Texte & Reden
04. August 2005

BROKEN BLOSSOMS (1919)

Text für die DVD-Kolumne der Zeit

Lieben und Weinen

broken blossoms ist ein Melodram. Der erste Zwischentitel verspricht A Tale of Love and Tears. Geliebt wird kurz und subtil auf der Leinwand, geweint wird im Kino. Die Geschichte spielt in London, im Limehouse District, und die drei Protagonisten sind beschädigte Kreaturen. Lucy, ein fünfzehnjähriges Mädchen, wohnt eingeschüchtert und freudlos bei ihrem Ziehvater. Von der Mutter gibt es nur noch ein Stück Stoff und ein Band. Der Ziehvater heißt Buttling Burrows, er ist Boxer und ein Autist in seinen Gefühlen. Lucy wird zu seinem Opfer. Nicht weit entfernt lebt der junge Chinese Cheng Huan, der nach London kam, um die Friedenslehre Buddhas zu vermitteln. Die Realität hat ihn desillusioniert, zum Kaufmann und Opiumraucher gemacht. Diese drei Menschen geraten in einen emotionalen Trubel. Nach einer brutalen Züchtigung des Vaters flüchtet Lucy, fast ohnmächtig, in den Laden des Chinesen. Er pflegt sie, es entsteht eine Situation der Zärtlichkeit und des Glücks. Doch die Idylle wird schnell zerstört. Während der Chinese für das Mädchen einen Blumenstrauß holt, dringt der Pflegevater in Chengs Haus ein und schleppt Lucy mit Gewalt nach Hause zurück. Sie flieht dort in einen Wandschrank, den Buttling Burrows zertrümmert. Besinnungslos erschlägt er das Mädchen. Der Chinese entdeckt die Tat und erschießt den Boxer. Er trägt Lucy durch die nebligen Straßen in sein Haus, bereitet ihr ein rituelles Totenbett und ersticht sich. Den Rahmen – am Anfang und am Ende – bilden Impressionen aus China: ein Hafen, ein Tempel, eine fremde Kultur. In der Heimat von Cheng Huan existieren noch Möglichkeiten des Glücks.

broken blossoms ist ein Griffithfilm aus dem Jahr 1919. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der amerikanische Regisseur an die 480 Filme gedreht, vor allem Ein- und Zweiakter zwischen 1908 und 1914. David Wark Griffith (1875-1948) hat mehr als alle seine Zeitgenossen zur Entwicklung der Filmsprache beigetragen, zur Differenzierung der Bilder, der Montage, des Erzählens. Wenn der Chinese die Blumen kauft und der Boxer das Mädchen nach Hause schleppt, ist die parallele Erzählung in den Beschleunigungen und Dehnungen noch heute ein dramaturgisches Meisterstück. Wenn sich Lucy ausweglos im Wandschrank dreht, entsteht ein Mitleiden, das noch heute zu Angst und Tränen führt. Trotz seiner berühmten Monumentalfilme birth of a nation (1915) und intolerance (1916) war Griffith vor allem ein Frauenregisseur. In immer neuen Varianten erzählte er Geschichten von Liebe und Tod, Krankheit und Armut, Trauer und Schmerz, in denen meist junge Frauen die Opfer sind. „Women’s Film“ galt in jener Zeit als spezielles Etikett für ein Kinopublikum, das mehrheitlich aus Frauen bestand. Es war das Jahrzehnt des Ersten Weltkriegs.

broken blossoms ist ein Bilderfilm. Fotografiert von Billy Bitzer. Um die simple und ein bisschen krude Story zu beglaubigen, nutzt die Kamera alle Möglichkeiten atmosphärischer Beschreibung: diffuses Licht, schleichende Nebel, langsame und fließende Bewegungen, eine halbtotale Sicht auf die Straßen, halbnahe Einstellungen in den Räumen. Nur wenige Großaufnahmen. Die Räume sind: die armselige Wohnung des Boxers, der Boxring, in dem er kämpft, der Laden des Chinesen, sein schmales Zimmer im oberen Stock, in dem das Mädchen die glücklichsten Momente ihres Lebens erlebt – in aller Unschuld, in einem Bett, mit einer kleinen Puppe im Arm, voller Hoffnung, die sich nicht erfüllen kann. Die Räume vermitteln pure Klaustrophobie.

broken blossoms ist ein Schauspielerfilm. Das Agieren von Donald Crisp, dem Boxer, fällt wohl in die Kategorie Overacting. Aber der geheimnisvolle Chinese ist Richard Barthelmess: lautlos und flink, einsam, enttäuscht, ohne Bewegung im Gesicht, nur in den Augen drücken sich Stolz, Angst, Sehnsucht und Zuneigung aus. Er wird plötzlich, aber vergeblich für ein Mädchen zum Hoffnungsträger. Und Lilian Gish ist das Mädchen, das Opfer. Ihr Gesicht wirkt vom Schrecken gezeichnet, ihr Blick erscheint unschuldig und ist längst traumatisiert. Wenn ihr Ziehvater sie auffordert, sie möge gefälligst lächeln, kann sie das nur mit Hilfe von zwei Fingern, die ihre Mundwinkel nach oben schieben. Es ist eine Geste, die sie im Moment ihres Todes wiederholt. Und die man nie vergessen wird.

Warum sollen wir uns diesen schon mehr als achtzig Jahre alten Film heute ansehen? Ganz einfach: er ist schöner als die meisten Filme von heute. Und er erinnert uns daran, dass es die schönen Filme von heute nicht gäbe ohne die Erfindungen und Phantasien der Regisseure, die vor siebzig, achtzig oder neunzig Jahren Filme gedreht haben. Ohne Méliès, DeMille und Murnau. Und schon gar nicht ohne D. W. Griffith. Hinschauen und mitfühlen – darin liegt noch immer die große Magie des Kinos.

In: Die Zeit, 4. August 2005