Texte & Reden
29. April 1972

Über das Kinomachen

Vorwort zu einer Dokumentation

In Berlin, in München, in Hamburg, auch in Frankfurt, in Köln und in Bremen gibt es  neuerdings Kinos, in denen man richtige Filme sehen kann. Es sind Kinos, bei denen die, die die Kinos betreiben, die Filme, die sie spielen, nicht verachten. Filme werden hier nicht zufällig gespielt oder weil es die Verleiher wollen oder weil ein paar Leute Eintritt bezahlen, um ihre Zeit totzuschlagen – Filme werden in den neuen Kinos sichtbar gemacht als Produkte gesellschaftlicher Bedingungen, als Produkte der ästhetischen und politischen Kraft von Regisseuren oder Filmemachern, als Produkte schließlich, die die Phantasie und das Bewusstsein ihrer Zuschauer aktivieren.

Das „Arsenal“ in Berlin, das „Abaton“ in Hamburg oder die „Cinemathek“ in Köln suchen sich ihre Filme zunächst einmal aus (und lassen sie sich nicht zuteilen), sie ordnen diese Filme zu Programmen (und zerstören nicht die Zusammenhänge), sie führen die Filme sorgfältig vor (und nudeln sie nicht einfach nur durch), sie informieren über die Filme (und werben nicht mit falschen Stimulantien), sie interessieren sich für die Filme und für die Zuschauer (und nicht zuerst fürs Geld).

Natürlich reklamiert die Handvoll Kunstkinos in der Bundesrepublik, die es heute noch gibt, für sich den Anspruch, genau dies immer getan zu haben. Aber über dem Ehrgeiz und der Ausdauer, mit der zum Beispiel die Gildetheater jahrzehntelang ihr Repertoire gepflegt und Kunst gespielt haben, haben diese Kinos die Entwicklung des Films aus den Augen verloren. Sie haben nicht verfolgt, welche Einflüsse die politische Bewegung der letzten Jahre und seit einiger Zeit auch die so genannte Subkultur auf das Medium ausüben. Und die Kunstkinos, die wohl die bürgerlichsten Kinos sind, kamen auch mit der Entdeckung etwa der Qualitäten des amerikanischen Films nicht zurecht. Politischer Film, Undergroundfilm, Trivialfilm – das kollidierte mit dem Anspruch, Kunstkino zu sein und ein Publikum konservieren zu wollen.

Ein paar Kinobesitzer haben sich wenigstens beraten lassen. Da kamen dann gelegentlich bemerkenswerte Filmreihen ins Programm, ein Regisseur, ein Genre, eine Landesproduktion wurden im Zusammenhang gespielt. Aber systematisch ist das in den 50er und 60er Jahren kaum praktiziert worden, abgesehen von den wenigen aktiven Filmclubs und den Retrospektiven anlässlich der Festivals etwa in Berlin, Oberhausen und Mannheim.

Gegen Ende der sechziger Jahre, vielleicht nicht ganz zufällig parallel zur Studentenbewegung, entwickelten sich neue Kinoinitiativen, die im übrigen von Leuten ausgingen, die vom Film und von unserer Gesellschaft etwas begriffen hatten. Sie machten sich von vielen Branchenzwängen frei und nahmen abgewirtschaftete Kinos in eigene Regie.

„Das neue Kino“ gewann auffallendes Profil ab Anfang 1970. Der Spielbeginn im „Arsenal“ im Januar 1970 ist dabei ein wichtiger Markierungspunkt. Aus Filmclubs, Jugendclubs, Volkshochschulen und privaten Impulsen entstanden in den folgenden Monaten selbständige Spielstellen, wie die Cinemathek Köln, das Filmforum Duisburg, die Kinokneipe Meisengeige, das Zelluloid, das Abaton. Ein Markierungspunkt zum Jahresende: die Antrittsrede des neuen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann mit seinem Plädoyer für ein audiovisuelles Kommunikationszentrum mit einem Kommunalen Kino.

1971 liefen die Diskussionsmühlen zum Thema Subventionskino, aber es gab auch wieder wichtige Markierungen: die Entscheidung des Kuratoriums Junger Deutscher Film, die Vertriebsförderung zu begünstigen, die Veranstaltung des „Internationalen Forums des jungen Films“ als Treffpunkt der Kinomacher und schließlich die Eröffnung des Kommunalen Kinos Frankfurt mit der damit verbundenen Rechtskontroverse. 1971 begannen auch neue Aktivitäten: zum Beispiel in Mannheim, Wuppertal, München, Stuttgart, Solingen.

Inzwischen gibt es Interessenvertretungen, die sich mit unterschiedlicher Intensität um die neuen Kinos kümmern: zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft Kino (Hamburg), die Arbeitsgruppe Gemeindekino (Frankfurt/Lichtenberg), das Koordinationsbüro Film (München). Auch beim „Arsenal“ ist durch die Verleihtätigkeit der Freunde der Deutschen Kinemathek ein Knotenpunkt der neuen Kinoinitiativen entstanden. Die Interessenvertretungen sind allerdings bisher nicht stark genug (und auch in den finanziellen und personellen Möglichkeiten zu eingeschränkt), um die verschiedenartigen privaten und kommunalen Initiativen zu verknüpfen. Der Austausch von Filmen und Informationen ist oft noch zufällig, die Verhandlungen mit Kommunen und kommerziellen Verleihern werden in der Regel noch individuell geführt.

Für die neuen Kinos gibt es heute finanziell und organisatorisch mehrere Möglichkeiten, die ähnlich auch Hilmar Hoffmann beschreibt:

1.  Eine Stadt betreibt ein kommunales Kino und subventioniert es voll (Beispiel: Frankfurt).  2.  Eine Stadt geht eine Kooperation mit einem kommerziell betriebenen Kino ein und leistet Ausfallbürgschaften (Beispiel: Celle).  3.  Eine Stadt überträgt die kontinuierlichen Filmvorführungen einer vorhandenen städtischen Einrichtung (Jugendclub, Volkshochschule – Beispiele: Essen, Leverkusen).  4.  Eine private Initiative wird regelmäßig teilsubventioniert (Beispiel: Arsenal).  5.  Eine private Initiative versucht, allein oder fast allein über die Runden zu kommen (Beispiele: Abaton, diverse Filmclubs, diverse Genrekinos).

Die Vor- und Nachteile dieser Möglichkeiten sind in der letzten Zeit genügend erörtert worden. Entscheidend sind immer wieder das filmpolitische Klima der Kommune (Kulturamt, Stadtrat) und das Stehvermögen der Kinomacher. Es ist klar, dass ein „Arsenal“-Programm auf Dauer ohne Subventionen nicht zu machen ist, aber es ist sehr unklar, wie sich die Kommunen langfristig in der Kinoförderung verhalten werden. In den Kulturämtern heißt es heute: „Wir beobachten die Entwicklung aufmerksam.“ Da sich Kino aber nicht von Amts wegen entwickelt (und auch gar nicht soll), werden es immer wieder sogenannte Bürgerinitiativen sein, die den Stadtvätern das Geld entlocken müssen (wie in Düsseldorf, Stuttgart, Wiesbaden). Den Kommunen wäre es offenbar am liebsten, wenn sie die neue Kinomacherei zum Beispiel den Volkshochschulen überantworten könnten. Doch damit ist die Gefahr verbunden, dass das Kino zu einem Appendix der Fortbildungskurse wird und sogleich wieder verkümmert.

In den verschiedenen Städten wird es sehr verschiedene Lösungen geben müssen, weil es auch nicht nur eine Frage der Finanzen und der Initiatoren ist, wie das neue Kino aussieht, sondern auch eine Frage der Publikumsbereitschaft, des Filmklimas in einer Stadt. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, die Aktivitäten in den verschiedensten Städten zu beobachten, denn es ist etwas grundsätzlich anderes, in Berlin, München und Köln Kino zu machen, als in Lindau, Gernsbach und Schleswig.

Einen Beitrag zur Information über Erfahrungen und Pläne der Kinomacher, eine Art Zwischenbericht der Möglichkeiten, möchte diese Dokumentation liefern. „Über das Kinomachen“ – das ist kein Spruch zur Ermutigung der alten Filmbranche, auch keine Gebrauchsanweisung für die Ufa-Theater, es ist vielleicht eine Hommage für die Leute, die sich für das neue, progressive Kino engagieren.

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Die Idee zu dieser Dokumentation datiert vom Juni 1971. Damals veranstaltete die Grenzakademie Sankelmark (Schleswig-Holstein) eine Tagung zum Thema „Subventioniertes Kino? Wege zu Wahrnehmung der Interessen des Publikums“. Es kam bei dieser Gelegenheit zu einer ziemlich präzisen Standortbestimmung von Vertretern der kommerziellen Filmwirtschaft, verschiedener „neuer Kinos“ (Abaton, Arsenal, Cinema Ostertor, Filmforum Duisburg), Filmmachern und Film­verteilern (Filmverlag der Autoren, Hamburger Filmcoop), Filmpolitikern und Filmjournalisten. Als man sich am Ende um ein Resümee bemühte, wurde die Veröffentlichung verschiedener Referate und Diskussionsbeiträge gewünscht. Die Sankelmarker Akademie war dazu nicht in der Lage – die Berliner Film- und Fernsehakademie eigentlich auch nicht, aber sie sagte zu, die Vervielfältigung der Texte zu übernehmen.

In den folgenden Wochen versuchten wir, die Beiträge aus Sankelmark in Berlin zu sammeln. Das war schwer, weil gerade Urlaubszeit war, und weil manche Kinomacher es gerade so schaffen, Kino zu machen, aber nicht, das auch noch ausführlich zu beschreiben, und weil einige Referenten Sankelmark schnell vergaßen.

Im September lagen immerhin einige Manuskripte vor. Die Sache, um die es ging, das neue Kino, entwickelte sich inzwischen weiter, und wir merkten, dass mit der Vervielfältigung der Sankelmarker Referate eigentlich niemandem mehr gedient war. Wichtiger fanden wir es nun, Erfahrungsberichte der neuen Spielstellen zu sammeln und zugänglich zu machen. Das wollten wir erst zur Mannheimer Filmwoche schaffen, aber da haben wir die notwendigen Vorarbeiten und den redaktionellen Aufwand unterschätzt.

Im Januar 1972 wurde die Konzeption für diese Dokumentation dann so präzisiert, wie sie sich jetzt im Ergebnis darstellt. Im Zentrum stehen Kinoinitiativen. Darunter verstehen wir Erfahrungen und Pläne unterschiedlicher Spielstellen in der Bundesrepublik und Westberlin, die sich um ein außergewöhnliches Filmprogramm bemühen. Ein Kino mit Konzeption kann – je nach Stadt und kultureller Landschaft – ein Programmkino, ein Genretheater, eine Kinokneipe, ein politischer Filmclub, ein Studentenkino, eine aktive Volkshochschule, ein kommunales Kino oder auch mal ein Filmkunsttheater sein. Quer durch die Bundesrepublik haben wir Beispiele für solche Initiativen gesucht – nichtkommerzielle und kommerzielle (weil das nicht immer den Unterschied ausmacht).

Wir haben die Kinomacher (oder Sympathisanten von ihnen) um Selbstdarstellungen gebeten. Wir stellten ein paar Fragen: wie ist die örtliche Kinosituation; wie ist die Spielszelle zustande gekommen; wie ist sie organisiert; wie ist sie finanziell und technisch ausgestattet; wer macht das Programm; und was ist das für ein Programm; woher kommen die Filme; wie sind die Beziehungen zu den kommerziellen Verleihern; wie wird geworben; was ür ein Publikum kommt; wohin will sich die Spielstelle möglicherweise entwickeln?

Nicht in jedem Text finden sich auf all diese Fragen präzise Antworten. Die Autoren haben ihre eigenen Akzente gesetzt, und das durchaus in unserem Sinne, denn die Fragen sollten nur Anregungen oder Leitlinien sein, niemand war zu allen Auskünften verpflichtet.

Die Auswahl der Kino, Filmclubs, Volkshochschulen und sonstigen Spielstellen, die in dieser Dokumentation vertreten sind, sagt nicht in jedem Fall etwas über die Effektivität und Bedeutung der Spielstelle aus. Natürlich sind di wichtigsten neuen Kinos berücksichtigt worden: das Arsenal, das Cinema Ostertor, das Kommunale Kino in Frankfurt, das Filmforum Duisburg, die Cinemathek Köln, das Zelluloid, das Abaton, das XScreen. Dann waren uns die Initiativen wichtig, die sich gerade eben entwickeln: in Düsseldorf, Heidelberg, Mannheim, Stuttgart, Wiesbaden. Bei den neuen kommerziellen Kinos waren für uns Startbedingungen und Programmvorstellungen ausschlaggebend: das betrifft das Filmkunst 66, den Notausgang, die Galerie Cinema, das Cinemonde. Bei den Genrekinos sind es Beispiele, die auch das Filmklima einer Stadt widerspiegeln sollen: das Münchner Leopold, das Kölner Bambi, das Würzburger City. Beispiele (fast austauschbar) stehen für die Tradition der „Gildekinos“: die Bielefelder Kamera, das Bonner Woki, die Falter-Kinos in München. Hier werden nebenbei historische Linien deutlich gemacht und manche Grenzen (zum Beispiel in den Bielefelder Möglichkeiten) sichtbar.

Uns interessierten Präsentationsformen (zum Beispiel die Kinokneipen) und Subventionsformen (zum Beipiel das zwiespältige „Celler Modell“, die Aktion in Gernsbach), die Koordination in einer Großstadt (Wuppertal) und die Einzelaktion in einer Kleinstadt (Münchberg). Bei den Filmclubs und den Volkshochschulen wollten wir möglichst viele verschiedene Städte ins Spiel bringen, norddeutsche und süddeutsche, größere und kleinere. Hier hätte die Liste ohne weiteres länger werden können, zum Beispiel mit Beiträgen der VHS Dortmund, der VHS Münster, der VHS Bochum, der VHS Gelsenkirchen, des Filmclubs Bonn, des Filmclubs Witten, des Filmclubs Aachen, der Kinemathek Solingen. Da waren wir oft abhängig von der Erreichbarkeit der Leute oder ihrer Bereitschaft, etwas zu schreiben.

Alle Autoren haben ohne Honorar geschrieben, die meisten zwar in eigener Sache, einige aber auch, weil sie eben an der Sache interessiert sind (zum Beispiel Klaus Eder und Günther Pflaum). Allen Autoren danken wir für ihre Mühe. Darüber hinaus gilt unser spezieller Dank für wertvolle Anregungen und Hinweise Klaus Eder, Joachim Kruse, der auch die Sankelmarker Tagung initiiert hat, Heiner Roß (einer der guten Geister der „Freunde der Deutschen Kinemathek“), Horst Schäfer und Walter Schobert.

Als zusätzliche Information zu den texten drucken wir im Faksimile die für uns erreichbaren Monatsprogramme (in der Regel Februar/März 1972) ab. Die Programme des Arsenals, des Filmforum Duisburg, der Cinemathek Köln, des Filmforum Düsseldorf, des Zelluloid und des Abaton mussten dafür von DIN-A-3 auf DIN-A-4 verkleinert werden, auf die Rückseiten (mit Informationen zu den Filmen) mussten wir in der Regel verzichten. Auch einige andere Programme haben nicht mehr das Originalformat oder konnten nur auszugsweise (wie zum Beispiel bei den kleinen Broschüren der studentischen Filmclubs) verwendet werden.

Dem Hauptteil mit den Selbstdarstellungen der Spielstellen sind zwei Komplexe nachgeordnet, die uns zur Orientierung wichtig erscheinen. Zum einen haben wir einige Institutionen, die sich als Interessenvertretungen eines neuen Kinos begreifen, um Informationen über ihre Arbeit gebeten. Das reicht von der Arbeitsgemeinschaft Kino in Hamburg bis zum Koordinationsbüro Film in München. Zum anderen sollen die Beiträge von Hilmar Hoffmann, Heinz Rathsack und Peter Konlechner filmpolitische und praktische Anregungen für die Arbeit des neuen Kinos liefern. Hier – bei den Koordinierungen und bei den Perspektiven – muss nun bald Ernst gemacht werden. Von diesem Ernst handelt auch Peter W. Jansens Aufsatz „Verschiedene Sachen namens Kino“, der die Filmsituation der Gegenwart in der BRD charakterisiert und die nachfolgenden Beiträge in einen Zusammenhang stellt.

Unsere Dokumentation kann und will nichts Vollständiges liefern, sie gibt einen Querschnitt durch Bestehendes und sich veränderndes. Im besten Falle ist dieser Querschnitt repräsentativ für Kinotypen, die sich neben den großen Konzernen und den abgewirtschafteten Mittel- und Kleinbetrieben entwickelt haben.

Wichtig erscheinen uns immer wieder Informationen. Natürlich erhoffen wir uns auch Wirkungen. Zum Beispiel für die, die neues Kino machen. Sie brauchen Zuspruch und Zuwendung. Wirkung erhoffen wir uns auch bei denen, die neues Kino machen wollen. Sie brauchen – neben der Zuwendung – Mut und etwas Einsicht in die Erfahrungen anderer. Wirkung erhoffen wir uns schließlich für die, die auf neue Kinos warten, weil sie endlich richtige Filme sehen wollen. Zum Beispiel in Hannover und Augsburg und Karlsruhe und Osnabrück und Braunschweig und…

Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin: Über das Kinomachen. Eine Dokumentation kommunaler und privater Initiativen. Herausgegeben von Hans Helmut Prinzler und Helene Schwarz. Berlin 1972. 310 S.