Texte & Reden
01. Oktober 2002

HIGH NOON / ZWÖLF UHR MITTAGS (1952)

Text für ein Buch des Reclam Verlages

An einem Sommersonntag in den 1880er Jahren macht Will Kane, der Marshal der kleinen Stadt Hadleyville, in kurzer Zeit, genau genommen zwischen 10.35 und 12.15 Uhr, extreme Lebenserfahrungen. Er heiratet die Quäkerin Amy Foster, die den gewaltsamen Tod ihres Bruders und ihres Vaters nur schwer verwinden kann. Er legt sein Amt nieder, obwohl der neue Marshal erst am nächsten Tag eintreffen wird. Kane will mit seiner Frau die Stadt verlassen, um irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen. Da erhält er die Nachricht, daß ein Mörder, den er vor fünf Jahren verhaftet hat, begnadigt wurde und auf dem Weg nach Hadleyville ist, wo ihn drei Kumpane um 12 Uhr auf dem Bahnhof erwarten. Kane verläßt mit Amy die Stadt, kehrt aber wieder um, weil er noch nie vor jemandem weggelaufen ist. Er sucht Unterstützung in der Stadt, aber außer einem Halbblinden, einem Halbwüchsigen und einem Halbherzigen ist niemand bereit, ihm gegen die Banditen zu helfen. Bei einer Diskussion in der Kirche erlebt Kane Streit und Opportunismus. Er wird von seiner ihm gerade angetrauten Frau verlassen, die sich zur Gewaltlosigkeit bekennt. Er hört im Saloon, wie sein Tod prophezeit wird. Mit seinem Hilfssheriff, der eifersüchtig auf ihn ist, hat er eine handgreifliche Auseinandersetzung. Er schreibt im Marshalbüro sein Testament. Dann geht Kane auf die verlassene Hauptstraße und wartet auf die Banditen, während seine Frau Amy zum Bahnhof fährt. Pünktlich um 12 Uhr mittags trifft der Killer Frank Miller mit dem Zug ein und macht sich zusammen mit seinen drei Kumpanen auf die Suche nach Kane. Die Stadt ist menschenleer. Es gelingt Kane, zwei Banditen zu überlisten und zu erschießen. Dann wird er von einer Kugel ins Bein getroffen. Den dritten Gangster, vor dem er hilflos am Boden liegt, tötet Amy, die ihrem Mann dann doch zu Hilfe eilt. Sie wird von Miller als Geisel genommen. Im Showdown bringt Kane seinen Widersacher zur Strecke. Erleichtert strömen die Bürger auf die Straße. Der Marshal wirft ihnen seinen Stern vor die Füße und verläßt mit Amy endgültig die Stadt.

High Noon, gedreht im September/Oktober 1951 mit einem Budget von 800.000 $, entstand in einer politisch aufgeladenen Zeit. In den USA propagiert der demokratische Präsident Harry S. Truman eine „Politik der Stärke“. Der Kommunismus ist quasi verbotene Ideologie. Der Krieg zwischen Nord- und Südkorea führte 1950 zur Intervention der USA und endet erst 1953 mit einem Waffenstillstand. Der Kalte Krieg in Europa polarisiert West und Ost, ein zentraler Schauplatz ist das geteilte Deutschland. Der republikanische Senator Joseph McCarthy heizt seit 1950 in einem „Ausschuss für die Untersuchung unamerikanischer Umtriebe“ auf der Suche nach angeblichen Kommunisten im öffentlichen Leben der USA die innenpolitische Stimmung auf. Für High Noon bleibt gerade dies nicht ohne Folgen: der Drehbuchautor Carl Foreman wird im April 1951 in den Ausschuß vorgeladen und verweigert im September 1951 die Aussage. Das bringt ihn auf die Schwarze Liste und führt zu Spaltungen im Team. Der Produzent Stanley Kramer und – etwas später – auch der Hauptdarsteller Gary Cooper sagen sich von Foreman los, der Regisseur Fred Zinnemann hält ihm die Treue. In Hollywood werden die High Noon-Gegner von John Wayne angeführt. Als Präsident der rechtskonservativen „Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals“ macht er sich gegen Foreman stark und spielt ein paar Jahre später  mit Hingabe die Hauptrolle in Rio Bravo (1958) von Howard Hawks, der als Anti-High Noon-Film in die Westerngeschichte eingeht.

High Noon gilt als „Edelwestern“, als einer mit Botschaft, dessen Story sich nicht selbst genug ist, sondern Interpretationen provoziert. Die politisch-moralischen Koordinaten sind nicht zu übersehen: Es geht um Integrität, Gewissen, Würde, Pflicht, Gemeinwohl. Sie stehen gegen Feigheit, Opportunismus, Eigennutz. Uneins waren sich die Interpreten allerdings über Jahrzehnte, ob dies nun ein Film für oder gegen die Demokratie sei, denn schließlich sind die dargestellten Bürger die wirklichen Versager. Dominant bleibt das generelle Bekenntnis des Regisseurs, das auf einem Satz von Robert Louis Stevenson beruht: „Eines Menschen Charakter ist sein Schicksal.“

Die Verantwortung für High Noon teilt sich eine außergewöhnliche Gruppe von Individualisten: der Produzent Kramer, der Regisseur Zinnemann, der Drehbuchautor Foreman, der Kameramann Floyd Crosby (1931 Oscar-Preisträger für Murnaus Tabu), der Komponist Dimitri Tiomkin, die Cutter Elmo Williams und Harry Gerstad. Das Zusammenspiel dieser Protagonisten wurde schon in den frühen fünfziger Jahren auseinanderdividiert. Jeder nahm den für das Gelingen des Films entscheidenden Anteil in Anspruch. Zinnemann hat die Zuordnung der Verantwortung immer sehr gelassen kommentiert. Er war sich dabei seines Anteils sehr wohl bewußt. Für das Publikum waren es vor allem die Schauspieler, die den Film attraktiv machten: der gerade 50 Jahre alt gewordene Gary Cooper als vereinsamter Will Kane, ein eigentlich müde gewordener Held, der noch einmal über sich hinauswachsen muß, die 21jährige Grace Kelly als Amy Kane, noch etwas gehemmt und ungelenk, aber am Anfang einer kurzen, steilen Karriere. Thomas Mitchell als Bürgermeister, Lloyd Bridges als Hilfssheriff, Katy Jurado als Kanes frühere Geliebte. Diese Schauspieler stehen ganz im Dienst der Geschichte, sie haben kein Eigenleben, es gibt für sie auch keinen Ausweg in eine komische Situation. Der Film ist ernst bis ins Mark.

Die Strenge und Kargheit seiner Form – die scheinbare Einheit von Realzeit und Filmzeit (in Wahrheit sind rund 100 Minuten Realzeit auf 85 Minuten Filmzeit komprimiert), der dokumentarisch wirkende Bildstil und das psychologisierende Spiel der Darsteller – machten High Noon zu einem über das Genre hinausweisenden Werk. Theodor Kotulla rühmt die „veristische Schönheit“ des Films und nennt dann drei entscheidende Punkte, in denen der „normale Western“ ignoriert wird: „Erstens ist Kane nicht ‚von Natur aus’ einsam, er wird es erst durch einen sozialen Akt: die Gemeinde stößt ihn aus. Zweitens fehlt ihm die innere und äußere Gelassenheit; er hat Angst, macht sein Testament und ist einmal fast dem Weinen nah. Drittens hat er nicht die Chance eines fairen Kampfes; er wird gejagt. Damit ist der archaische Western transzendiert. Er ist seines reinen mythischen Grundes entkleidet und hat bewusst aufklärerische Tendenz angenommen. Freilich nur innerhalb der morali­schen Grenzen, die das eingehaltene Western-Schema setzt: Kane tötet seine Gegner, nicht sie ihn. Er ist psychologisch differenziert, aber immer noch ein Held.“ (Filmkritik, Mai 1959, Nr. 5)

Abgesehen von den ideologischen Interpretationsfeldern bietet High Noon einen Plafond für typologische und ästhetische Untersuchungen, wenn es um das Frauenbild geht, personifiziert in Amy (die blonde Ehefrau) und Helen (die dunkle ehemalige Geliebte), um die Nebenfiguren (Richter, Bürgermeister, Barbier, Priester, Hilfssheriff, ehemaliger Sheriff, Barmann), um die vier Banditen, das Psychogramm des Helden und die Spezifik von Motiven: die Eisenbahn (Bahnhof, Gleise, Ankunft eines Zuges), die Stadt (Häuser, Straßen, Himmel), die Zeit (Uhr). Exemplarisch werden immer wieder die Kameraführung, die Montage und der Einsatz der Musik untersucht. High Noon ist bis heute ein Idealfall für filmanalytische Übungen.

Von prominenten Westernkennern wurde High Noon nicht wirklich geliebt. André Bazin zählt ihn zwar zur Kategorie der „Superwestern“ und gibt ihm den Vorzug vor Shane, kritisiert aber die Macher, weil sie „den Western wie eine Form (behandeln), die einen Inhalt braucht“. Jean Mitry: „Drehbuch und Thema sind gut, aber das ist noch kein Meisterwerk. Ein großer Film für mich, ein Western, der mir sehr gefällt, das ist Rio Bravo.“. Robert Warshow: „Das schlagendste Beispiel für die Verwirrung, die ein allzu gewissenhafter ‚sozialer’ Realismus angerichtet hat, findet sich in dem berühmten Film High Noon.“ (Der amerikanische Mythos. Deutsch in: Film 58, Nr.3) Und Joe Hembus formuliert den ambivalenten Satz „High Noon ist ein guter Western, der eine hohe Meinung von seinen eigenen Qualitäten hat.“ (Western-Lexikon, S. 737).

High Noon war 1953 für sieben Oscars nominiert. Ausgezeichnet wurden schließlich Gary Cooper als bester Darsteller, Dimitri Tiomkin und Ned Washington für den Song „Do Not Forsake Me, oh My Darlin'“, Tiomkin für die Musik, Elmo Williams und Harry Gerstad für den Schnitt. Den Regie-Oscar gewann damals John Ford für The Quiet Man. Bester Film wurde The Greatest Show On Earth von Cecil B. DeMille. Im Gegensatz zu High Noon ist er inzwischen fast vergessen. Aber Western hatten selten die Chance, einen Oscar als bester Film zu gewinnen.

HIGH NOON. – USA 1952 (30.7.1952) s/w 85 min. – R: Fred Zinnemann. – B: Carl Foreman nach der Story „The Tin Star“ von John W. Cunningham. – K: Floyd Crosby. – Sch: Elmo Williams, Harry Gerstad. – M: Dimitri Tiomkin. – D: Gary Cooper (Will Kane), Grace Kelly (Amy), Thomas Mitchell (Harvey), Katy Jurado (Helen Ramirez), Lloyd Bridges (Hilfssheriff), Ian McDonald (Frank Miller).

Drehbuch: High Noon. In: Malvin Wald/Michael Werner (Hrsg.): Three Major Screenplays. New York 1973.

Literatur: Th. K. (Theodor Kotulla): 12 Uhr mittags (High Noon). In: Filmkritik, 1959, Nr. 5. – Thomas Kuchenbuch: Filmanalyse. Theorien, Modelle, Kritik. Köln 1978 (S. 130-170: Modellanalyse High Noon). – Martin Linz: High Noon: Literaturwissenschaft als Medienwissenschaft. Tübingen 1983. – R. Barton Palmer: A Masculinist Reading of Two Western Films: High Noon and Rio Grande. In: The Journal of Popular Film and Television, Vol. 12, Nr. 4, Winter 1984/85. – Antje Goldau/Hans Helmut Prinzler/Neil Sinyard: Zinnemann. München 1986.– Bernhard von Dadelsen: Die Neue und die Alte Zeit: Der klassische Western: Zwölf Uhr mittags (High Noon, 1952). In: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte Band 3, S. 190-205. Frankfurt 1990. – Fred Zinnemann: An Autobiography. London 1992. – Stephen Prince: Historical Perspective and the Realist Aesthetic in High Noon / Gwendolyn Foster: The Women in High Noon. In: Film Criticism, Vol. 28, Nr. 3/Vol. 29, Nr. 1, Spring/Fall 1994 (Special Double Issue: Fred Zinnemann). – Arthur Noletti Jr. (Hrsg.): The Films of Fred Zinnemann. Critical Perspectives. Albany 1999. – Phillip Drummond: Zwölf Uhr mittags. Mythos und Geschichte eines Filmklassikers. Hamburg, Wien 2000 (Aus dem Engl.)

Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Band 2. Reclam 2002