Texte & Reden
10. November 1991

Wim Wenders / Deutschland

Vorrede zu einer Veranstaltung in den Münchner Kammerspielen

Meine Damen und Herren, lieber Wim Wenders,

wo und wie mit der Vorrede beginnen bei einem Mann, über den in letzter Zeit so viel gesprochen und geschrieben wurde? Der Disput über seinen neuen Film ist noch im Gange. Doch ich scheue mich, die geographische Ferne und philosophische Weite des Filmtitels apho-ristisch mit der Nähe des heutigen Themas zu verbinden. Die schönen Titel einiger Filme von Wim Wenders verführen ja leicht dazu, als Sentenzen oder Metaphern benutzt zu werden. Wie ihm aber – vor seiner Rede über das eigene Land – näher kommen? Ich denke darüber nach, wie alles angefangen hat.

Ein Film von Roberto Rossellini heißt germania anno zero / deutschland im jahre null. Gemeint ist das Jahr 1945. Ob dies wirklich eine Stunde Null oder ein Jahr Null war, gilt mit Recht als strittig. Wie sich auch die Frage stellt, was damals Zusammenbruch und was Befreiung war. Unstrittig – jenseits jeder ideologischen Interpretation – ist das Elend des Jahres 1945: ungezählte Tote, Vermisste, Gefangene, Flüchtlinge. Ruinen, Hunger, Not, Angst.

Am 14. August 1945 wird Ernst Wilhelm Wenders, Sohn eines Arztes, in Düsseldorf geboren. Der Krieg in Europa und die Nazi-Diktatur sind drei Monate zuvor zu einem Ende gebracht worden. Durch die Rote Armee und die amerikanischen Truppen. Am 14. August kapituliert Japans Regierung, ohnmächtig nach dem Grauen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.

Ernst Wilhelm Wenders wird im August 1945 in eine Welt geboren, deren Verwüstung irreparabel erscheint, deren Aufteilung in westliche und östliche, in kapitalistische und kommunistische Einflusssphären auf Jahrzehnte das Denken und Handeln bestimmt. Auch und vor allem in Deutschland.

Am 14. August 1945 – und das ist jetzt keine seiner süffisanten Anekdoten – saß Billy Wilder in Berlin an einer Schreibmaschine. Er war Berater für Filmangelegenheiten bei der Information Control Division, eine Art Filmoffizier. Er beaufsichtigte die Montage des schockierenden Dokumentarfilms die todesmühlen und befasste sich mit der Reorganisation der deutschen Filmwirtschaft. Ich zitiere aus seinem Bericht:

„Zur Zeit eröffnen wir also nach und nach die Filmtheater in Deutschland wieder. Wir zeigen den Deutschen in unseren Dokumentarfilmen einige Fakten, die sie kennenlernen und gut in Erinnerung behalten sollten. Wir zeigen ihnen Wochenschauen, die mit den Nachrichten gleichzeitig eine Lehre, eine Mahnung und eine Warnung verbinden. Zweifellos ist gute Arbeit geleistet worden. Die Deutschen sind im Allgemeinen sehr empfänglich, und die Reaktion ist positiv. Die Besucherzahlen schwanken zwischen ausverkauft und zufrieden stellend. Und doch wissen wir alle: Wenn dieses Neue seinen Reiz verloren hat, wird es immer schwieriger werden, ihnen so direkte Lektionen zu geben. Werden die Deutschen weiterhin Woche für Woche ins Kino kommen, um den schuldbewussten Schüler zu spielen? Wir werden ihnen selbstverständlich unsere Spielfilme zeigen, die reine Unterhaltung neben den Dokumentarfilmen. Und sie werden natürlich kommen. Aber wir werden sie wahrscheinlich apathisch durch diese Dokumentarfilme und erzieherischen Wochenschauen dösen sehen – dann wach und bereit für Rita Hayworth in cover girl.

cover girl ist gewiss ein guter Film. Er hat eine Liebesgeschichte, er hat Musik und ist in Technicolor. Für unser Programm zur Umerzie-hung der deutschen Bevölkerung nützt er allerdings nicht viel. Wenn man nun aber einen Unterhaltungsfilm mit Rita Hayworth, Ingrid Bergman oder Gary Cooper machte, in Technicolor, wenn Sie wollen, und mit einer Liebesgeschichte – freilich mit einer ganz speziellen Liebesgeschichte, raffiniert gemacht, um ein bisschen Ideologie an den Mann bringen zu helfen – mit einem solchen Film hätten wir ein glänzendes Stück Propaganda in der Hand. Sie würden vor den Kassen Schlange stehen, und wenn sie ihn erst gesehen hätten, würde er haften bleiben. Leider gibt es diesen Film noch nicht. Er muss gemacht werden. Ich möchte ihn machen.“

Wilder hat dann einen anderen Film gemacht, a foreign affair, mit Marlene Dietrich und Jean Arthur. Aber sein Statement vom 14. August 1945 über Wirkungsweisen des Films, geschrieben am Tage, als Wilhelm Wenders geboren wurde, sensibilisiert uns für ein paar Überlegungen zur Arbeit von Wenders.

Diese Arbeit ist geprägt von einem außerordentlich reflexiven, verantwortungsbewussten Umgang mit Bildern und Tönen. Nichts ist Wenders fremder als ein propagandistischer Effekt. Er will auch nicht lehren, nicht mahnen, nicht warnen und schon gar keine Ideologie verbreiten. Er will mit dem Akt des Sehens dem Zuschauer eine Freiheit des Denkens und Fühlens ermöglichen. Wenders ist unter den Erzählern im deutschen Kino einer, für den Bilder – also visuelle Einstellungen – noch mit einer inneren Einstellung, also mit Haltung und Moral verbunden sind.

Dies bringt mich dazu, ein zweites Zitat in meine Vorrede aufzuneh-men. Im Sommer 1977 wurde in der Bundesrepublik der Film hitler – eine karriere von Joachim Fest und Christian Herrendoerfer aufgeführt. In einem brillanten Text hat Wim Wenders damals kritisch für die Zeit auf den Film reagiert und an einer Stelle verallgemeinernd geschrieben:

„Ich rede für alle die, die in den letzten Jahren, nach einer langen Leere, wieder angefangen haben, Bilder und Töne zu produzieren in einem Land, das ein abgrundtiefes Misstrauen hat in Bilder und Töne, die von ihm selbst erzählen, das deshalb 30 Jahre lang begierig alle fremden Bilder aufgesogen hat, wenn sie sie nur von sich selbst abgelenkt haben. Ich glaube nicht“, schrieb Wenders damals, „dass es irgendwo sonst einen solchen Verlust an Zutrauen in eigene Bilder, eigene Geschichten und Mythen gibt wie bei uns. Wir, die Regisseure des Neuen Kinos, haben diesen Verlust am deutlichsten gespürt, an uns selbst in dem Mangel, der Abwesenheit der eigenen Tradition, als Vaterlose, und an den Zuschauern in ihrer Ratlosigkeit und ihrer anfänglichen Scheu. Erst langsam haben sich diese Abwehrhaltung auf der einen und der Mangel an Selbstvertrauen auf der anderen Seite aufgelöst, und in einem Prozeß, der vielleicht noch ein paar Jahre dauern wird, entsteht hier wieder das Gefühl, dass Bilder und Töne nicht nur etwas Importiertes sein müssen, sondern von diesem Land handeln und auch aus diesem Land kommen können.“

Es mag wohl sein, dass sich diese Wenders-Hoffnung, von heute aus gesehen, nicht erfüllt hat. Auch er selbst hat sich ja immer wieder die Freiheit genommen, zum eigenen Land auf Distanz zu gehen, nach Los Angeles, Tokio, Paris oder Sydney. Er hat in Berlin seinen Wohnsitz, er arbeitet in der Welt.

Aber sechs lange Filme von Wim Wenders, gedreht zwischen 1969 und 1987, spielen in Deutschland, handeln von Deutschland. Ihre Geschichten finden in München und Berlin statt, im Ruhrgebiet, zwischen Glückstadt in Holstein und der Zugspitze, auf einem langen Weg von Lüneburg nach Hof, in Hamburg und noch einmal in Berlin.

Es sind eigentlich alles Reisefilme: Erforschungen von Schauplätzen, Erkundungen über Menschen, die unterwegs sind. Charakteristisch für Wenders’ Filme ist die Neugier der Kamera auch für das, was neben der Handlung passiert. Nennen wir es einfach: einen Reichtum an erzählerischen Perspektiven. Norbert Grob und auch Peter Buchka haben das in ihren Wenders-Büchern sehr genau beschrieben.

Der Blick auf das eigene Land wirkt dabei nie nur dokumentarisch, registrierend, beobachtend, auch wenn die Aufmerksamkeit für den Zustand der Landschaften, der Städte, der Straßen ein zentrales Moment seiner Filme ist. Bei Wenders gehören immer Geschichten dazu – meist Männer-Geschichten – , die sich mit dem Zustand der Realität verweben. Dies bestimmt den Rhythmus der Filme und ihr Verhältnis zu uns, den Zuschauern.

Wir gewinnen bei ihm Vertrauen gegenüber den Bildern und Tönen, die ja auch von uns erzählen. Dafür danken wir Wim Wenders, dem Filmemacher, geboren 1945 in Deutschland, der jetzt zu uns, über uns und ich denke auch: über sich reden wird.

München, Kammerspiele, 10. November 1991

(abgedruckt in: Reden über Deutschland 2. München: Bertelsmann 1991; dort ist auch die Rede von Wim Wenders publiziert.)