Texte & Reden
27. Juni 2006

Kinogeschichten

Vorwort zu einem Fotobuch von Volker Noth

Ein Sonntagnachmittag 1950. Kindervorstellung: bambi (1942) von Walt Disney. Lautes Geschrei, Kampf um die Plätze. Als es dunkel wird, dauert es seine Zeit, bis der Film die Kinder zum Schweigen bringt. Dann nimmt die ergreifende Geschichte vom kleinen Reh ihren Lauf. Nach 40 Minuten wird Bambis Mutter im Schnee von Jägern erschossen. Fassungslosigkeit, Tränen. Seither weiß ich, dass es im Kino um Leben und Tod geht.

Verrucht. Spätvorstellung, sechziger Jahre. Mascotte, Stuttgarter Platz. Das Mascotte war das einzige Kino in Berlin mit einer Nachtvorstellung von Montag bis Donnerstag. Man war dort als Zuschauer nie allein. In West-Berlin gab es keine „Polizeistunde“, nach der Spätvorstellung waren die Kneipe noch offen. In späteren Jahren lernte ich viele Menschen kennen, die sich sehr speziell an die Nachtvorstellungen im Mascotte erinnerten. An all die schrägen Filme aus Frankreich und Amerika, an Eddie Constantine und Jean Gabin, Jerry Lewis und James Cagney. Der Stuttgarter Platz galt damals als verruchte Gegend.

Filme/Kinos. Wenn ich mich an Filme erinnere, weiß ich oft, aber nicht immer, in welchem Kino ich sie gesehen habe. Bei manchen Filmen ist das einfach: gone with the wind (1939) lief ab 1953 zweieinhalb Jahre exklusiv in der Kurbel, Giesebrechtstraße. the robe (1953) war der erste Film in CinemaScope. Das Verfahren gab es zunächst nur in der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm. ben hur (1959) war der große Erfolgsfilm im Delphi, Kantstraße (zum Wagenrennen schlich man sich nach der Pause um 17.10 Uhr an den Kontrolleuren vorbei). spur der steine (1966) hatte drei Vorführungstage im Kino International, Karl-Marx-Allee, Ost-Berlin, dann wurde der Film verboten. doctor shivago (1966) war der richtige Film für den Royal-Palast am Tauentzien, abschied von gestern (1966) passte in die Filmbühne am Steinplatz. Wenn sich Filme und Kinos im Kopf verbinden, spricht das für die Kinos und die Filme.

U-Bahn-Strecke. Anfang der fünfziger Jahre wohnte ich in Berlin-Zehlendorf. Meine Kinos waren U-Bahnhöfen zugeordnet: Das Onkel Tom befand sich im gleichnamigen U-Bahnhof mitten in der Ladenstraße, das Capitol zwischen Thielplatz und Dahlem Dorf, das Lida am Breitenbachplatz, die Rüdesheimer Lichtspiele am Rüdesheimer Platz, das Kleine Lichtspielhaus am Fehrbelliner Platz, die Bayreuther Lichtspiele am Wittenbergplatz. Nur das Capitol ist übrig geblieben. Die anderen Kinos sind längst Bankfilialen oder Supermärkte. Die Kinos an den U-Bahnhöfen waren „Bezirkskinos“. In West-Berlin gab es Mitte der fünfziger Jahre 20 Premierenkinos (vor allem rund um den Kurfürstendamm) und 230 Bezirkskinos. Die Filme liefen dort, wenn sie in den Uraufführungskinos am Kurfürstendamm „durch“ waren. Das hatte Vorteile beim Eintrittspreis, denn der sollte mit dem Taschengeld kompatibel sein. Mehr als eine Mark war für einen Kinobesuch nicht drin.

Orientierung. In vielen Kino fühlte man sich zuhause: man wusste fast blind, wo die Kasse ist für Eintrittskarte und Programm („Illustrierte Film-Bühne“), der Stand fürs Eis, die Toilette, der Eingang in den Saal. Dort wollte eine Frau das Billett sehen und wies die Richtung: Parkett, Sperrsitz, Loge, Rang (soweit vorhanden). Man hatte einen Stammplatz. Bei mir: Parkett, nicht zu weit hinten, Reihe sieben.

Namen. Warum haben Kinos Namen, die nach Bedeutung klingen: Lichtburg, Titania-Palast, Marmorhaus, Universum. Wir sollten nicht vergessen, dass das Kino auf dem Jahrmarkt begonnen hat und für die Bürger erst salonfähig werden musste. Die Namen waren Versprechen. Sie stellten sich der Herausforderung des traditionellen Theaters.

Klänge. Im Ohr sind mir klangvolle Namen von schönen Kinos, die es nicht mehr gibt: Melodie am Roseneck, Allegro in Steglitz, Studio am Kurfürstendamm, Filmbühne am Steinplatz, Bonbon­niere am Kurfürstendamm, Astor am Kurfürstendamm. Der Abschied vom Astor fiel besonders schwer.

Fassaden. Viel versprechende Kinonamen stehen an den Fassaden der Kinogebäude. Daneben hängen die Großplakate zu den Filmen, schön und bunt gemalt. Später dominieren Leuchtkästen mit Buchstaben: Titel der Filme, Namen der Schauspieler. Wenn die Kinos nicht mehr spielen, bleiben die Werbeflächen leer, und auch die Namen können nichts mehr versprechen. Die Fassaden sind dann plötzlich Flächen von gestern. Sie stimmen traurig. Sie erinnern an die Sterblichkeit.

Sterben. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Kinos durch Bomben zerstört. In den fünfziger Jahren wurden sie wieder aufgebaut oder durch Neubauten ersetzt. In den sechziger Jahren begann eine neue Zerstörung: durch Pleiten. Viele Kinobesucher wanderten zum Fernsehen ab. Es war die erste Phase des Kinosterbens. In den siebziger Jahren vermehrten sich die Kinos durch Zellteilung: aus einem großen Kino machte man fünf oder sieben kleine. Viele Kinos, die sich nicht vermehren konnten, gaben auf. Das war die zweite Phase des Kinosterbens. In den achtziger Jahren differenzierten sich die Kinos: Premierenkinos, Nachspielkinos, Off-Kinos (speziell in West-Berlin), Programmkinos, kommunale Kinos. In den neunziger Jahren entstanden die ersten Filmkaufhäuser: sie hießen Multiplexe und benahmen sich wie Eroberer. Kleine Kinos waren der neuen Konkurrenz selten gewachsen und die alten Kinos in den neuen Bundesländern schon gar nicht. Das war die dritte Phase des Kinosterbens. In der Statistik wurden inzwischen nicht mehr die Kinos, sondern die Leinwände gezählt. Im CinemaxX suchte man seinen Film dann im Kino sieben oder Kino zwölf. Im neuen Jahrtausend hat sich der Kampf zwischen den Kinos weiter verschärft. Jetzt sterben schon die ersten Multiplexe. Ich weiß: alles was lebt, muss irgendwann einmal sterben. Manchmal ist das mit Leidensgeschichten verbunden, manchmal kommt der Tod über Nacht. Dann steht man fassungslos am Grab und fragt: warum?

Ökonomie. Kinos sind vor allem Unternehmen, sie gehören in der Regel zu Ketten und Konzernen. Sie werden betrieben von Leuten, die Profit machen müssen. Hier und da gibt es noch Idealisten, die das Kino so lieben, dass man sie ein bisschen verrückt nennen darf. Aber auch die Verrückten müssen irgendwann bezahlen: für die Räume, für die Filme und vielleicht für ihr eigenes Überleben.

Verrückte. Zu den Kinoverrückten in Berlin gehörten Bruno Dunst (Schlüter in der Schlüterstraße), Manfred Salzgeber (Bali in Zehlendorf – jetzt ist dort Helga Gammert die Verrückte), Udo Zyber (Cinema in der Bundesallee), Michael Weinert (Klick in der Windscheidstraße), Walter Jonigkeit (Delphi in der Kantstraße), Gunter Rommetsch (Notausgang in Schöneberg), Peter Freund (Die Kurbel, Giesebrechtstraße), Gerhard Klein (Capitol in Dahlem), Peter Vollmann (Thalia in Lankwitz) und als ganz Verrückter Max Czichocki (Kinomuseum in Kreuzberg). Man müsste ihnen Denkmale setzen. Franz und Rosemarie Stadler stehen im Filmkunst 66 in der Bleibtreustraße noch immer unverdrossen an der Kasse.

Filme. Die Kinobesitzerin Maria Stadler aus Endorf in Franken ist die Heldin des Dokumentarfilms ob’s stürmt oder schneit (1977) von Doris Dörrie und Wolfgang Berndt. Der Film zeigt, wie sie Holz hackt, um das Kino zu heizen, wie sie die Klebestellen der Kopien prüft und nach der Abendvorstellung das Kino putzt. Sie arbeitet täglich 18 Stunden für ihr Kino. Sie kann nicht anders. Der Filmvorführer Bruno Winter (Rüdiger Vogeler) ist einer der beiden Protagonisten des Films im lauf der zeit (1975) von Wim Wenders. Er fährt mit seinem umgebauten Möbelwagen entlang der Grenze zur DDR und repariert Projektoren in Landkinos. Er tut das mit großer Passion. Am Ende des Films sagt eine Kinobesitzerin zu ihm: „So wie es jetzt ist, ist es besser, es gibt keine Kinos mehr, als dass es ein Kino gibt, so wie es jetzt ist.“

Abschied. Wenn ein Kino schließen muß, verabschiedet es sich inzwischen von seinen Besuchern mit the last picture show (1971) von Peter Bogdanovich oder cinema paradiso (1989) von Giuseppe Tornatore. Das Kino: ein verloren gegangenes Paradies. Und ich habe noch kein Wort gesagt vom Verschwinden des Films im Zeitalter der Digitalisierung.

Vorwort. In: Volker Noth: Kinos. Berlin um die Ecke und Entdeckungen unterwegs. Berlin 2006.