01. Oktober 2008
ACT OF VIOLENCE (1948/49)
Text für ein Buch des Reclam Verlages
New York am Abend. In der Dunkelheit überquert ein Mann die Straße. Er hat es eilig. Er zieht das rechte Bein nach. Er betritt ein Haus, steigt die Treppe empor, schließt eine Tür auf, geht zu einer Kommode, öffnet eine Schublade, nimmt eine Pistole heraus, überprüft das Magazin und zielt, wie zur Probe. Er packt eine Tasche, verlässt das Haus, besteigt einen Bus. Auf dem Schild steht: Los Angeles. Damit beginnt eine Reise in die Vergangenheit, in der es um Schuld und Sühne geht, um Verrat und Rache, um Leben und Tod.
Drei Jahre nach dem Ende des Weltkriegs hat Joe Parkson, der hinkende Mann, den Verräter ausfindig gemacht, an dem er sich rächen muss: Frank Enley, inzwischen ein biederer Bauunternehmer, der in Santa Lisa eine Familie gegründet hat und mit einer guten Tat in die Zeitungsschlagzeilen geraten ist. Joe und Frank waren enge Freunde, bis sie 1944 in einem Gefangenenlager der Nazis zu unversöhnlichen Feinden wurden. Joe und zehn Kameraden hatten die Flucht aus dem Lager vorbereitet und einen Tunnel gebaut. Frank, der zwölfte in der Gruppe und einstmals ihr Captain, hielt die Flucht für aussichtslos. Als letzte Konsequenz informierte er einen SS-Offizier über den Plan seiner Kameraden und verließ sich auf die Zusage, dass sie nicht getötet würden. Aber die Deutschen stellten den Gefangenen eine Falle und brachten sie am Ende des Tunnels um. Nur Joe und Frank überlebten. Seither ist Joe auf der Suche nach Frank. Er will Rache. Die Zeitungsschlagzeile hat ihn auf die Spur gebracht.
Frank Enley lebte in der Illusion, die „Fesseln der Vergangenheit“ abstreifen zu können. Er ist mit seiner Frau von der Ost- an die Westküste gezogen, wähnt sich in der Anonymität eines Durchschnittsbürgers und unternimmt am Heldengedenktag, als Joe in Los Angeles eintrifft, mit seinem Nachbarn einen Angelausflug. Vor der Abfahrt gibt es kleine Rangeleien mit Edith, seiner Frau, und sie gesteht, fast naiv, „Frank, Du hast Deinen Zauber verloren“. Wenig später zerbricht die scheinbare Harmonie der Familie.
Joes erster Versuch, Frank zu erschießen, misslingt. Das Motorboot der Angler ist schneller als das Ruderboot von Joe. Aber Frank erfährt, dass er verfolgt wird, und entschließt sich zur Flucht. Zuerst in sein Haus. Er verschließt die Türen, zieht die Vorhänge zu, schaltet das Licht aus. Ediths Fragen wehrt er ab. „Er ist nicht ganz richtig im Kopf.“ Ein erster Hinweis auf den Krieg: „Da passieren viele Dinge, die Du nicht verstehst.“
Joe beobachtet aus dem Auto das Haus. Später wird er von einer Polizeistreife verjagt. Frank weiß nicht, was er tun soll, er fährt mitten in der Nacht in sein Büro. Am Morgen dringt Joe ins Haus ein, bedroht Edith mit der Pistole und erzählt ihr, warum er Frank umbringen muss: „Er war ein Spitzel für die Nazis.“ Edith verliert die Fassung. Joe: „Hören Sie auf zu weinen, er ist das nicht wert.“
Sie findet Frank in seinem Büro in Los Angeles, und endlich erzählt er ihr die Wahrheit, seine Wahrheit: dass er dem Wort eines Nazi-Offiziers vertraut hat und so zum Verräter wurde. Edith verlässt ihn. Der Verfolgung durch Joe entzieht sich Frank durch Flucht: in die finstere Nacht von Los Angeles, dorthin, wo die Stadt am dunkelsten ist. In einer Bar trifft er die Prostituierte Pat. Sie nimmt ihn mit in ihr schäbiges Zimmer und stellt dem verzweifelten Mann die entscheidende Frage: „Geht’s um Liebe oder um Geld? Es geht immer nur um die beiden Dinge. Wenn Du Geld hast, gibt’s überhaupt nichts Schlimmes. Mit Geld kann man alles regeln.“ Frank hat Geld. So stellt Pat ihm einen Anwalt vor, der in einem Hinterzimmer für 10.000 $ Johnny ins Spiel bringt, einen Auftragskiller. Franks Widerstand wird zerredet: „Sie haben es einmal getan und werden es wieder tun. Was bedeutet Ihnen schon ein Mensch mehr? Sie haben schon zehn ins Jenseits befördert. Erstmal muss der Mann weg. Später kann es Ihnen Leid tun. Entweder er oder Sie.“
act of violence ist kein bewusster Film noir. Fred Zinnemann war immer mehr an Themen und an Botschaften als an Genres interessiert. Und seine Botschaft ist – wie in vielen anderen seiner Filme – Robert Lewis Stevensons Feststellung „A man’s character is his destiny“. Es geht um Gewissenskonflikte und Traumata. In seinem nächsten Film, the men, wird das Thema als Psychodrama behandelt und Marlon Brando betritt die Bühne.
Was ist noir an act of violence? Die Atmosphäre. Die Töne. Die Bilder. Die Verstrickung der Protagonisten im ausweglosen Netz der Vergangenheit. Zunächst der Beginn: ein hinkender Mann im nächtlichen New York, der nur das Ziel verfolgt, seine Pistole in Anschlag zu bringen auf eine Person, die wir noch nicht kennen. Die Körpersprache, die Bilder, die Musik suggerieren eine Besessenheit, die dem Film insgesamt seinen Rhythmus gibt. Robert Ryan, der Darsteller des Joe Parkson, agiert in eine einzige Richtung: den Verräter, der einst sein Freund war, zu töten. Ryan wurde oft als Prototyp des bösen Schurken besetzt. Er bringt uns in einen Widerspruch: wir sollen seinen Hass verstehen, auch wenn wir ihm nicht das Recht zugestehen dürfen, tödliche Rache zu üben.
Eine zweite Noir-Szene: Frank weiß, dass er verfolgt wird. Er verschließt die Türen seines Hauses, die Fenster und sich selbst, als er seiner Frau nur Ausflüchte gibt auf ihre Fragen nach dem hinkenden Mann. Im verdunkelten Haus werfen die Figuren noch dunklere Schatten: auf ihre Gesichter, auf ihr Zusammenleben. Hier beginnt eine Spirale der Bedrohung, der Ausweglosigkeit, der Schuld, die nur mit dem Tod enden kann. Van Heflin, der Darsteller des Frank Enley, muss uns einen Identitätsverlust begreiflich machen. Wie einer das Recht auf seine gegenwärtige Existenz verliert, weil ihn die Vergangenheit einholt. Heflin wurde oft als Prototyp des guten Bürgers besetzt. Er bringt uns in einen anderen Widerspruch: wir sollen sein Handeln verstehen, auch wenn er Unrecht getan hat. Als er seiner Frau endlich berichtet, was damals in Deutschland passiert ist, haben wir ihn aber längst als Feigling abgeschrieben.
Die dritte und schönste Noir-Szene: wie Frank in die Nacht von Los Angeles flieht und in der Bar bei der Prostituierten Pat endet. „Was machst Du denn hier, Hübscher?“ Nur eine abgeklärte Frau kann so souverän einen Mann auffangen, der eigentlich schon am Ende ist. Mary Astor, die Darstellerin der Pat, hat schöne Heldinnen, sympathische Mütter und verlogene Schurkinnen gespielt. Sie ist in dieser Rolle mit ihrer Lebensphilosophie von Liebe und Geld („Entweder Du bist pleite oder einsam oder beides.“) das Zentrum im zweiten Teil des Films. Sie führt mit ihrem Pragmatismus („Es gibt auch Gesetze, die Menschen helfen können.“) Frank/Van Heflin zurück ins Leben und dann doch in den Tod.
Die vierte und düsterste Noir-Szene: als Frank für 10.000 $ mit Hilfe eines Anwalts Johnny, den Killer, engagiert hat, um Joe aus dem Wege zu räumen, flieht er in eine noch schwärzere Nacht in Los Angeles. Die Stimmen der Vergangenheit quälen ihn. Die Schatten werden dunkler, die Lichter werden greller, der Alarm wird lauter. Aber als ein Zug auf ihn zurast, der ihm zu einem Ende verhelfen soll, verlässt ihn in letzter Sekunde der Mut. Er springt zur Seite, fällt auf die Knie, sinkt zu Boden. Es muss ein anderes Ende geben.
Die letzte Noir-Szene: der Showdown. Wie vor dem Bahnhof der Southern Pacific Railway Frank, Joe und Johnny aufeinander treffen. Wie die Autos ankommen. Wie die Kamera von Robert Surtees den Platz verortet. Wie es stürmt und die Zugsirene heult und die Musik anschwillt und der Zug durch den Bahnhof rast und Joe Frank bedroht und Johnny auf Joe zielt und dann die Richtungen gewechselt werden und wir eigentlich wissen, was jetzt passieren wird, und doch überrascht werden von Schüssen, Schreien, Panik, einem rasenden Auto, einer Explosion, Feuer, Tod und Stille. Die Polizei kommt. „Ruf die Notfallstation an“, sagt der Polizist. Dann schaut er genauer hin. „Nicht mehr nötig.“ Frank ist tot, ohne dass Joe zum Mörder wurde. Aber die Traumata des Krieges lösen sich nicht auf. Kein Sonnenaufgang in Los Angeles. Noir.
In Deutschland wurde act of violence nie im Kino gezeigt. Im Werk von Fred Zinnemann ist es ein eher unbekannter Film. „This was the last movie I directed for MGM, and the first time I felt confident that I knew what I was doing and why I was doing it. Personally, I like this picture very much.“ Drei Jahre später begann mit high noon Zinnemanns wirkliche Karriere als Filmregisseur.
Act of Violence / AKT DER GEWALT
USA 1948/49 s/w 82 min. R: Fred Zinnemann. B: Robert L. Richards, nach einer Story von Collier Young. K: Robert Surtees. M: Bronislau Kaper. D: Van Heflin (Frank R. Enley), Robert Ryan (Joe Parkson), Janet Leigh (Edith Enley), Mary Astor (Pat), Berry Kroeger (Johnny), Taylor Holmes (Anwalt).
Literatur:
Fred Zinnemann: An Autobiography. London 1992 – Richard Griffith: Fred Zinnemann. New York 1958 – Raymond Rohauer: A Tribute to Fred Zinnemann. New York 1967 – Elisabeth Baumgartner (Red.): Der Hollywood-Altmeister Fred Zinnemann. Bozen 1984 – Antje Goldau/Hans Helmut Prinzler (Hg.): Zinnemann. Edition Filme 4. München 1986 – Arthur Nolletti Jr. (Hg.): The Films of Fred Zinnemann. Albany 1999,