Texte & Reden
19. März 1965

Western zwischen Traum und Wirklichkeit

Text über die Retrospektive in Oberhausen für die Stuttgarter Zeitung

Der amerikanische Western findet neuerdings große Zuneigung in Deutschland. Aus einst hochmütiger Ablehnung hat sich beim seriösen Publikum eine Bewunderung entwickelt, die viele Anzeichen einer Schwäche trägt. Es fehlt allerdings nicht an Versuchen, die Western- welle für die kritische Betrachtung der bisher leidlich missachteten Gattung zu nutzen. Findige Verleihgesellschaften leisten dabei mit der Wiederaufführung alter Titel Hilfestellung. Die beste Informations-schau hat sich jetzt in Oberhausen, im Retrospektivprogramm der Kurzfilmtage ereignet. 22 Western aus den Jahren 1904 bis 1961 wurden dort jenen unverzagten Festspielgästen vorgeführt, die sich bereits am Vormittag auf ein „action“-Programm einließen.

Die Auswahl – verantwortet von Peter H. Schröder und Uwe Nettelbeck – muss im Zusammenhang mit dem Kinospielplan gesehen werden. Wichtige Western sind gerade in den Theatern zugänglich (DER RITT ZUM OXBOW von William W. Wellman, RED RIVER von Howard Hawks, WINCHESTER 73 von Anthony Mann), bei andere steht der Einsatz bevor (WAGONMASTER von John Ford, UNION PACIFIC von Cecil B. DeMille, RIO BRAVO von Hawks). In manchen Fällen war es nicht gelungen, eine Kopie aufzutreiben oder die Rechte zu erwerben. Die wertvollsten Stücke stellte die Cinémathèque Française zur Verfügung, ein Beitrag wurde aus den USA eingeflogen (Kostenpunkt: 1000 Mark), einige Synchronfassungen steuerten hiesige Verleih-filialen bei. Als theoretischen Überbau hat Peter H. Schröder eine sehr verdienstvolle Dokumentation zusammengestellt. So erhielt das Unternehmen filmhistorischen Anspruch.

Die Kenntnisse über den Western der Stummfilmzeit sind hierzulande ja recht kümmerlich; Namen und Titel kennen wir nur aus zweiter Hand. In Oberhausen waren immerhin drei wichtige „große“ Filme und einige Kuriositäten zu sehen. Im Eröffnungsprogramm passierte leider ein organisatorisches Missgeschick: statt Edwin S. Porters THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903), der den Beginn der Western-geschichte markiert, wurde Sigmund Lubins Remake dieses Films (1904) gezeigt. Der Irrtum konnte innerhalb der Festspielwoche nicht mit der Vorführung des Originals korrigiert werden. Es sollte indes einen filmgeschichtlich so ehrgeizigen Verleih wie „atlas“ reizen, Porters Zehn-Minuten-Film als Vorprogramm einem modernen Western gegenüberzustellen. Mit THE MAKING OF BRONCHO BILLY (1909), THE SOLDIER’S HONOUR von Thomas H. Ince (1912), THE STAGECOACHDRIVER AND THE GIRL (mit Tom Mix, 1913) und HELL’S HINGES (von und mit William S. Hart, 1916) waren einige typische Serienwestern aus der Jugendzeit des amerikanischen Films zu sehen. Obwohl die kurzen Stücke heute unfreiwillig komisch wirken, ist die beabsichtigte Mythisierung der Helden noch spürbar.

Eine erste Vervollkommnung erfuhr der Western in den frühen zwanziger Jahren. Aus dieser Zeit waren in Oberhausen drei Filme zu sehen: THE LAST OF THE MOHICANS (Regie: Maurice Tourneur, 1921), THE COVERED WAGON (James Cruze, 1923) und THE IRON HORSE (John Ford, 1924). In diesen Filmen manifestierte sich der Drang nach realistischer und atmosphärischer Darstellung. Der endlose Zug der Planwagen nach Westen (bei James Cruze) und der aufwendige Bau der gr0ßen Eisenbahnverbindung zwischen Ost und West (bei John Ford) – das sind historische Rekonstruktionen, durchsetzt mit Spielhandlungen, episch breit konzipiert. Der künstlerischen Gestaltung kam damals natürlich auch die technische Perfektionierung zu Hilfe.

Mit vier typischen Beispielen war der Western der dreißiger Jahre vertreten: CIMARRON (Regie: Wesley Ruggles, 1931), THE TEXAS RANGERS (King Vidor, 1936) und JESSE JAMES (Henry King, 1939). Bisher kannten wir nur Anthony Manns Remake von CIMARRON (1960, in der Titelrolle Maria Schell, doch die Neufassung ist nicht auf der Höhe des Originals. Der Film von Ruggles wirkt in der Organisation der Masse, die sich 1889 auf den beschwerlichen Weg nach Oklahoma machte, dokumentarischer und dennoch dramatischer. Auch von den TEXAS RANGERS war bisher nur ein minderwertiges Remake bekannt. King Vidors Film reiht einige Episoden aus dem Leben der berühmten Schutztruppe aneinander und hält sie durch drei verbindende Hauptfiguren zusammen. Natürlich ist gerade bei diesem Thema die Heroisierung besonders deutlich zu spüren, da nicht nur ein Einzelgänger, sondern ein kollektiv zur Legende stilisiert wurde. Drei weithin bekannte Figuren stehen im Mittelpunkt von DeMilles PLAINSMAN: Bill Hickok, Buffalo Bill und Calamity Jane. Die Sympathien werden eindeutig zu Hickok verschoben, während Buffalo Bill nur eine Salonrolle zugestanden bekommt. In epischer Ausführlichkeit erzählt DeMille die schönsten Abenteuer der drei, wobei Calamity Jane, sonst eher raubeinig als weiblich, stark sentimentalisiert wirkt. Eine große Rolle spielt die Mythisierung bei Jasse James, einem Outlaw, dessen Schicksal in zahlreichen Filmversionen verbreitet ist. Bei Henry King (in der Darstellung von Tyrone Power) wird im Balladenton die Rechtfertigung jenes eigentlich negativen Helden unternommen.

Als Beispiel des Western der vierziger Jahre stand nur John Fords FAUSTRECHT DER PRÄRIE (eigentlich: MY DARLING CLEMENTINE, 1946). Henry Fonda spielt da den Sheriff Wyatt Earp, der in der Stadt Tombstone zusammen mit dem legendären Doc Holliday für Recht und Ordnung sorgt. Die Poesie, der volksliedhafte Ton und die formale Dichte von CLEMENTINE sind in keinem Western sonst erreicht worden.

Die Entmythisierung des Helden setzte mit Henry Kings THE GUNFIGHTER (1950) ein. Gregory Peck ist dort ein Revolverheld, der sich selbst überlebt hat – übrigens handelt es sich dabei um jenen Johnny Ringo, den elf Jahre zuvor John Wayne in dem berühmten John-Ford-Film STAGECOACH noch als ungebrochenen Typ darstellen durfte. Bei King ist Ringo am Ende seiner Laufbahn angekommen, er stirbt einen ganz sinnlosen Tod, eben weil mer seine Rolle ausgespielt hat. Geradezu wie ein Märchen nimmt sich dagegen George Stevens’ SHANE (1953) aus, ein Western, der die Reduktion auf den Mythos betreibt und bis ins Detail den amerikanischen Traum vom Helden reflektiert. Hier sind dem Retter in der Not (Alan Ladd) fast transzendente Züge zugeteilt, die noch durch den ästhetisierenden Stil des Films gefördert werden.

Zwei außergewöhnliche, doch keineswegs „klassische“ Western, die längst aus dem Kinorepertoire verschwunden sind, wurden mit Recht in die Retrospektive einbezogen: JOHNNY GUITAR von Nicholas Ray (1954) und HÖLLE DER TAUSEND MARTERN von Sam Fuller (1956). Bei Ray ist eine Anthologie von Westernmotiven zu finden, da das rasche Tempo seines Films eine Fülle von Ereignissen provoziert. Die Figuren – in vorderer Linie: Joan Crawford – handeln als stilisierte Inkarnationen. Ganz anders in Fullers Film: seine Hauptfigur, ein Soldat der Südstaaten, der sich von den Weißen lossagt und aus Hass gegen die siegreichen Nordstaatler Sioux wird, hat in der Westerntypologie keinen Platz. Im Zentrum des Films steht der Kampf zwischen Weißen und Indianern, doch es werden keine Legenden erzählt, sondern mögliche Wahrheiten, wo destillierte Helden nicht existieren können.

Das restliche Programm aus den für den Western so fruchtbaren fünfziger Jahren war mit einigen gängigen Titeln bestückt: COWBOY von Delmer Daves, STADT IN ANGST von John Sturges, DIE LETZTE JAGD von Richard Brooks, EINER GIBT NICHT AUF von Budd Boetticher (der neuerdings besonders hoch eingeschätzt wird), schließlich SACRAMENTO von Sam Peckinpah als Schlusspunkt, fast als Elegie, da die Helden nun alt und für den Mythos unbrauchbar geworden sind.

Der Bogen vom frühen Stummfilm- bis zum modernen Adult-Western ist in Oberhausen erstmals so bewusst und mit kritischer Überlegung gespannt worden. Es war ja nicht beabsichtigt, nur ein unverbindliches Vergnügen zu arrangieren; die Idee war vielmehr, eine „unterhaltsame Retrospektive und eine trotzdem nicht unnütze“ zu veranstalten. Dieses Understatement hat zu einigen Missverständnissen geführt. Die Zuschauer waren durchaus aufgefordert, sich zu dem großen Angebot von Heldengeschichten distanziert zu verhalten, so, wie es die Initiatoren auch getan haben. Nicht eine Apologie des „Bumsfilms“ sollte stattfinden, sondern die Chance zu vernünftiger Orientierung. Aus den 22 Beispielen, auch wenn sie nicht repräsentativ ausgewählt werden konnten, ließen sich viele Rückschlüsse auf das quantitativ führende Genre des Films ziehen. Gleichzeitig galt es, die Affinität des Western zur amerikanischen Geschichte zu beobachten. Die Historie ist auf vielfache Weise im Western korrigiert worden und für das Geschichtsbild des Amerikaners ist das Schwanken des Films zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit von großer Bedeutung. Sich darüber einige Klarheit zu verschaffen, war in der Tat „nicht unnütz“.

Stuttgarter Zeitung, 19. März 1965