Texte & Reden
01. Februar 1987

Applaus für Rouben Mamoulian

Vorwort zur Publikation der Retrospektive

Zwischen 1929 und 1957 hat er 16 Filme gedreht, die meisten in den dreißiger Jahren. Mit diesen Filmen verbinden sich Qualitätsbegriffe: Phantasie, Stil, Geschmack. Er hat mit Stars gearbeitet: mit Greta Garbo, Marlene Dietrich, Rita Hayworth, Sylvia Sidney, Miriam Hopkins, Barbara Stanwyck (also den Leading Ladys), mit Gary Cooper, Fredric March, Henry Fonda, William Holden, Tyrone Power, Fred Astaire (also den All-Americans). Er war ein Schauspieler-Regisseur. Er hat klassische Genres bedient: den Gangsterfilm, das Musical, den Horrorfilm, das Melodram, den Kostümfilm, das Mantel- und Degenstück. Einige Filme gelten zu Recht als Klassiker des Genres. Er hat literarische Stoffe verfilmt und dabei nicht den trivialen Fehler gemacht: Literatur zu verfilmen. Er war also ein intelligenter Regisseur. Aber, halt: Dies soll kein Nachruf werden, sondern ein Vorwort. Es gilt, einen Lebenden zu ehren, einen großen Veteranen.

Die Berliner Filmfestspiele widmen Rouben Mamoulian, dem amerikanischen Regisseur, der aus Europa stammt, eine Retrospektive und zeigen seine 16 Filme. Für einen Hollywood-Regisseur sind 16 Filme ein schmales Œuvre. Henry Hathaway – wie Mamoulian 1898 geboren – hat zwischen 1933 und 1969 an die 60 Filme gedreht, George Cukor (geboren 1899) zwischen 1930 und 1964 fast 50. Von Ford und Walsh nicht zu reden. Eigentlich war Rouben Mamoulian gar kein „Hollywood-Regisseur“, denn er ließ sich durch keinen noch so verlockenden Kontrakt längerfristig an ein Studio binden. Er arbeitete mit Einzelverpflichtungen für Paramount (sechsmal), Centfox (dreimal), MGM (dreimal), Sam Goldwyn, Columbia, Pickford-Lasky und Pioneer Pictures. Mamoulian ließ sich von keinem Produzenten vereinnahmen. Er war auch ein Theaterregisseur, ein Star am Broadway. Von ihm stammen die Originalinszenierungen von „Porgy and Bess“ (1935), „Oklahoma!“ (1943) und „Carousel“ (1945), die Theatergeschichte gemacht haben. Auf Hollywood und die Filmindustrie hat sich Mamoulian nur zeitweise eingelassen.

Im Nachhinein ist es fast ein Kuriosum, dass er nie einen Oscar bekam, ja nicht ein einziges Mal nominiert wurde. Das haben zu seiner Zeit nur noch Größen wie Fritz Lang und Raoul Walsh und später Nicholas Ray geschafft – Lubitsch, Hawks oder Welles wurden wenigstens einmal nominiert. Mamoulian kam vom Theater, er wollte den Film filmischer machen, und die Professionellen der Filmindustrie haben ihn eher misstrauisch betrachtet – wie einen Eindringling, den sie nach gut zehn Jahren auch wieder losgeworden sind.

Wichtige Filmkritiker der dreißiger und vierziger Jahre – James Agee, Otis Ferguson, Harry Alan Potamkin, Robert E. Sherwood – haben Mamoulians Filme (sofern sie überhaupt darüber geschrieben haben) mit gemischten Gefühlen betrachtet. Vor allem hatten sie Einwände gegen die Trivialität der Stoffe und der Genres, denn in der amerikanischen Kulturszene war der Film damals nicht gerade ein respektabler Gegenstand, und die Filmkritiker, soweit ihre Arbeit überhaupt als seriös galt, gaben sich Mühe, das Medium selbst seriös zu machen. Diesem Versuch leisteten Mamoulians Filme – gottlob – Widerstand. Sie waren schöne Kinostücke. Den Modeautoren der sechziger Jahre – allen voran Andrew Sarris, Richter über „Directors and Directions 1929-1968“ – war Mamoulians Werk nicht originell genug, um ihn zu den wichtigsten amerikanischen Autorenfilmern zu rechnen. Er gehörte zur Kategorie „Less than meets the eye“ (zusammen mit John Huston, Elia Kazan, Joseph L. Mankiewicz, Billy Wilder, William Wyler, Fred Zinnemann und anderen. Sarris: „Mamoulian’s tragedy is that of the innovator who runs out of innovation… The innovator has become an imitator and the rest is mediocrity.“

In Europa gab es freilich Bewunderer. Giulio Cesare Castello edierte 1964 ein Themenheft von „Bianco e Nero“ über Mamoulian, das National Film Theatre in London veranstaltete 1968 in Anwesenheit des Regisseurs eine Retrospektive, und Tom Milne veröffentlichte daraufhin 1969 in der Reihe „Cinema One“ eine seinem Protagonisten sehr zugeneigte Mamoulian-Monografie. Der Franzose Robert Benayoun hielt Mamoulian sogar schlicht für genial: „Seine Bedeutung kann sich mit der eines Orson Welles vergleichen, den er offensichtlich beeinflusste, und dessen spektakuläre Machtergreifung in den Hollywood-Studios er vorwegnahm (applause war sein citizen kane). Er ist das Opfer einer chauvinistischen, akademischen, überspezialisierten und snobistischen Haltung der amerikanischen und ausländischen Kritik geworden. Sein Eklektizismus missfällt den Leuten mit einer Katalog-Gesinnung: als Erneuerer (und weniger als Neuerer) hat er Genres verwandelt, die er nicht geschaffen hatte, die aber heute noch seinen Stempel tragen.“ (Positif, Herbst 1964).

In Deutschland ist Mamoulian kaum wahrgenommen worden. Nur sechs seiner 16 Filme kamen überhaupt ins Kino: city streets und love me tonight vor 1933, the mark of zorro und blood and sand nach 1945, queen christina in der Nazizeit und nach dem Krieg, silk stockings bald nach der Premiere 1957. Fünf Mamoulian-Filme (applause, dr. jekyll and mr. hyde, the song of songs, golden boy, rings on her fingers) gab es ausschließlich im Fernsehen, fünf waren hier noch nie zu sehen: we live again, becky sharp, the gay desperado, high, wide and handsome und summer holiday.

Die Filme im Zusammenhang einer Retrospektive zu sehen, heißt auch: einen Stil, eine Handschrift, eine Autorenschaft suchen. Sie stellt sich bei Mamoulian nicht thematisch her, denn seine Geschichten und Protagonisten lassen sich sozial oder psychisch kaum in eine Verbindung bringen. Sie sind durch Genres definiert, die Mamoulian nach eigenem Gusto variiert. Sein Stil aller­dings ist erkennbar: Rhythmus, Bildfluss, Harmonie – Ellipsen, Überraschungen, Einfälle. Flüssigkeit und Rhythmus werden als Stilmerkmale immer wieder gelobt, die Qualität der Einfälle (visuell und inszenatorisch) ist aber offensichtlich bei der Bewertung von Mamoulian der Stein des Anstoßes. Sind sie aufdringlich, imitierend, pseudowitzig?

Wir finden, im Gegenteil, sie sind intelligent, originell und geschmackvoll (zuweilen fast zu geschmackvoll). Die Souveränität des Autors Mamoulian ist sogar in seinen weniger geliebten späten Filmen zu erkennen, im Umgang mit schwächeren Drehbüchern und routinierteren Darstellern. Tyrone Power ist als Rächer Zorro und als Torero Juan eine Mamoulian-Figur, weil ihm in den Brüchen ein Überschuss an Kinomythos belassen wird. Henry Fonda, der nicht gerade als Komiker berühmt geworden ist, wirkt in rings on her fingers ziemlich komisch, seine Partnerin Gene Tierney, ehrlich kein großes Talent, ist sogar fast eine Entdeckung. Und wenn – wie in the gay desperado oder high, wide and handsome – Leerlauf droht, dann schafft eine visuelle oder musikalische Idee das Klima, das einen bei Laune hält. Wir haben keinen Mamoulian-Film gesehen, der uns geärgert hat. Wir haben große Filme gesehen – applause, city street, love me tonight, queen christina – , gute und solide Filme. Das muss man ein Œuvre nennen.

Rouben Mamoulian, 88 Jahre alt, lebt mit seiner Frau Azadia, mehreren Katzen, vielen Büchern und einer Trockenblumensammlung in einer schönen Villa in Beverly Hills. Er wurde in den dreißig vergangenen Jahren, seit er seinen letzten Film gedreht hat, vielfach geehrt. Er gehört zu den elf Gründungsmitgliedern der berühmten Directors Guild of America und ist der letzte Überlebende. Er ist wirklich kein typischer Hollywood-Regisseur. Er hat oft Widerstand geleistet. Dafür ist er auch gelegentlich gefeuert worden. Trotzig raucht er – gegen jeden ärztlichen Rat – noch heute dicke Zigarren und nippt an der Bloody Mary. Er genießt. Er ist ein wunderbarer Storyteller, weil er weiß, wie sich Fakten stilisieren lassen. Er ist ein Armenier aus Georgien, und je länger man ihm zuhört, desto unamerikanischer wirkt er. Aber das sagten wir schon am Anfang: Er hat Phantasie, Stil und Geschmack. Wir grüßen Rouben Mamoulian, einen großen, alten Regisseur.

Antje Goldau/Hans Helmut Prinzler: Rouben Mamoulian. Berlin 1987.