Texte & Reden
19. September 2002

Michael Althen: Warte, bis es dunkel ist

Buchpräsentation im Filmmuseum Berlin

Sehr geehrter Herr Blessing, lieber Michael, meine Damen und Herren

Herzlich willkommen zur Präsentation eines Buches, das sich als Liebeserklärung ans Kino versteht. Für diese Veranstaltung ist das Filmmuseum ein guter Ort. Denn natürlich halten wir auch unsere Ausstellungen für Liebeserklärungen ans Kino. Es gibt einen zweiten Schnittpunkt zwischen diesem Buch und dem Filmmuseum: Es geht jeweils um Erinnerung. Um Begegnungen mit Mythen, Stars und Genres. Um ein zweites Leben, das im Kino stattfindet: auf der Leinwand, aber auch im Zuschauerraum.

Michael Althen ist vor allem ein Zuschauer. Ich vernachlässige jetzt einmal seine Rolle als gelegentlicher Filmemacher. Er beschreibt in seinem Buch persönliche Kinosozialisationen, emotionale Erfahrungen mit Filmen, Schauspielern und Schauspielerinnen, mit Regisseuren und Schauplätzen, mit Städten und Kinos.

Das erste Kapitel – nach dem Vorspann – handelt vom 14. Oktober 1962. Diesen Tag hat Michael Althen nicht im Kino zugebracht. Aber er beschreibt, welche Filme damals in München zu sehen waren und listet 52 Kinos dieser Stadt auf, beginnend mit dem Roxy am Goetheplatz, endend mit dem Türkendolch in der Türkenstraße, die seither geschlossen worden sind –Kinos der Innenstadt, wie der Mathäser-Filmpalast, legendäre cineastische Treffpunkte wie das Studio in der Occamstraße in Schwabing und etwas entlegene Kinos wie das Metro in Ramersdorf. Was uns Michael mit dem Hinweis auf Filme und Kinos sagen will, ist: jeder Film, den wir gesehen haben, hat einen Zeitpunkt und einen Ort, wo wir ihm begegnet sind und an den wir uns – wenn wir das Kino lieben – erinnern. Vor allem von solchen Erinnerungen handelt dieses Buch.

Der Autor aktiviert damit auch unsere persönlichen Erinnerungen. Wenn er von seiner Kinosozialisation, von Filmen und Schauspielern erzählt, kommen fast zwangsläufig unsere eigenen Erlebnisse zum Vorschein, die – das ist natürlich generationsbedingt – ganz anders verlaufen sind.

Am 14. Oktober 1962, also am Tag, als Michael Althen geboren wurde, habe ich in Stuttgart den Film Die Geschichte der Nana S. von Jean-Luc Godard mit Anna Karina gesehen, zwei Tage später Ada Dallas von Daniel Mann mit Susan Hayward und Dean Martin und am Tag darauf in München die Westside Story von Robert Wise im Royal am Goethe Platz.

Ich kann das behaupten, weil ich von 1953 bis 1972 in Taschen-kalendern oder auf separaten Listen alle Kino-, Theater-, Opern- und Konzertbesuche, gelesene Bücher und gesehene Fernsehsendungen notiert habe. Als ich das vor ein paar Wochen hervorgekramt und meiner Frau Antje gezeigt habe, war sie unsicher, ob sie das als Dokumentation eines Buchhalters oder eines Verrückten einschätzen sollte.

Für mich persönlich sind vor allem meine Notizen aus den Fünfzigern aufschlußreich: zum Beispiel: 27. Oktober 1953: Casablanca. Mein Urteil – ich sage es heute beschämt – hieß „befriedigend“. Ich war damals 15 und gab den Filmen Schulnoten. Zwei Tage später sah ich den Film Die Stärkere. Der bekam die Note „sehr gut“ und ich weiß auch warum: weil Gertrud Kückelmann mitspielte, meine Lieblings-schauspielerin, von der ich 42 Autogramme verwahre – was meine Freunde zwar wissen, aber nie wirklich verstanden haben.

Zurück zu Michaels Buch: zweimal schreibt er wunderbare Dinge über Romy Schneider. Ihre Sissi-Zeit ist für ihn ein Nebenschauplatz. Ihre Erlösung aus der Phase der „Alpenschönheit“ fand für ihn durch Luchino Visconti und Alain Delon in Boccaccio ’70 statt, ihre Adelung in Frankreich durch Claude Sautet. Das mag ja so gewesen sein – aber vor der Erlösung und vor Sissi spielte sie ihre erste Rolle in dem Film Wenn der weiße Flieder wieder blüht. Da war ich 14 und entdeckte, daß Romy und ich am selben Tag im selben Jahr zur Welt gekommen sind. Ich teilte ihr das in einen sehr persönlich formulierten Brief mit und bekam auf einer schlecht gedruckten Postkarte die enttäuschende Nachricht, daß sie mir nicht individuell antworten könne, weil ich meinem Brief kein Rückporto beigelegt hätte. So etwas ist eine existentielle Erfahrung. Ich habe sie trotzdem als Sissi geliebt, und so gibt es in unserem Museum auch das dekorative rote Jagdkostüm zu sehen. Vor der späten Romy Schneider habe ich großen Respekt – aus vielen Gründen könnte ich ihre Aura aber nie so schön beschreiben wie Michael in seinem Buch.

Eine sehr originelle Passage ist Michaels sexuelle Mediensozialisation, erst im Fernsehen, bei Rainer Erlers Fleisch, in Anwesenheit der Eltern, dann bei der imaginären Vorstellung, wie es ihm zu dieser Zeit im Kino mit Bertoluccis Letztem Tango ergangen wäre, und schließlich in der Erinnerung an seine schwachsinnige Idee, mit einer wunderbaren Frau am ersten Abend in den Film 9 1/2 Wochen zu gehen. Was mochte sie denken, daß er sie in einen solchen Film geschleppt hat? Offenbar nichts nachteiliges, denn sie hat ihn später  trotzdem geheiratet.

Ich weiß gar nicht, ob man – im Vergleich dazu – Die Sünderin oder Sie tanzte nur einen Sommer Anfang der Fünfziger mit den für Sekunden zu sehenden nackten Busen von Hildegard Knef und Ulla Jacobsen als sexuelle Sozialisation bezeichnen kann. Als Erlebnis interessanter erscheinen mir heute die Vorführungen der Aufklärungs-filme Falsche Scham und Schleichendes Gift. Sie waren im Zugang geschlechtsspezifisch geregelt: Männer und Frauen durften sie in der Stadt, in der ich damals ins Kino ging, nur getrennt besuchen. Weil sie sich sonst geschämt hätten.

Die Katholische Kirche war ziemlich grundsätzlich gegen Sexuelles im Kino; ihre Benotungen im Film-Dienst hießen 2EE (für Erwachsene mit erheblichen Einschränkungen), 3 (Abzuraten) oder – wie bei der Sünderin – 4 (Abzulehnen). 3 und 4 waren für uns Mitte der Fünfziger Jahre interessante Versprechungen, fast so etwas wie Gütesiegel. Man durfte da im Kino nur nicht von einem Lehrer gesehen werden. Für Michaels Generation spielten Kirchenmeinungen keine Rolle mehr.

Seine Generation hat sich dem Film und dem Kino über das Fernsehen angenähert. Vor allem über die Serien. Das ist für mich eigentlich nur vorstellbar, wenn man es so schön und plausibel beschreibt, wie Michael in seinem Buch. In mancher Hinsicht scheinen mir jüngere Generationen privilegiert – im Blick auf das Kino sind sie für mich deutlich benachteiligt. Sie haben zum Beispiel die großen Westernfilme nicht synchron zur Entstehungszeit gesehen, sondern retrospektiv. Ohne die Hilfe von Anthony Mann und John Ford, James Stewart und John Wayne in den Fünfzigern wäre ich vielleicht nie zu einem Kinomenschen geworden. Ich habe die Filme naiv gesehen. Ich bin noch heute in der Gefahr, durch ihre Bilder und ihre Musik in die pure Emotionalität zurückzufallen. Ohne jede Scham.

Interessant ist Michaels Hinweis, dass der neue deutsche Film in den siebziger Jahren für die Vorstadtjugend nichts zu bieten hatte. Werner Herzog, Alexander Kluge und Volker Schlöndorff kommen in diesem Buch nicht vor. Andererseits haben Helmut Färber, Ulrich Kurowski und vor allem Frieda Grafe Michael Althen später den Blick für die Filmgeschichte geöffnet. Das liest man als schöne Hommage.

Gewidmet ist das Buch natürlich nicht Siegfried Kracauer oder Béla Balázs, sondern Teresa und Artur, an deren Erziehung wir früher gelegentlich im SZ-Magazin und neuerdings in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung teilnehmen dürfen. Sie sind Kinder von Eltern, die gern ins Kino gehen. Das lässt uns für ihre Zukunft hoffen.

Es ist ein Glücksfall, wenn jemand schon in relativ jungen Jahren zum Filmkritiker wird, sich ausprobieren kann, an prominenter Stelle publizieren darf, von einem Redakteur wie Peter Buchka gefördert wird, sich im Kreis von ähnlich gesinnten Enthusiasten bewegt und immer seinen ganz eigenen Ton findet. Wie schön für uns in Berlin, daß er vor einem Jahr den Mut zur Veränderung hatte. Und wie ermutigend für alle, die das Kino lieben, daß ein Verleger ein Buch ins Programm nimmt, das einfach nur von dem handelt, was im Kino passiert. Andererseits kann man dem Verleger auch dazu gratulieren, daß er einen Autor gefunden hat, der all das so wunderbar beschreibt.

Meine Damen und Herren, warten Sie also nicht unbedingt, bis es dunkel ist. Zum Lesen braucht man Licht. Ins dunkle Kino gehen Sie danach viel klüger. Lieber Michael, jetzt kommst Du. Sei ganz entspannt – denn dass wir heute Abend hier sind, ist ja vor allem eine Liebeserklärung an Dich.

Berlin, Filmmuseum, 19. September 2002