selbst entwickelte; das Drehbuch schrieb seine dritte Ehefrau Elizabeth Hill. OUR DAILY BREAD (1934) war „von aktuellen Schlagzeilen inspiriert“, wie es im Vorspann heißt. Vidors Idee war es, die „beiden Protagonisten aus THE CROWD zu nehmen und die Kämpfe eines typischen jungen amerikanischen Paares in dieser extrem schwierigen Zeit zu begleiten. Ich begann zunächst damit, sämtliche Artikel aus den Lokalzeitungen auszuschneiden, in denen es um dieses Thema ging. Eines Tages las ich in Reader’s Digest einen kurzen Beitrag von einem College-Professor. Er schlug darin vor, [landwirtschaftliche] Kooperativen zu organisieren, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen.“14 Vidor stand zu jener Zeit bei keinem Studio unter Vertrag. In seiner Autobiografie berichtet er, dass er das Projekt zuerst Irving Thalberg vorschlug, der zwar begeistert davon war, dem es aber nicht gelang, es an MGM zu verkaufen – am Ende erklärte er das damit, dass der Stoff „ungeeignet“ für dieses Studio sei.15 Vidor musste erkennen, dass die großen Hollywood-Studios „Angst hatten, einen Film ohne Glamour zu produzieren, obwohl sie zugaben, dass der Kampf, von dem OUR DAILY BREAD erzählt, heldenhaft war.”16 Am Ende beschloss Vidor, den Film selbst zu finanzieren und gründete zu diesem Zweck die Firma Viking Productions.

Die beiden Hauptfiguren in OUR DAILY BREAD heißen – wie in THE CROWD – John (Tom Keene) und Mary Sims (Karen Morley). Sie leben in der Großstadt, haben keine Arbeit und können die Miete nicht mehr bezahlen. Marys Onkel Anthony (Lloyd Ingraham) schenkt ihnen ein hundert Meilen entfernt liegendes Stück Land mit einem herunter-gekommenen Haus. John und Mary gehen dort optimistisch, aber unerfahren an die Arbeit und sind schnell überfordert. Der aus Schweden stammende Bauer Chris Larsen (John Qualen), der mit seiner Familie auf dem Weg von Minnesota nach Kalifornien ist, hilft ihnen und lässt sich nach kurzer Zeit als Partner auf dem Grundstück der Sims‘ nieder. Auch andere Vorbeireisende folgen Johns Einladung zur Mitarbeit. Ein kleines Dorf entsteht, in dem das Zusammenleben und -arbeiten trotz Konflikten funktioniert. Als die Ernte durch Trockenheit bedroht ist, will John sich zunächst mit der attraktiven Sally (Barbara Pepper) absetzen, entdeckt auf der Autofahrt aber wenige Meilen entfernt einen Fluss. Er kehrt allein ins Dorf zurück und hebt gemeinsam mit den anderen Bewohnern einen Graben aus, durch den der Wasserzufluss auf die Felder umgeleitet wird. Das Überleben der kleinen Kommune ist damit gesichert.

Höhepunkt des Films ist die Montage jener letzten Sequenz, dem Ausheben des Wassergrabens, bei deren Inszenierung Vidor vorging wie ein „Choreograph, der sich die Bewegungen für ein Ballett aus-denkt. Zuerst tritt die Gruppe der Männer auf, die alles prüfen und mit provisorischen Instrumenten Messungen vornehmen, um die Ände-rung des Flusslaufs zu planen. Anschließend kommt eine weitere Gruppe dazu, mit Pferden, alten Wagen und einem Motorrad; sie entfernen alles, was dem geplanten Verlauf des Grabens im Weg ist: Büsche, Bäume und Felsbrocken. Danach sind jene Männer an der Reihe, die den Graben ausheben, mit Spitzhacken und Schaufeln. Die ersten beiden Gruppen arbeiten voller Hast, in einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit, um die Ernte zu retten. Diejenigen, die anschließend den Wassergraben ausheben, tun das rhythmisch, in einem kontrollierten Tempo, das sich stetig steigert, je mehr der Graben sich der Fertigstellung nähert. Das Öffnen des Damms und das Wasser, das nun endlich frei fließen kann, führen zum Höhepunkt dieser Sequenz.“17

Die beeindruckende Realitätsnähe der Inszenierung wurde sicherlich unterstützt durch die Tatsache, dass es sich bei einem großen Teil der Statisten um Arbeitslose aus Los Angeles handelte, die Vidor für die Dreharbeiten ausgewählt hatte.18 Konsequenter als in jedem anderen seiner Filme lässt er in OUR DAILY BREAD Fiktion und Realität miteinander verschmelzen und erzielt dadurch eine mitreißende Intensität. Die New York Times bezeichnete das Werk als „brillantes Bekenntnis zum Glauben an die Bedeutung des Kinos für die Gesellschaft.“19

Anfang Oktober 1934 wurde OUR DAILY BREAD in Anwesenheit Präsident Roosevelts im Weißen Haus vorgeführt20 – vermutlich kam der Film seinen Vorstellungen von der Umsetzung des New Deal und seiner Parole „Zurück aufs Land“ recht nahe. Während das Besucher-interesse in den USA enttäuschend gering blieb, füllte der Film 1936 unter dem Verleihtitel DER LETZTE ALRAM im nationalsozialisti-schen Deutschland wochenlang die Kinos. Vom Propagandaministe-rium mit dem Prädikat „künstlerisch wertvoll“ versehen, wurde er als eines „der wirkungs- und eindrucksvollsten Filmwerke“ gelobt, „dessen Grundgedanke: ‚Nur die Gemeinschaft führt zum Erfolg‘ ungemein zeitnahe ist.“21

Der Filmhistoriker Fabian Tietke sieht den Film in einer – nicht zuletzt von King Vidor selbst und seinem Vorbild David W. Griffith begrün-deten – filmischen Tradition christlich-liberaler Sozialkritik und erkennt in einem gewissen „Spin ins Konservative, der OUR DAILY BREAD offenbar für die NS-Filmindustrie interessant gemacht hat“, lediglich den „Vorbote[n]“ einer wenige Jahre später stattfindenden Entwicklung, „in der die Angst vor einem fiktiven Kommunismus in den USA dieser liberalen Tradition den Garaus bereitet hat.“22

OUR DAILY BREAD wurde prägend für eine große Zahl späterer Filme über den New Deal, zu denen beispielsweise der Dokumentarfilm THE PLOW THAT BROKE THE PLAINS (USA 1936, Regie: Pare Lorentz) und THE GRAPES OF WRATH (USA 1940, Regie: John Ford) zählen.

Auch Vidors 1938 uraufgeführter, von MGM in Großbritannien produ-zierter Film THE CITADEL nach dem gleichnamigen Roman von A. J. Cronin thematisiert soziale Spannungen: Der idealistische junge Arzt Andrew Manson (Robert Donat) beginnt seine Laufbahn als Hilfsarzt in einer walisischen Kleinstadt mit maroden sanitären Einrichtungen, bevor er Assistenzarzt in einem Bergarbeiterhilfswerk wird. Nachdem er seine Promotion abgeschlossen hat, wechselt er in ein Londoner Forschungsinstitut, das jedoch allzu bürokratisch verwaltet wird, bevor er schließlich eine Praxis in Paddington übernimmt. Als die Patienten ausbleiben, lässt er sich von seinem früheren Studienfreund Dr. Fre-derick Lawford (Rex Harrison) dazu überreden, die harmlosen Beschwerden wohlhabender Privatpatientinnen mit teuren Schein-medikamenten zu behandeln und sich so finanziell zu sanieren. Im Zusammenhang mit einer nicht anerkannten Behandlungsmethode wird Manson vor Gericht geladen. In einer fulminanten Verteidi-gungsrede kritisiert er die Schwächen des britischen Gesundheits-systems.

Anders als die Romanvorlage findet die Filmhandlung zu einem glück-lichen Ende – nicht jedoch, bevor Vidor die Zerissenheit seines Helden zwischen ethisch-moralischem Pflichtbewusstsein und dem Wunsch nach materiellen Annehmlichkeiten nachvollziehbar gemacht und dabei die Gelegenheit zu intensiven Milieuschilderungen im walisi-schen Kohleabbau und in der Londoner High Society ergriffen hat. Der vielfach ausgezeichnete und mit vier Oscar-Nominierungen geehrte Film galt der New York Times 1938 als „eins der überzeugendsten Leinwandwerke des Jahres“.23

Mit JAPANESE WAR BRIDE (1952) griff Vidor erneut ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema auf – in dieser Unverschlüsseltheit zum letzten Mal in seiner Laufbahn: Im Juni 1950 hatten Truppen der Nordkoreanischen Volksarmee die Grenze nach Südkorea überschrit-ten und damit den Koreakrieg begonnen, im Juli 1953 schloss Nord-korea ein Waffenstillstandabkommen mit der UNO. 1951 erhielt die bekannte japanische Schauspielerin Shirley Yamaguchi – nach anfäng-lichen Schwierigkeiten – eine Einreiseerlaubnis für die USA, wo sie als Hauptdarstellerin in Vidors Film ihr Debüt im amerikanischen Kino geben sollte.

Sie spielt die Krankenschwester Tae, die den im Koreakrieg verletzten Captain Jim Sterling (Don Taylor) in einer japanischen Klinik gesund pflegt. Die beiden heiraten und reisen gemeinsam in Sterlings kalifor-nische Heimat. Seine Angehörigen, vor allem seine Schwägerin Fran (Marie Windsor), sowie einige Nachbarn reagieren feindselig und mit rassistischen Vorbehalten auf Tae – zu frisch sind noch die Erinnerun-gen an den Zweiten Weltkrieg, in dem Japan den USA als Gegner gegenüberstand. Tae bringt ein Baby zur Welt, verlässt danach jedoch ihren Mann, weil sie dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr stand-hält.

Die Tatsache, dass bereits im Zweiten Weltkrieg vielfach Verbindungen zwischen Mitgliedern der US-Amy und Japanerinnen entstanden waren – die meisten von ihnen wurden mitsamt ihren Kindern am Ende der Besatzungszeit verlassen – galt in den Vereinigten Staaten am Anfang der 1950er-Jahre als Tabuthema. Durch die öffentlichkeits-wirksame Vermarktung von JAPANESE WAR BRIDE jedoch erfuhren die in den USA lebenden Japanerinnen und ihr Schicksal plötzlich große Beachtung. Neben später entstandenen Filmen wie THE TEA-HOUSE OF THE AUGUST MOON (USA 1956, Regie: Daniel Mann) und SAYONARA (USA 1957, Regie: Joshua Logan) gilt JAPANESE WAR BRIDE als bedeutender Beitrag zu einer größeren Toleranz der amerikanischen Bevölkerung anderen Ethnien gegenüber. 24

Zu dieser tiefen Wirkung trug nicht zuletzt King Vidors Fähigkeit bei, sich in das Erleben seiner Figuren einzufühlen, ohne sich dabei in moralische Wertungen zu verstricken. Die Menschlichkeit, die so entstehen konnte, hält seine Filme lebendig.

1 King Vidor on Filmmaking. New York 1972, S. 221

2 Margaret I. MacDonald, in: Moving Picture World, 29.3.1919

3 King Vidor: A Tree is a Tree. London, New York, Toronto 1954, S. 73

4 Vidor erzählt in seiner Autobiografie, dass er diesem Regieeinfall durch den Drehbuchautor Donald Ogden Stewart inspiriert wurde, als dieser beim Dreh jener Szene Kaugummi kauend am Set auftauchte. Ebd., S. 79

5 THE BIG PARADE kam 1925 schwarz-weiß und viragiert ins Kino. Ab 1931 war der Film in einer mit einer Tonspur versehenen Schwarz-Weiß-Fassung in Umlauf. Vgl. den anlässlich der Restaurierung von THE BIG PARADE erschienenen Artikel von Richard P. May: Restoring THE BIG PARADE, in: The Moving Image: The Journal of the Association of Moving Image Archivists. Band 5, Nr. 2, Herbst 2005, S. 140–146, hier: S. 144

6 Unveröffentlichtes Gespräch von Hans Helmut Prinzler, Heide Breitel und Klaus Feddermann mit King Vidor, Beverly Hills 1980 (Auszüge veröffentlicht von H. H. Prinzler: „Directed by King Vidor“. In: Filme, Nr. 10, Juli/August 1981)

7 Herbert Ihering, „DIE GROßE PARADE“, in: Berliner Börsen-Courier, 22.10.1927, nachgedruckt in: Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Herbert Ihering. Filmkritiker. München 2011, S. 212 ff.

8 Kurt Pinthus, in: „Das Tage-Buch“, 29.10.1927, nachgedruckt in: Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Kurt Pinthus. Filmpublizist. München 2008, S. 238

9 Vgl. King Vidor: A Tree is a Tree, a. a. O., S. 102

10 Siehe Anm. 6

11 Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Berlin 1932, S. 87 f.

12 Mordaunt Hall, in: The New York Times, 20.2.1928

13 K. Vidor: A Tree is a Tree, a. a. O., S. 139 f.

14 Ebd., S. 152

15 Ebd., S. 153

16 Ebd.

17 Ebd., S. 155

18 Vgl. Andre Sennwald: „King Vidor Dramatizes a Cooperative Farm in OUR DAILY BREAD”, 3.10.1934

19 Ebd.

20 Vgl. Film Daily, 2.10.1934, S. 8.

21 Lichtbild-Bühne, 6. August 1936

22 Fabian Tietke: Filmeinführung zu OUR DAILY BREAD/DER LETZTE ALARM, Zeughauskino, Berlin, 22.7.2015

23 Frank S. Nugent: „Favorable Verdicts on THE CITADEL, the New M-G-M Film at the Capitol”. In: The New York Times, 4.11.1938

24 Vgl. Sarah Kovner: Occupying Power: Sex Workers and Servicemen in Postwar Japan. Redwood City 2012, S. 65 f.

In: King Vidor, herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother. Berlin: Bertz + Fischer 2020, S. 66-91, dort auch in Englisch.