Texte & Reden
20. Mai 1997

Fred Zinnemann (1907-1997)

Nachruf für die Zeitschrift Film und Fernsehen

Er war nobel, bescheiden, selbstbewusst; ein eher kleiner Mann mit enormer Energie und großer Disziplin. Bis zuletzt konnte man ihn beinahe an jedem Werktag in seinem Büro in der Londoner Mount Street erreichen. Briefe wurden umgehend beantwortet: höflich, freundlich, aufmerksam. Eigentlich interessierte er sich nicht mehr übermäßig für seine Vergangenheit als Filmregisseur; er war neugierig auf die Gegenwart: Politik, Wirtschaft, Kultur. In seinen Meinungen hatte er eine – im besten Sinne – sozialdemokratische Position. Er war vernunftorientiert, auch wenn ihn das lange Leben und viele Erfahrungen den so genannten Fortschritten gegenüber skeptisch gemacht hatten.

1986 widmeten die Berliner Filmfestspiele Fred Zinnemann eine Retrospektive. Ich wusste, dass der Londoner Autor Neil Sinyard, der zusammen mit Adrian Turner ein kluge Buch über Billy Wilder verfasst hatte, grade ein umfangreiches Manuskript über Zinnemanns Filme abschloss, sicherte für die Kinemathek die Übersetzungerechte – und stieß anschließend auf Zinnemanns erbitterten Widerstand gegen Sinyards Text. Ihn hatte die Methode des Autors, in den Filmen diffizilste Zusammenhänge zu entdecken und zu beschreiben, aufs Äußerste geärgert.

Er fand das meiste daran falsch, spekulativ und irreführend. Wir einigten uns für die Publikation zur Berlinale auf einen Kompromiss: ein langes Interview, verschiedene Dokumente und Auszüge aus dem Sinyard-Text. Für das Gespräch fuhr ich im November 1985 mit Antje Goldau nach London. Wir lernen Fred Zinnemann persönlich kennen, wir mochten uns sifort.

Im Februar 1986 kam er zur Retrospektive für einige Tage nach Berlin – zum ersten Mal seit 1931. Sein Interesse galt weniger den Gegenden, in denen er Ende der zwanziger Jahre gewohnt oder gearbeitet hatte. Auch die obligatorischen Interviews waren ihm eher eine lästige Pflicht. Er wollte vielmehr eine Anschauung vom gegenwärtigen Berlin bekommen, von der geteilten, lebendigen widersprüchlichen Stadt. Die Gespräche drehten sich um politische Entwicklungen, nicht – oder nur peripher – um Zinnemanns Vergangenheit. Im Herbst 1986 besuchte er uns noch einmal, zu einem Seminar an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er war dabei mehr an den Filmen der Studenten interessiert als am Rückblick auf seine eigenen.

19 Kurzfilme und 21 lange Spielfilme hat Fred Zinnemann zwischen 1938 und 1982 gedreht. Gemessen an den umfänglichen Filmografien der prominenten amerikanischen Studioregisseure erscheint sein Werk fast schmal. Mit nur zwei Titeln ist er zum Klassiker geworden, mit dem Western HIGH NOON (ZWÖLF UHR MITTAGS) und dem Militärfilm FROM HERE TO ETERNITY (VERDAMMT IN ALLE EWIGKEIT). Aber es gibt mindestens neun weitere Filme, die in ihrer thematischen Bedeutung und ihrem erzählerischen Reichtum hohen rang beanspruchen dürfen: die Anna Seghers-Verfilmung THE SEVENTH CROSS (DAS SIEBTE KREUZ, 1944), die Geschichteder KZ-geschädigten Kinder THE SEARCH (DIEGEZEICHNETEN, 1948), der Film über Verrat und Rache ACT OF VIOLENCE (AKT DER GEWALT, 1949), das Kriegs- und Nachkriegsdrama TERESA (TERESE – DIE GESCHICHTE EINER BRAUT, 1951), der Afrika-Film THE NUN’S STORY (GESCHICHTE EINER NONNE, 1959), der Australien-Film THE SNDOWNERS (DER ENDLOSE HORIZONT, 1960), der Film über Thomas More A MAN FOR ALL SEASONS (EIN MANN ZU JEDER JAHRESZEIT, 1966), der politische Thriller THE DAY OF THE JAKAL (DER SCHAKAL, 1973) und die Lilian Hellman-Verfilmung JULIA (1977).

„Für mich ist das eigentlich Interessanteste am Filmemachen: Menschen in einer schwierigen Situation zu beobachten. Als ich ganz jung war, habe ich einmal eine Geschichte von Robert Louis Stevenson gelesen, in der er sagt ‚A man’s character is his destiny’ – eines Menschen Charakter ist sein Schicksal. Das heißt, wenn man einen Menschen in eine bestimmte Situation stellt, dann reagiert er gemäß seinem Charakter, und das führt ihn dann auf einen bestimmten Weg, bis wieder ein Kreuzweg kommt. Ich finde das sehr interessant. Und ich freue mich immer, wenn mir so eine Geschichte in den Schoß fällt, ob das jetzt A MAN FOR ALL SEASONS war oder THE NUN’S STORY oder HIGH NOON.“ (F.Z.)

Es sind nicht stilistische Elemente, sondern Figuren und Grenzsituationen, die Fred Zinnemanns Werk im Inneren zusammenhalten. Seine Hauptpersonen sind Menschen am zitierten Kreuzweg. Sie müssen sich in existentiellen Konflikten entscheiden, und die Entscheidungen haben mit Moral und Gewissen zu tun. Der amerikanische Soldat (Montgomery Clift) in THE SEARCH kümmert sich gegen jede Vernunft um ds elternlose Kind aus dem KZ und führt den Jungen auf einem komplizierten Weg zurück ins Leben. Der Bauunternehmer (Van Heflin) in ACT OF VIOLENCE, der im Kriegsgefangenenlager einen Fluchtplan verraten hatte, entkommt nicht der späten Rache des einzig überlebenden Kameraden. Er kann nur seine Familie aus dem Schlamassel heraushalten. Der querschnittgelähmte Kriegsheimkehrer (Marlon Brando) in THE MEN macht es sich und seiner Familie unendlich schwer, mit seiner körperlichen und seelischen Verkrüppelung weiterzuleben. Am Ende gibt es zumindest eine Hoffnung. Der amerikanische Soldat (John Ericson) in TERESA, der mit seiner jungen italienischen Frau 1945 nach New York zurückkehrt, muss sich mühsam von den Traumata des Krieges und aus der Umklammerung einer dominierenden Mutter befreien. Teresa (Pier Angeli) hilft ihm dabei bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Sie ist hier die wirkliche Heldin. – Die vier Filme bilden im übrigen eine eindrucksvolle Tetralogie über das Leben nach dem Krieg. Ihr Stil ist ein sozialer Realismus, der auch für gefühlsbetonte Szenen diskrete Bilder findet.

Die Reihe von Zinnemanns störrischen, ambivalenten Helden setzt sich dann fort mit dem Sheriff Kane (Gary Cooper) in HIGH NOON, der nur seiner inneren Überzeugung folgt, mit dem Soldaten Prewitt (Montgomery Clift) in FROM HERE TO ETERNITY, der gegen den militärischen Sadismus revoltiert, mit de Schwester Lukas (Audrey Hepburn), in THE NUN’ STORY, die ihr Gewissen über den Gehorsam gegenüber der Kirche stellt, mit der australischen Schaftreiberfamilie (Robert Mitchum und Deborah Kerr) in THE SUNDOWNERS, die nicht sesshaft werden kann, mit dem spanischen Widerstandskämpfer (Gregory Peck) in BEHOLD A PALE HORSE, der sich aus Liebe zu seiner Mutter in eine Falle locken lässt, mit dem englischen Gelehrten und Philosophen Thomas More (Paul Scofield) in A MAN FOR ALL SEASONS, der sich weigert, den König an Stelle des Papstes als Oberhaupt der englischen Kirche anzuerkennen, mit der amerikanischen Schriftstellerin Lillian Hellman (Jane Fonda) und ihrer Freundin Juia (Vanessa Redgrave), die sich gegen die Nazis zur Wehr setzen (JULIA).

Zinnemanns Filme, beginnend mit seinem Dokumentarfilm REDES (1935, Kamera: Paul Strand) und dem Spielfilm THE SEVENTH CROSS sind „politisch“, indem sie an den Willen zur Verantwortung des einzelnen appellieren. Sie handeln von Wahrheit, von Moral und von der Kraft der Liebe. Sie vertrauen der Stärke des Individuums. Aber die Siege der Individuen werden nicht leicht errungen. In entscheidenden Augenblicken sind die „Helden“ manchmal sehr einsam.

Alfred Zinnemann war ein Europäer, geboren und aufgewachsen in Wien, ausgebildet zum Kameramann an der „Ecole Technique de Photographie et Cinématographie“ in Paris. Er arbeitete als Kameraassistent in Berlin (bei ICH KÜSSE IHRE HAND, MADAME!, SPRENGBAGGER 1010 und MENSCHEN AM SONNTAG) und ging 1929 nach Amerika. „Amerika war ein außerordentlich freies Land und es kam nicht darauf an, damals, wie reich oder arm Sie waren, sondern es kam darauf an, was für ein Mensch Sie waren. Damals hat man sehr viel Platz gehabt. In Kalifornien war es so leer, dass die Menschen sich gerne gesehen haben. Sie hatten sich viel zu sagen. Jetzt ist das natürlich alles ganz anders.“ (F.Z.)

In den dreißiger Jahren hat Zinnemann vor allem gelernt – als Regieassistent bei Berthold Viertel, als Kurzfilmregisseur bei MGM. In den Vierzigern hatte er einen Sieben-Jahres-Vertrag als Spielfilmregisseur bei MGM. Als ihm die Drehbücher nicht mehr gefielen, ging er auf Kollisionskurs mit dem Studio. Seit den fünfziger Jahren hatte er keinen festen Vertag mehr. Er arbeitete – projektbezogen – für United Artists, Columbia, 20th Century-Fox, Warner Brothers. „Ich habe nie einen Film gemacht, der nicht mit amerikanischem Geld finanziert wurde. Vielleicht ein Zufall. Aber ich verstehe nicht sehr viel von finanziellen Sachen und fühle mich irgendwie sicherer, wenn ich mit den Amerikanern arbeite.“

Fred Zinnemann hat mit vielen großen Stars des amerikanischen Films gearbeitet und mit ußerordentlichen Kameraleuten (Karl Freund, Emil Berna, Robert Surtees, Flyod Crosby, Hal Mohr, Franz Planer, Douglas Slocombe, Giuseppe Rotunno), Er war anspruchsvoll, penibel, auch störrisch. Verschiedene Projekte scheiterten in der Vorbereitungsphase, weil er die Produktionsbedingungen nicht akzeptieren konnte. Nur selten übernahm er eine Arbeit zum reinen Broterwerb. Mit seinem letzten Film (FIVE DAYS ON SUMMER, 1982) erfüllte er sich einen Lebenstraum: Er wollte wenigstens einmal im Gebirge drehen.

Als wollte er einer neuerlichen Ehrung ausweichen, ist Fred Zinnemann wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, an einem Freitagnachmittag, in seinem Büro gestorben: Sein Herz hörte auf zu schlagen.

Film und Fernsehen (Berlin) 1997, Nr. 2