Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juni 2022

Katharina Sykora (Hg.)
ZwischenWelten
Ulrike Ottingers Filme im Spiegel der transatlantischen Kritik
Konstanz University Press 2022
734 S., 38,00 €
ISBN 978-3-8353-9144-4

Katharina Sykora (Hg.):
ZwischenWelten.
Ulrike Ottingers Filme im Spiegel der transatlantischen Kritik

Ulrike Ottinger ist als Malerin, Filmemacherin und Fotografin eine herausragende Künstlerin in Deutschland. In diesem Monat wird ihr 80. Geburtstag gefeiert. Ein schöner Anlass für Katharina Sykora, ein Buch herauszugeben, das 22 Texte aus Deutschland und den USA zu Ulrikes Filmen dokumentiert.

Die transatlantische Rezeption der Filme von Ulrike Ottinger geschah oft zeitversetzt. Die Reaktionen waren durchaus unterschiedlich. In ihrem sehr informativen Vorwort beschreibt die Herausgeberin den Verlauf von inzwischen fast fünfzig Jahren, beginnend mit den ersten Filmen in den frühen 1970er Jahren, endend mit PARIS CALLIGRAMMES (2020).

Ginka Steinwachs eröffnet die Beitragsfolge mit ihrem „Versuch zur Archäologie der Subjektivität von Ulrike Ottinger & Tabea Blumen-schein“ in dem Film MADAME X – EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN (1978), erstmals publiziert in der Zeitschrift Die schwarze Botin (Berlin, Januar 1978). Es geht um Schönheit und Piraterie, Initiation und Feminismus, Dialektik und Technik, Orlando gegen X, Apotheose und Abschied. Ein schöner Beginn.

Karsten Witte hat die Qualität der Filme von Ulrike Ottinger früh erkannt. Sein Text „Der Dandy als Dame“ erschien in der Frankfurter Rundschau im November 1979 und vergleicht MADAME X mit dem „Öffnen einer Zauberschachtel“. – Frieda Grafe verortet in ihrer Kritik für die Süddeutsche Zeitung (November 1981) FREAK ORLANDO als „Mythen auf dem Mist des Alltags“. – Miriam Hansen schreibt in New German Critique (1984) über BILDNIS EINER TRINKERIN: „Schaulust, Fetischismus und das Problem weiblicher/feministischer Artikulation“. – Roswitha Mueller richtet ihren Blick auf DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRES, publiziert ebenfalls in New German Critique (1985). – Patricia White widmet ihre umfangreiche Studie in Screen (1987) noch einmal MADAME X.

Janet Bergstroem befasst sich in ihrem Text mit dem Dokumentarfilm CHINA: DIE KÜNSTE – DER ALLTAG, erstmals veröffentlicht in Camera Obscura. A Journal of Feminism and Film Theory (1988). – Andrea Weiss verbindet die beiden Filme MADAME X und JOHANNA D’ARC OF MONGALIA und erkennt ein wachsendes künstlerisches Potential („Vampires & Violets“, 1992). – Mary Russo sieht in FREAK ORLANDO eine „Genealogie grotesker Weiblichkeit“ („The Female Grotesque“, 1994). – Eva Meyer reflektiert über „Ottingers Artefakt“ und eröffnet damit das Ulrike gewidmete Heft Nr. 86 der Programm-zeitschrift Kinemathek (Oktober 1995). – Kaja Silverman beschreibt in ihrem 24-Seiten-Text „Das Ideal-Ich und die Fantasie vom fragmentierten Körper“ in BILDNIS EINER TRINKERIN. („The Treshold in the Visible World“, 1995).

Hans-Jürgen Heinrichs richtet seinen Blick auf den Film TAIGA aus ethnografischer Perspektive: „Die epische Bilderfahrung oder Erkenntnis ohne Kommentar“ (in: „Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft“, 1996). – Kirsten Harjes und Tanja Nusser erkennen den Tourismus in dem Film EXIL SHANGHAI als „authentische Geschichtserfahrung“. („Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture, 2000). – Alice A. Kuzniar entziffert Allegorie, Adrogynie und Anamorphose in DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARD-PRESSE. („The Queer German Cinema“, 2000). – Von Nora M. Alter stammt der Beitrag „Ottingers Benjamin‘scher COUNT DOWN zur wirtschaftlichen Wiedervereinigung“ („Projecting History. German Nonfiction Cinema, 2002). – Annette Deeken entdeckt Geo-Logik und Poetik der Echtzeit in CHINA: DIE KÜNSTE – DER ALLTAG. („Reisefilme – Ästhetik und Geschichte“, 2004). – Gertrud Koch beschreibt den Blick der Groteske in ZWÖLF STÜHLE und vergleicht ihn mit früheren Filmen. („Ulrike Ottinger. Bildarchive“, 2005).

Michael Oppitz sieht die Qualitäten von Ulrike Ottinger sowohl im Dokumentarfilm wie im Spielfilm und begründet dies mit Verweisen auf Arbeitsmaterialien, die in Ausstellungen zu sehen waren. („Ulrike Ottinger. Bildarchive“. 2005). – Laurence A. Rickels äußert sich in einem schönen Überblick zu zwölf Filmen von Ulrike Ottinger. („Ulrike Ottinger. Bildarchive“, 2005). – Maggie Hennefeld befasst sich mit Geopolitik und Erzählparodie in JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA. (Media Fields Journal, 2011). – Bei Tanja Zimmermann geht es um Räume der Übergänge in SÜDOSTPASSAGE. („Unterwegs-Sein“, 2015). – Aleida Assmann beendet die Beitragsreihe mit ihrem Text über PARIS CALLIGRAMMES: „Mit offenen Augen in der Wunderkammer Paris“, erstmals publiziert im Ausstellungskatalog vom Haus der Kulturen der Welt 2019.

Kurze Kommentare zu allen Filmen von Ulrike Ottinger, eine Biblio-grafie und eine Chronik bilden den Anhang. Zwischen den Texten gibt es zahlreiche Abbildungen in sehr guter Qualität.

Bei der Auswahl der Texte konnte die Herausgeberin aus dem Vollen schöpfen. Natürlich dominiert die feministische Perspektive. Aber in allen 22 Beiträgen werden die speziellen fotografischen Mittel von Ulrike Ottinger präzise beschrieben, kommen die Aspekte des fiktionalen und des dokumentarischen Films zur Sprache, sind die Neugier und die Weltläufigkeit der Künstlerin präsent. Das transatlantische Zusammenspiel zwischen Deutschland und den USA funktioniert hervorragend und führt zu einem großen Erkenntnisgewinn. Über dieses Geburtstagsgeschenk kann sich Ulrike wirklich freuen.

Coverfoto: Moby Dick, Kontext BILDNIS EINER TRINKERIN (1979).

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