Texte & Reden
10. Dezember 1961

THE BLUE ANGEL (1959)

Referat im Institut für Publizistik der FU

Das Thema dieses Seminars, „Vergleichende Analysen zur verfilmten Literatur“, und die bislang vorgelegten Arbeiten sahen die Aufgabenstellung vornehmlich in einer Untersuchung der Diskrepanz zwischen literarischer Vorlage und filmischer Adaption. Im Fall der amerikanischen Version des BLAUEN ENGEL  handelt es sich nun weniger um die Verfilmung eines Werkes der Literatur – obwohl der Stoff Heinrich Mann Roman „Professor Unrat“ entlehnt ist – als um die Neuverfilmung eines Leinwanderfolges der beginnenden dreißiger Jahre. Der Vorspann des 1959 entstandenen 20th Century-Fox-Films THE BLUE ANGEL verteilt die Verantwortung so: „Drehbuch Nigel Balchin / unter Verwendung von Motiven des Drehbuchs von Karl Zuckmayer, Karl Vollmüller und Robert Liebmann / nach einem Roman von Heinrich Mann“ (zitiert nach dem Presseheft, Frankfurt am Main 1959). Der 1930 von Erich Pommer produzierte und von Josef von Sternberg inszenierte Film DER BLAUE ENGEL war dem Referenten während seiner Arbeit leider nicht zugänglich. Auf gelegentliche Zitierungen dieses Werkes konnte allerdings nicht verzichtet werden, und eine Analyse hätte wohl noch manche Quellenfrage gelöst. Eine Reihe strittiger Vermutungen muss so entschuldigt werden.

Die Bemühungen um einen Vergleich zwischen dem Film THE BLUE ANGEL und dem Roman „Professor Unrat“ wurden noch durch einen Ausspruch von Curd Jürgens angespornt. Der Hauptdarsteller des Films sagte während der Dreharbeiten: „Wir halten uns viel weniger an den alten Film – den wir natürlich auswendig kennen – sondern im Grunde an Heinrich Manns Roman ‚Der blaue Engel’.“ (Presseheft, S. 7). Im Gegensatz zu dieser vorsorglichen Apologie ist in den 40 zu Rate gezogenen Kritiken nur 25mal von Heinrich Manns Roman, jedoch 35mal von Emil Jannings, Marlene Dietrich und seinem „großen deutschen  Filmerfolg“ die Rede. Der verbittertste Ausruf stammt von Hans Helmut Kirst, den die Neufassung des BLAUEN ENGEL zu dem Vergleich anregt: „Fast ebenso könnte man verkünden: die Mona Lisa – neu gemalt.“ (Münchner Merkur, 3.12.1959). Versöhnlicher ist die Freie Presse Bielefeld, die tatsächlich meint, dass „der stoffliche Vorwurf von Thomas Mann…auch von den Amerikanern nicht totzukriegen“ sei. (22.7.1960). Nicht zuletzt dieses Urteil möchten wir in unserer Untersuchung widerlegen.

1. Die Handlung des Romans

Der Film THE BLUE ANGEL begnügt sich nicht mit einer Verein-fachung der vielschichtigen Struktur der literarischen Vorlage, sondern er entfernt sich, vor allem in der zweiten Hälfte, auch von der Handlung des Romans. Heinrich Mann gräbt von Beginn an eine Kluft zwischen dem tyrannischen Professor Unrat und seinen Schülern, seiner Umwelt. So beginnt der Roman: „Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat.“ (Heinrich Mann, Professor Unrat, Hamburg 1951, S. 5). Aufstieg und Fall des Tyrannen Unrat werden vorangetrieben durch die Bemühungen des Professors, seine Schüler – die präsenten und die ehemaligen – bei Nennung seines Pseudonyms zu „fassen“. Zu der ersten Begegnung mit der „Künstlerin Rosa Fröhlich“ (im Film „Lola-Lola“ genannt) kommt es, als sich Unrat am „Allerschlimmsten“ der Schüler, Lohmann, rächen will. Er findet im Aufsatzheft des Schülers eine Hymne an die Künstlerin und begibt sich auf die Suche nach ihr, um Lohmann dort zu fassen. Sein langer Irrweg durch die Stadt endet in der Hafenkneipe zum „Blauen Engel“, wo das gesuchte Subjekt als Sängerin auftritt. Schon am ersten Abend, den er in der Garderobe der Künstlerin verbringt, spürt Unrat hier eine fremde Macht, die ihm in ihrer offenbaren Gleichberechtigung bei der Überwindung des gemeinen Volkes behilflich sein könnte. Er trennt seine Schüler von Rosa und nimmt den frei gewordenen Platz bei ihr ein. Die abendlichen Besuche im „Blauen Engel“, anfangs eine angenehme Pflicht, werden ihm bald zur lieben Gewohnheit. Für Unrat ist Rosa jedoch weniger eine begehrenswerte Frau als ein Instrument zur Fortsetzung seiner Rache mit neuen Mitteln.

Als die Spießbürger der Stadt die Entlassung des Professors aus dem Schuldienst erreichen, gründet Unrat einen Hausstand und heiratet die Künstlerin. Bis zu diesem Punkt sind Ähnlichkeiten der äußeren Handlungsführung in Film und Roman erkennbar. Die Gesellschafts-kritik des Romans steigert sich nun ständig bis zum Fall des Tyrannen. Im Hause Unrats versammelt sich bald ein Kreis von Gästen, der schnell zu wachsen beginnt. Hier wird gespielt, getrunken, getanzt und geliebt. Angesehene Bürger verlieren ihre Existenz am Spieltisch, der Tyrann Unrat wird zum Anarchisten, der nicht mehr nur „fassen“, sondern nur noch vernichten will, die Künstlerin Fröhlich an seiner Seite ist eine angebetete Verderberin, ein neuer Gott der Stadt. Als Unrats größter Gegenspieler Lohmann in die Stadt zurückkehrt und von dem Professor bei Rosa entdeckt wird, scheint allerdings „sein ganzes strafendes Vernichtungswerk umsonst“ gewesen zu sein. Unrat versucht, seine Frau zu erwürgen, und raubt, halb wahnsinnig, Lohmanns Brieftasche. Da übergibt ihn der ehemalige Schüler der Polizei: die Stadt ist befreit von ihrem Tyrannen, die Grundlage für eine neue Ordnung ist geschaffen.

2. Die Verschiedenheit der Charaktere

A. Professor Unrat

Heinrich Manns Professor Unrat ist Lehrer für Deutsch, Griechisch und Latein am Gymnasium einer Kleinstadt. Er gilt als unbeliebt und ist nicht nur als Einzelgänger, sondern auch als Tyrann und Verächter der menschlichen Gesellschaft bekannt. Seine Umwelt pflegt er in Gruppen einzuteilen: in Schüler – und die meisten Bürger der Stadt waren das einmal – , die er beim Nennen seines Namens hatte fassen können, und in Schüler, denen er nichts hatte beweisen können. Es ist Unrats Lebensziel, möglichst viele Schüler zu fassen und am Boden zu zerschmettern. Wo ihm das nicht gelingt, will er sie zumindest „beträchtlich in ihrer Laufbahn aufhalten“, indem er sie nie das Ziel der Klasse erreichen lässt. Jedes Mittel ist ihm im Kampfe recht. So müssen die Schüler über ein nicht existierendes Gebet in der „Jungfrau von Orleans“ einen Aufsatz schreiben, und Unrat kann sich an den vergeblichen Bemühungen seiner Schüler weiden. Wer Widerstand leistet, kommt ins „Kabuff“. Nach der Anzahl der Schüler, die der Professor gefasst hat, pflegt er ein Jahr als gut oder schlecht zu beurteilen.

Zu den tyrannischen Zügen kommen bei Unrat auch spießbürgerliche Eigenschaften. Dazu gehören sein Sinn für Pünktlichkeit, seine ausgeprägte Ordnungsliebe, seine am Übersetzungsdeutsch orientierte Sprechweise. Im Umgang mit anderen Menschen ist Unrat sehr unbeholfen. Da er nur den Umgang mit seinen Schülern gewohnt ist, macht es ihm große Schwierigkeiten, sich mit Personen der einfachen Volksschichten zu unterhalten, ohne dabei lächerlich zu wirken.

Obwohl Unrat einmal verheiratet war, ist er auch im Umgang mit Frauen recht unerfahren. So scheint es erklärlich, dass er von der attraktiven Rosa Fröhlich gefesselt wird und sie zeitweilig nicht nur als Machtinstrument betrachtet. Aber die Spuren einer Liebe überwindet er, als die Künstlerin während einer Gerichtsverhandlung einen Betrug mit einem Schüler an ihm gestehen muss. Unrat versöhnt sich mit Rosa, um sie wieder als Instrument seiner Rache zu gewinnen.

Nach der Hochzeit wird der Tyrann zum Anarchisten. Es ändert sich nicht nur sein eigenes Leben, sondern die Ordnung der ganzen Stadt wird durch ihn zerstört. Bei den Festen, die in Unrats Haus stattfinden, kann er jene Menschen zugrunde richten, die er sonst nicht hätte fassen können. Professor Unrat ist Herrscher über die Stadt. Neben ihm steht nur die Künstlerin Fröhlich, die er nach Bedarf gegen ehemalige Schüler einsetzt, um diese zu zerschmettern. Vom höchsten Gipfel seiner Macht fällt der Tyrann erst, als er an seinem unerreichbaren Gegner zum Verbrecher wird.

Im Film wird der Menschenhass des Professors reduziert auf die Enttäuschung eines Mannes, der im Leben zu kurz gekommen ist. Professor Raat, nur von einem einzigen respektlosen Schüler Unrat genannt, ist wohl nicht mehr und nicht weniger beliebt als andere Lehrer; seine weltfremde Denkweise macht ihn allenfalls zum  Gespött, nicht aber zum Ärgernis für die Schüler Der Professor des Films ist ein Spießbürger ohne tyrannische Züge, der ein Opfer seiner Unerfahren-heit wird. Der einzige rebellische Entschluss, den er in seinem Leben fasst, führt zu jener verhängnisvollen Hochzeit mit dem Tingel-Tangel-Mädchen. Die Versklavung in seiner  neuen Umgebung erträgt er mit der gleichen Konsequenz wie früher sein Beamtendasein. Der Mord-versuch an Lola, provoziert durch ihren Demonstrations-Kuss während seines Auftritts, ist ein privater Eifersuchtsakt, die summierende Rache gegen laufende Erniedrigungen und schließlich die Rehabilitierung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihm sein Scheitern frühzeitig prophezeit hatte. Damit ist die Rebellion absorbiert, der Rückkehr ins bürgerliche Dasein steht nichts mehr im Wege, und die Pädagogik hat ihn wieder.

B. Rosa Fröhlich – Lola-Lola

Heinrich Manns „Künstlerin“ Rosa Fröhlich ist Mitglied eines umher-ziehenden Schauspieler-Trios. Im „Blauen Engel“ unterhält sie mit ihren Liedchen ein vorwiegend dem Hafenmilieu entstammendes Publikum. In drei Sekundanern des Gymnasiums hat sie Verehrer gefunden, die ihr Wein spendieren und den Kitzel unerlaubter Erlebnisse bei ihr verspüren. Für Rosa sind die Schüler nur ein vorübergehendes Amüsement, auf das sie verzichten kann, als sie Professor Unrat kennen lernt. Unrat ist zwar nicht das Prachtexemplar eines Mannes, aber er gewinnt die Künstlerin durch seine Unerfahrenheit, seinen Titel und vielleicht auch durch sein Geld. Rosa gewöhnt sich schnell an ihn, sie lässt es mit einem gewissen Stolz zu, dass er hartnäckige Verehrer abweist, dass er kleine Handreichungen übernimmt, und sie beginnt sogar, ihn zu lieben. Der Heiratsantrag wird akzeptiert, um aus dem verleideten Flitterdasein herauszukommen. Rührend sind Rosas Bemühungen, Unrat zu gefallen. Sie beginnt Griechisch zu lernen, zwar mehr aus einer Laune heraus, aber sie zeigt so ihr Bestreben, in seine Welt Einblick zu bekommen. Das ändert sich, als der Geist der Anarchie in die Villa Unrat einzieht. Rosa betrügt ihn nun mit anderen Männern, sie vermeidet es jedoch, ihn zu verletzen, ja, sie betrügt ihn im Grunde mit seiner Billigung, als sein Instrument. Erst als sie sich mit Lohmann einlässt, rebelliert sie gegen ihn und wird fast das Opfer seines Wahnsinns. Ihr Anspruch auf tyrannische Ebenbürtigkeit fordert schließlich den gemeinsamen Sturz mit Unrat.

Lola-Lola ist der Star einer gastierenden Revuetruppe, das Idol einiger Primaner des Gymnasiums. Ihr Publikum bringt Stimmung und gute Manieren mit. Für sie ist der Professor ein gehemmter, im Grunde aber attraktiver Mann, der sie offenbar zuerst auch befriedigen kann. Ihr Verhältnis hat durchaus auch eine sexuelle Basis. Lola ist jedoch ein Vamptyp, der die Männer anzieht, sie verbraucht und dann wieder fallen lässt. Sie heiratet zwar den Professor, aber der Entschluss hierzu entspringt einem momentanen Vergnügen an der Bürgerlichkeit, sie kehrt bald zur Bühne zurück und ihre laxe Eheauffassung degradiert den Gatten zum Sklaven, der anderen seine Eherechte abtreten muss. Lola hat nie das Bedürfnis, gänzlich aus ihrer Welt auszubrechen. Sie liebt die Ungebundenheit und die Freiheit des unsteten Bühnenlebens. Wir erkennen in ihr Züge der modernen, emanzipierten Frau, die für ihren Lebensunterhalt selbst sorgt und frei in ihren Entscheidungen sein will. Während Rosa einen Aufstieg von der kleinen Künstler-schlampe zur „Herrscherin über Gut und Blut“ erlebt, macht Lola keine Entwicklung durch. Sie ist im Typ festgelegt.

C. Die Umwelt. Figuren und Gesamtheit.

Die Umwelt spielt in „Professor Unrat“ eine Hauptrolle, sie ist das Gerüst für die Handlungsweise des Professors. Unrat steht außerhalb der Gemeinschaft, die er zerstören will. Aus seiner Sicht werden uns die verschiedenen Typen vorgestellt, die von ihm in drei Kategorien eingeteilt sind: in Personen, die er gefasst hat, die er noch fassen will und die er nicht fassen kann. In den drei Schülern von Erzum, Kieselack und Lohmann haben wir von jeder Gruppe einen Vertreter. Der interessanteste Charakter ist ohne Zweifel Lohmann, der Sohn eines Konsuls, intelligent, verschlossen, mit einer Neigung zur Arroganz. Unrat wird ihn nie fassen können, denn Lohmann nennt ihn nicht bei seinem Pseudonym und steht deshalb außerhalb des Machtbereichs des Professors. Die starke antipodische Stellung, die Lohmann im Roman innehat, wird vom Film nicht übernommen, obwohl er einer der wenigen Charaktere ist, den man fast unverändert in die heutige Zeit hätte transponieren können. Stattdessen ist aus Lohmann im Film der fleißige Primus der Klasse geworden, ohne den man nicht auszukommen glaubte. Im Roman symbolisiert von Erzum das Landjunkertum, wie es Anfang des Jahrhunderts noch bestand. Er wird als Gefühlsmensch gezeigt, der die Probleme nur mit Gewalt lösen kann, weil ihm der Verstand fehlt. Kieselack ist der Vertreter der aufsteigenden Arbeiterklasse. Gewitzt bis zur Falschheit, nutzt er seine Freunde aus.

Bei der Verfolgung dieser Schüler lernt Unrat Rosa Fröhlich kennen. Er gerät damit in eine Welt, die ihm zwar als „die Verneinung seiner selbst“ erscheint, die er aber als Instrument seiner Rache benutzt. Das Publikum im „Blauen Engel“ wird im Roman in einzelne Typen aufgelöst. Unrat merkt sich die Verehrer und die Verächter der Rosa Fröhlich, um sich an ihnen einmal rächen zu können. Seeleute, Arbeiter, kleine Angestellte finden jeden Abend in der kleinen Hafen-kneipe ihr Vergnügen. Im Film wird das Publikum als Masse gezeigt, die nicht differenziert ist, die als optischer und akustischer Hintergrund fungiert, ohne einer Kritik ausgesetzt zu sein.

Im Roman lernen wir nach Unrats Hochzeit bürgerliche Kreise der Stadt kennen. In der Villa des Professors versammeln sich bald Geschäftsleute, Offiziere, Studienräte und einige Honoratioren der Stadt. Sie sind der Künstlerin Fröhlich verfallen, sie kommen angeflogen wie die Motten zum Licht, und sie gehen unter. Diese Gesellschaft ist bei Heinrich Mann morbid, labil und ohne Ideale. Im Film ist die Umwelt zur Häuserkulisse erstarrt und der veränderte zweite Teil enthebt den Autor von kritischer Zeichnung.

3. Verschiedenheit der Aussagen

Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“, 1905 erstmals veröffent-licht, ging in die Literaturgeschichte ein als gesellschaftskritischer Roman der wilhelminischen Ära, „als eine Satire auf die dem deutschen Bürgertum eigenen Fehler und Schwächen“. (Siegfried Kracauer, Von Caligari bis Hitler, Hamburg 1958, S. 138). Berichtet wird da vom Aufstieg eines Kathedertyrannen zum Herrscher über die Süchte einer Stadt. Der Tyrann wird zum Anarchisten und endet erst, als er – um sein Vernichtungswerk offenbar betrogen – zum gemeinen Verbrecher wird.

Josef von Sternbergs Film DER BLAUE ENGEL, 1930 uraufgeführt, ging in die Filmgeschichte ein als Kombination künstlerischer Ausdrucksart mit massenbefriedigender Thematik. Der Sadismus, die sexuelle, im Grunde demoralisierende Tendenz des Films kamen in jenen Jahren dem Geschmack des breiten Publikums entgegen und wurden von Sternberg so verarbeitet, dass man dem Film „Aussagen über die psychologische Situation der Zeit“ (Kracauer, S. 138) entneh-men kann. Dennoch moniert Kracauer in der Neuen Rundschau mit Recht, dass „für eine Privattragödie, die in dieser Fassung und erst recht heute niemanden ernstlich angeht“, „die Beine, die Effekte, das Riesen-theater“ missbraucht worden seien. Und der Spiegel beklagt sich bei den Drehbuchautoren des ersten Films, dass sie „die Zeitkritik des Heinrich Mann in spätbürgerliche Selbstbemitleidung aufgelöst hätten“ (Der Spiegel, 9.12.1959). Tatsächlich machten schon 1930 die Filmbearbeiter aus dem Tyrannen Unrat einen Mittelstandsprofessor, der sich gegen die Konventionen der Bürgerlichkeit auflehnt, „indem er sein Gymnasium mit der Hafenkneipe zum ‚Blauen Engel’ vertauschte“ (Kracauer, S. 141) und sich damit „weit schlimmeren Mächten als denen, die er hinter sich gelassen hatte,“ (Kracauer, S. 141) unterwirft. So ist der Professor Raat nicht Herrscher, sondern Opfer, und seine lebendige Umwelt erstarrte schon damals zur bloßen Fassade, zur Kulisse, zum schematischen Hintergrund eines höchst privaten Schicksals.

Der amerikanische Film geht in der Strukturänderung der Figur noch einen Schritt weiter. Der Professor ist hier „ein einsamer Mann mit Sehnsucht nach Geborgenheit, Wärme und Güte“ (Presseheft, S.1), den ein Minderwertigkeitskomplex in die Arme einer Halbweltdame treibt. Die Verkrümmung dieser Figur und ihrer gesellschaftskritischen Funktion lässt sich einleuchtend mit der Gegenüberstellung der drei Schlussphasen unserer Objekte demonstrieren.

Bei Heinrich Mann wird der maßlos gewordene Anarchist von seinem sonst sehr passiven Gegenspieler eines Verbrechens überführt und stürzt vom Gipfel seiner Macht „ins Dunkel“. Die Stadt ist des unliebsamen Tyrannen, den ihre eigenen Laster in den Sattel gehoben hatten, ledig. Die Fragwürdigkeit dieser Gesellschaft hat sich dokumentiert, aber das Ende des Tyrannen stellt die Ordnung wieder her.

Bei Sternberg, im Drehbuch von Zuckmayer, Vollmüller und Liebmann, kehrt der Möchtegern-Rebell, der außerhalb der bürgerlichen Welt gescheitert ist, an sein Katheder zurück und stirbt dort, mit sich selbst wieder im Reinen, aber unversöhnt mit den Mächten seines früheren Daseins.

Bei Dmytryk, im Drehbuch von Nigel Balchin, wird der von den „Trugbildern der Liebe“ (Presseheft, S.2) geheilte Professor von seinem Direktor in seine alte Welt heimgeholt. Ob er, den gleich zwei Kritiker vorübergehend ins lehrergewerkschaftliche Sanatorium befördern, wieder ans Katheder zurückkehrt, bleibt dahingestellt.

Aus der Tyrannei gegen die bürgerliche Welt wurde also 1929 die Rebellion gegen diese Welt und 1959 schließlich, nach erfolglosem Ausbruch, das Arrangement mit dieser Welt. Der Weg ist ebenso konsequent wie aufschlussreich: Die erfolgreiche Rebellion gegen eine fragwürdige Ordnung scheint sich als Grundaspekt eines Films zu verschließen. Ähnliches war schon einmal hier festgestellt worden, bei Ladislao Vajdas EIN MANN GEHT DURCH DIE WAND.

Einige grundsätzliche Thesen im Sinne dieses Seminars lassen sich aus der Frage gewinnen: Wie sieht der Amerikaner – in diesem Fall der Regisseur Edward Dmytryk und der Drehbuchautor Balchin – den Mitteleuropäer von heute? Hier sollen einige Versuche zu entsprechen-der Deutung unternommen werden, die in der Diskussion zu ergänzen wären.

Bei Heinrich Mann spielt das Geschehen in einer norddeutschen Hafenstadt. Sternberg ließ sich ein expressionistisches Straßengewirr bauen, in das nur von ferne die Nebelhörner der Schiffe dringen. Bei Dmytryk schwenkt die Kamera gleich zu Beginn über die romantischen Dächer einer deutschen Kleinstadt im Stil von Alt-Heidelberg. Die Identifizierungsversuche unserer Kritiker reichten von „rheinisch“ über Rothenburg, das tatsächlich seine Häuserfronten lieh, bis nach Passau. Vom Hafenmilieu blieb der Kapitän übrig, von der bürgerlichen Atmosphäre die Totaleinstellung zu Beginn, die Stadtmauer, das alt-ehrwürdige Schulhaus. Großstädtisches Leben wird nicht gezeigt. Zwar zieht die Truppe aus der Kleinstadt „Lendsburg“ ins obligatorische Frankfurt, aber die einzige Großstadtsequenz erstarrt zur Idylle: es gibt eine Blumenszene im Münchner Hofgarten.

Die Kneipe zum „Blauen Engel“, bei Mann noch im Dunkel des Hafen-viertels, für den Bürger kaum zu finden, etabliert sich im amerikani-schen Film zwar auch nicht im besten Teil der Stadt – das Straßen-mädchen im Hauseingang deutet das wohl an – , aber die Werbung für Lola-Lola prangt immerhin in mehrfacher Ausführung an der alten Stadtmauer. Die Einrichtung dieses Lokals ist stark an amerikanischen Vorbildern orientiert; Farbenreichtum, Bühnenausstattung und schließ-lich auch die Choreographie der Revue sind einschlägigen US-Filmen entlehnt. Dass sich Showbusiness im bundesdeutschen 1956 – in dem der Film spielt – so weder in Kleinstädten noch in Großstädten zuträgt, hätte allerdings selbst einem Regisseur von der weltfremden Beschaf-fenheit eines Professors Raat auffallen müssen. Offenbar konnte Dmytryk seine amerikanischen Anschauungen vom Showbusiness nicht mit den deutschen Praktiken vereinbaren. In diesem Zusammen-hang lassen sich über das Verhältnis zwischen dem Revue-Manager Kiepert und dem Professor kaum zuverlässige Schlüsse ziehen, die über das Schema „Künstler quält Beamten“, das bedeutet Umkehrung der Alltagsgewohnheit, hinausgehen.

Einige Einsichten in das deutsche Beamtentum verraten dagegen drei Szenen und die bereits inter­pretierte Schlussphase des Films. Wenn der Professor, ein pünktlicher und ordentlicher Beamter, morgens zur Schule marschiert, stellt der Ladenbesitzer die Uhr nach ihm. Er vertraut dieser lebendigen Zeitanzeige auch dann noch, als er sich offensichtlich verspätet hat. Als der Professor in Lolas Garderobe mit dem Kapitän in Streit gerät und die Polzeit erscheint, wird der Kapitän abgeführt, weil sich der Professor als Beamter ausweisen kann. Als der Professor im Münchner Hofgarten mit einer abgepflückten Blume spielt, wird er von einem Parkwächter zur Ordnung gerufen. Nun stiehlt er einen ganzen Strauß und setzt sich damit demonstrativ ins Unrecht. Tiefer kann er sich als Beamter kaum erniedrigen. Zur Rehabilitierung seines Standes wird er dann von seinem Direktor der bürgerlichen Welt wiedergegeben.

Die beiden schweigenden Figuren des ersten Films, der Schulpedell und der Clown der Truppe, von Kracauer als „Passivität“ vorausgeahnt, „mit der so viele andere sich später totalitärer Herrschaft fügten“, sind 1959 weggefallen bzw. verkümmert. Der Pedell taucht gar nicht auf, der Clown ist der beziehungslos gewordene Vorgänger für den Auftritt des Professors. Zeitbezogenheiten des ersten Films sind also erstarrt, es gibt keine neuen Relationen zu unserer Gegenwart.

So ist im Film der figurenreiche Hintergrund des Romans nur Staffage für eine seltsame Liebesgeschichte. Es lassen sich kaum gesellschafts-kritische Tendenzen ablesen, ja, der Weg des Professors zurück in den Schoß der Bürgerlichkeit stellt den Roman in seinen gesellschaftskriti-schen Ambitionen auf den Kopf. Woraus zu ersehen ist, dass es den Amerikanern doch gelang, Heinrich Manns Roman totzukriegen.

Referat im Seminar „Vergleichende Analysen zur verfilmten Literatur“, geleitet von Dr. Hans Cürliss und Reinold E. Thiel, Winter 1961. Berlin, Freie Universität, Institut für Publizistik