Texte & Reden
06. Dezember 2011

MY DARLING CLEMENTINE / FAUSTRECHT DER PRÄRIE (1946)

Text für die Süddeutsche Zeitung und die DVD

Am 26. Oktober 1881, das ist historisch dokumentiert, fand in Tomb-stone, im Nowhere von Arizona, der Gunfight am OK-Corral zwischen den Earp-Brüdern und der Clanton-Bande statt, ein Showdown zwischen zwei Familien, die in Feindschaft lebten und sich in einer Nacht weitgehend gegenseitig umbrachten. Nur Wyatt Earp, real ein ziemlich dubioser Typ, überlebte sie alle, wurde 80 Jahre alt und strickte immer an der eigenen Legende, weil ihm niemand wider-sprechen wollte.

Für den Western ist auch nicht die Wahrheit wichtig, sondern die spannende Story. Dafür muss es Gute und Böse geben und einen Ort, wo sie aufeinander treffen. Es braucht Figuren, die die Fronten wechseln, und eine dramaturgische Strecke, die für Überraschungen sorgt. Das wusste keiner so gut wie John Ford. Und das war ihm jede Geschichts-klitterung wert.

So verkörpern die Earps in My Darling Clementine / Faust-recht der Prärie die Guten, die Tombstone aus dem Würgegriff der Clantons befreien, nachdem der jüngste Bruder von der Gang ermordet wurde. Wyatt (Henry Fonda) ist der Held, er soll als Marshall für Ordnung sorgen. Er zieht den Trinker und Spieler Doc Holliday (Victor Mature) auf seine Seite, einen Zahnarzt, der ein kranker Zyniker geworden ist. In die entstehende Männerfreundschaft sind zwei Frauen involviert: die Mexikanerin Chihuahua (Linda Darnell), Hollidays aktuelle Geliebte, und die Krankenschwester Clementine Carter (Cathy Down), die er vor einiger Zeit verlassen hat. Sie kommt nach Tomb-stone, um ihn zurück­zuholen. Das misslingt natürlich, weil alles auf den tödlichen Showdown zuläuft. Zunächst wird Chihuawa als verräterische Kronzeugin erschossen, dann sterben Doc Holliday, zwei Earp-Brüder und alle Clantons in der Nacht am OK-Corral.

Der Familienkrieg ist die eine Seite des Films. Die andere ist seine visionäre Öffnung für Kultur und Zivilisation. An einem Sonntag-morgen – in der Mitte des Films – treffen sich Viehzüchter und Farmer der Umgebung mit den Bewohnern von Tombstone. Es soll eine Kirche gebaut werden. Im Turmgerüst läuten die Glocken. Clementine macht sich im Hotel zur Abreise bereit, sie wird nicht um Doc Holliday kämpfen. Wyatt hat sich vom Friseur herausputzen lassen, Clementine fragt, ob er sie zum Kirchplatz begleiten würde, er bietet ihr seinen Arm, sie hakt sich ein, und es beginnt einer der schönsten Spaziergänge der Filmgeschichte. Das Paar geht langsam durch die Straßen, die Kamera folgt ihm in langen Einstellungen. In der Ferne hört man das Lied „Shall We Gather at the River“. Am Kirchplatz wird inzwischen getanzt. Clementine klatscht zaghaft in die Hände, Wyatt macht sich Mut, wirft seinen Hut zur Seite und fordert sie zum Tanz auf. Sie tanzen erst vorsichtig, dann ausgelassen. Wyatt hebt bei jeder Drehung sein Bein wie eine Puppe, er lacht, und spätestens jetzt wissen wir, dass Clemen-tine nicht mehr zu Doc Holliday gehört.

Für Wyatt Earp gibt es ein doppeltes Happy-end: das zweite, wenn er sich am Ende von Clementine verabschiedet. Sie wird in Tomb-stone als Lehrerin bleiben. Er bringt seine toten Brüder zum Vater. Natürlich wird Wyatt zu Clementine zurückkommen. Schließlich hat sie einen besonders schönen Namen.

Süddeutsche Zeitung, 6. Dezember 2011